Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Es ging schon auf vier Uhr morgens. Ich fuhr mit Frau Morell und dem Assessor Fabri in die Stadt zurück. Frau Morell saß die ganze Zeit neben mir, ohne sich zu regen, ohne ein Wort. Sie war wie versteinert. Ich wollte in Gegenwart eines Dritten auch nicht weiter mit ihr sprechen. Ich ließ vor dem Gerichtsgefängnis halten. Ich ließ Frau Morell unter der Obhut des Assessors Fabri vorläufig unten im Wagen und stieg die grell erleuchteten Treppen des totenstillen Hauses empor und trat in Margot Sandners Zelle. Sie hatte sich nicht zur Ruhe gelegt. Sie saß in ihrer Gefängniskleidung am Tisch neben der grünen Lