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Ich sprang so rasch in meinen Wagen, daß mir mein kurzatmiger Begleiter, der kleine dicke Assessor Fabri, kaum folgen konnte, und fuhr hinaus in die entscheidende Stunde, die die Wendung in dem Fall Sandner bringen sollte.
Als wir vor der Villa Sandner hielten, stand da im Vorgarten in der Nachtkühle und Dunkelheit einsam eine Gestalt und trat wie erlöst auf uns zu. Ich erkannte den Rechtsanwalt Morell.
»Was machen Sie denn hier draußen in Nacht und Nebel?« fragte ich. »Drinnen im Haus muß es doch nach Ihren Meldungen weit interessanter sein!«
»Wie man es nimmt ... « sagte Morell halblaut. Er hatte den Hut abgenommen und den Mantel aufgeknöpft, als sei es ihm zu heiß, und ließ sich den Nachtwind durch sein krauses, schwarzes Haar wehen.
»... oder ist es da drinnen nicht geheuer? Ich hatte vorhin schon, als ich Ihre Stimme hörte, fast den Eindruck!« Ich sagte es scherzhaften Tons, nur um ein wenig den drückenden Ernst der Situation zu bannen. Ich erhielt keine Antwort. Ich ließ den Assessor Fabri im Wagen – es war besser, wenn unter diesen neuen Umständen jemand den Eingang der Villa und ihre Umgebung beobachtete, während wir drinnen waren. Wir beide traten in das Haus. Morell ließ mir den Vortritt. Er hielt sich geflissentlich hinter mir, so als sollte ich ihn mit meinem breiten und wuchtigen Korpus decken. In der Diele blieb ich stehen und schaute mich prüfend um. Mein Blick fiel auf Morell. Ich versetzte betroffen:
»Mein Gott – wie sehen Sie denn aus?«
»Wieso?« Morell trat, wie unabsichtlich, etwas seitwärts, so daß er im Schatten einer Portiere stand.
»Sie sehen ja ganz verfallen aus – im Gesicht ... «
»Das ist Ihr Auge, Herr Staatsanwalt, das überall Verbrecher sieht!«
»Von Verbrechern habe ich doch natürlich nichts gesagt! Aber Sie müßten wirklich einmal etwas für Ihre Gesundheit tun! Man darf sich doch all den Spuk – den toten Sandner – die stumme Frau – den grauen Herrn – nicht so nahe an die Nerven heranrücken lassen! Man muß doch als Unbeteiligter darüber stehen!«
Ich hatte Herrn Morells Gemütszustand noch unterschätzt. Denn nun schrie er mich plötzlich ganz fassungslos an.
»Ja – Sie mit Ihrer olympischen Ruhe! Wie weit sind Sie denn mit der Pomadigkeit wohl gekommen? Sie haben die Justitia mit verbundenen Augen auf den Holzweg geführt ... «
»Herr Doktor: Ihre bilderreiche Sprache vor den Geschworenen in Ehren! Bei so einem alten Praktikus wie mir verfängt sie nicht ... «
»Wegen Ihnen wäre jetzt ein furchtbarer Justizmord erfolgt!« Die Erregung des Rechtsanwalts Morell steigerte sich zu atemlos hervorgesprudelten Sätzen.
»Wenn ich nicht gekommen wäre – ich – dies Nervenbündel, als das Sie mich zu betrachten belieben ... «
»Ja. Den Eindruck machen Sie allerdings – in einer Sache, an der Sie doch nur als Freund des Toten ... «
»Ja. Das war mein Freund!«
»Niemand zweifelt daran! – und als Verteidiger seiner Witwe beteiligt sind!«
»... und als Verteidiger meine verfluchte Pflicht und Schuldigkeit tue!« keuchte Paul Morell. Er riß mich am Arm in ein Nebenzimmer. »Da steht die Tapetentür offen, die Ihr nicht entdeckt hattet! Da liegen die Attribute des grauen Herrn!« rief er mir triumphierend ins Gesicht. Seine schwarzen Augen irrlichterten. »Ich verstehe jetzt, wie Frau Sandner es meinte, daß ich die Sachen beiseite bringen sollte! Ich brauche nur den Mantel, der mir zu weit ist, über meinen Sachen anzuziehen, den Hut und den Bart unterzuknöpfen und durch die Nacht unbeobachtet nach Hause zu gehen und dort alles wieder in einem Schrank zu bergen, ohne daß ein Mensch davon weiß. Aber ich habe es nicht getan. Hier liegen diese Beweisstücke zur Verfügung des Gerichts!«
»Donnerwetter, ja!« sprach ich unwillkürlich. »Und der graue Herr selber? Oder was sich als grauer Herr verkleidete?«
»Was weiß ich? ›Es gibt noch mehr solche Geheimschränke im Haus! sagt Frau Sandner. ›Sucht die! Vielleicht liegt er da irgendwo!‹«
»Merkwürdig!«
»Frau Sandner weiß natürlich genau, wer er ist – wo er ist!« fuhr der Rechtsanwalt Morell mit bebender Stimme fort »Sie wird ihn nie nennen! Davon bin ich überzeugt! Sonst hätte sie es schon längst getan!
Aber ich habe meine Pflicht getan!« Er faßte mich in seiner Aufregung vorn am Rock. Ich fühlte, wie seine zitternden Finger sich um die Knöpfe nestelten. »Sie können von jetzt ab Frau Sandner trotz ihres Geständnisses nicht mehr nachweisen, daß sie die Tat begangen haben muß! Denn ich habe hier nachgewiesen, daß ein anderer die Tat begangen haben kann! Das genügt zu Frau Sandners Freispruch und Rettung. Zu ihrer nachträglichen Freisprechung. Darauf allein kam es mir an!«
»Abwarten! Abwarten, Herr Doktor! Ihr Eifer eilt den Ereignissen voraus!«
Der Rechtsanwalt Morell knöpfte sich den Mantel zu, drückte sich den Hut in die Stirne und wandte sich gegen den Ausgang. Er sagte, geflissentlich flüchtigen Tons, aber seine Stimme zitterte merklich:
»Ich bitte, jedenfalls schon morgen als Zeuge eidlich vernommen zu werden!«
»Gewiß! Aber wo wollen Sie denn jetzt auf einmal hin?«
»Ich stehe morgen zu jeder Zeit zur Verfügung!«
»Ich brauche Sie jetzt schon hier als Zeugen, Herr Doktor!«
»... morgen ... habe ich gesagt! Jetzt gehe ich fort!«
Es drängte ihn nach der Diele. Er schien es nicht erwarten zu können, dies Haus hinter sich zu wissen. Ich faßte ihn am Ärmel. Er riß sich los. Er machte eine abwehrende Handbewegung gegen mich nach rückwärts. Er rief:
»Was ist denn nur in Sie gefahren? Sie machen ja einen ganz merkwürdigen Eindruck?«
»Ich bin total erschöpft! Das sehen Sie ja! Ich sehne mich nach Haus!«
»Das kann jeder sagen! Ich läge jetzt auch lieber in der Klappe! Sie dürfen mir hier nicht einfach weglaufen ... Doktor!«
»Doch ... ich muß ... «
»Setzen Sie sich einmal in einen von den schönen Klubsesseln in der Diele! So! Und beruhigen Sie Ihre Nerven!«