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11.
Aufzeichnung des Staatsanwalts Dr. Johannes Sigrist

Ich weilte noch beim Staatspräsidenten. Er hatte mich gebeten, die Rückkehr des Dr. Morell abzuwarten. Da. stürzte dieser herein. Er war ganz aufgelöst. Ganz verstört.

»Ich komme eben von ihr!« keuchte er. »Herr Staatspräsident – stellen Sie sich vor: Sie lehnt es strikte ab, sich begnadigen zu lassen! Ach – es hat mich nicht gewundert! Und ich habe es gleich gefürchtet. Ich kenne sie. Das heißt: Wer kennt sie? Da mögen die Sachverständigen sagen, was sie wollen: Diese Frau ist unzurechnungsfähig. Sie gehört in eine Anstalt und nicht ... «

Dr. Morell brach ab. Er hatte buchstäblich den Atem verloren. Er zitterte beim Sprechen nervös mit den Händen statt der suggestiven Handbewegungen, die sonst vor Gericht seine berühmte Beredsamkeit unterstützten. Er hatte den Hut so achtlos vom Kopf gerissen, daß ihm seine schwarzen Kraushaare in wirren Büscheln in die Stirne hingen. Der kleine dunkle Schnurrbart war ungepflegt. Sein sonst so siegesgewiß belebtes und bewegtes Gesicht erschien fahl und verfallen. Ich kannte ihn doch seit Jahren aus so manchem Strauß im Gerichtssaal, aber in einer solchen Verfassung hatte ich ihn noch nicht gesehen.

»Es ist ganz gleichgültig, Herr Präsident«, fuhr er mit erstickter Stimme fort, »ob der Verurteilte sich gegen seine Begnadigung wehrt oder nicht! Man darf ihm, von einer höheren Warte aus, nicht seinen Willen tun, sondern muß ihm den eigenen höheren Willen aufzwingen! Ihren Willen, Herr Präsident, der Ihrer überlegenen Einsicht und Verantwortung entspringt!

Ein Beispiel! ... Ein Beispiel!« drängte er weiter. »Ein Selbstmörder springt ins Wasser! Er will ganz offenbar sterben! Wird nicht trotzdem jeder kräftige, des Schwimmens kundige Mann, der vorbeikommt, es als seine sittliche Pflicht betrachten, dem Unglücklichen nachzuspringen und ihn herauszuziehen? Nach Jahren wird der Gerettete vielleicht seinem Retter dankbar sein! So muß auch Margot Sandner wider ihren Willen von Ihnen gerettet werden! Zu ihrem eigenen Besten! Sie muß! Sie muß!«

Ich hörte das. Ich sah den fassungslosen Mann. Bisher war mir dieser Fieberzustand des Dr. Paul Morell ein Rätsel gewesen. Jetzt fielen mir plötzlich die Schuppen von den Augen, so daß ich nachträglich gar nicht begriff, daß ich nicht längst darauf gekommen war. Die Sache war doch so naheliegend: Morell war einfach in seine Klientin Margot Sandner verliebt! Kein Wunder schließlich, bei seiner eigenen temperamentlosen, bläßlichen, schweigsamen – also sagen wir kurz und ehrlich – auf die Dauer langweiligen Frau, der guten Lisbeth. Die Sandner war ja auch nicht eigentlich hübsch, aber seltsam innerlich beseelt und geheimnisvoll mit ihren großen dunklen Augen. Jeder Mensch findet schließlich sein Publikum. Der selige Sandner hatte sie sich ja auch vor vielen Schöneren und Reicheren erwählt. Warum sollte es nicht Morell ebenso gegangen sein, vielleicht jetzt erst, nach dem Tode seines Freundes, als er ihr in ihrer Not als Rechtsberater zur Seite stand und sie immer wieder unter vier Augen im Kampf um Leben und Tod sah. Oder vielleicht hatten diese Gefühle schon lange bestanden, und er hatte sie nur bei Lebzeiten Sandners als Freund unterdrückt. Jedenfalls – da war der plausible Grund zu Paul Morells sonst unerklärlicher Angst und Unruhe.

»Herr Präsident«, stieß er leidenschaftlich hervor, »Frau Sandner hat das Gnadengesuch, das ich als ihr Verteidiger aufgesetzt hatte, zerrissen. Ich werde es jetzt hier in fliegender Eile noch einmal entwerfen. Ich werde es Ihnen unterbreiten. Ich flehe zu Gott, daß Sie ihm stattgeben werden, ohne sich um das zu kümmern, was meine Klientin will oder nicht will!«

Das Wort »Gott« wirkte immer – so wie es Morell mit seinen Advokatenkünsten berechnet hatte – auf den frommen alten Herrn. Auf dessen gefurchtem Antlitz erschien unter dem schütteren grauen Vollbart ein noch tieferer Ernst der Verantwortung. Dr. Philipp Nöldechen hüstelte nur und senkte nachdenklich den Kopf. Er legte, in seiner Lieblingshaltung, die Hände auf dem Rücken zusammen und ging, klein und gebeugt, ein paar Schritte durch den Saal. Dann blieb er stehen und sah mich durch die goldene Brillenfassung aus seinen großen, menschenkundigen Augen an. Es war eine stumme Frage. Ich sagte:

»Mir ist die Heiligkeit eines Menschenlebens bewußt. Aber Frau Sandner hat seinerzeit freiwillig sofort ihre Schuld eingestanden und jetzt durch ihre Weigerung, weiter zu leben, ihre Schuld und ihre Absicht, diese Schuld zu sühnen, geradezu heroisch bekräftigt ... «

»Diese Logik weise ich zurück!« schrie der Verteidiger Morell in einem verzweifelten Ton. Ich zuckte die Achseln.

»Proteste beweisen vor dem Forum der Gerechtigkeit nichts, verehrter Herr Doktor, weder bei Ihnen noch bei mir! Es kommt auf Tatsachen an! Und in dieser Hinsicht – das möchte ich Ihnen pflichtgemäß verraten – eröffnet sich Ihnen seht plötzlich und ganz unerwartet die Möglichkeit eines Silberstreifens am Horizont! Ich bekenne ausdrücklich: Vorläufig nur die Möglichkeit. Ich habe da nämlich nochmals mit hoher Genehmigung des Herrn Staatspräsidenten nach einer Zeugin geschickt ... «

Und gerade in diesem Augenblick wurde mir gemeldet:

»Fräulein Luise Heidebluth ist zur Stelle!«

»Lassen Sie die Dame eintreten!« sagte ich. »Und ebenso ihr Mädchen für alles! Die Ernestine Kürbitz, die da nebenan wartet!«

Da stand die Kürbitz schon. Etwa zwanzig Jahre. Ein dralles Kind vom Lande mit Apfelbacken und starren blauen Puppenaugen und weißen Zähnen. Semmelblond, mit Häubchen und Schürze eines Hausmädchens, wie sie aus der Heidebluthschen Wohnung gelaufen war. Bitterlich tränenschnupfend beim Anblick ihrer Dienstherrin.

Fräulein Luise Heidebluth fegte förmlich herein, daß der Rock um ihre schmale, lange Modefigur flog, und doch mit den eleganten Bewegungen, der sicheren Haltung einer Schneiderkünstlerin. Zwar machte sie vor dem Herrn Staatspräsidenten eine tiefe Reverenz, wie bei Hofe. Aber als sie aus der Kniebeuge wieder hochkam, war sie ganz strafende große Dame, erhitzt und erregt, mit feindselig zusammengezogenen Brauen in dem bildhübschen Gesicht. Sie sprudelte wie eine gereizte Katze los. Sie wandte sich gegen mich, ihren persönlichen Feind.

»Was wollen Sie denn eigentlich schon wieder von mir, Herr Staatsanwalt? Ich verbitte mir das, daß man mich jetzt wieder nachts mit der Polizei abholt und durch die Straßen schleppen läßt. Ich bin eine anständige Person. Die Leute weisen ja mit Fingern auf mich. Ich mache euch alle dafür verantwortlich, wenn mein Geschäft ruiniert wird! Dafür zahle ich nicht die sündhaften Steuern! Ich ... «

»Nur Ruhe! Man schreit nicht so in Gegenwart des Herrn Staatspräsidenten!« sagte ich. Und sie erbittert und schnippisch:

»Ja – lassen Sie mich doch in Ruhe! Mehr will ich ja gar nicht. Ich habe die Geschichte mit der Sandnerschen Villa dick bis dahin. Ich war nie in der verwünschten Villa. Ich weiß gar nicht, wo sie liegt. Ich war auch in jener Nacht nicht darin. Ich war die ganze Nacht in meiner Wohnung!«

»Eben – das haben Sie ja beschworen!« unterbrach ich sie. »Bitte – setzen Sie sich und hören Sie, was Ihr Mädchen uns zu erzählen hat!«

»Ja – was will denn die hier ...?« Es klang langsam – mit einem plötzlichen Mißtrauen, einem leisen, aber deutlichen Schrecken. Die Heidebluch hatte uns zu Ehren noch rasch, ehe sie daheim wegging, etwas rouge aufgelegt. Aber darunter kam jetzt, wie sie sich mit unruhig auf ihr Mädchen gerichteten Augen setzte, die Verfärbung ihrer schmalen Wangen und ihres ganzen hübschen Gesichts zum Vorschein. Ich gab der Kürbitz, der jetzt in der Aufregung schon dicke Tränen über die Backen kollerten, einen Wink, ihr Wissen auszukramen.


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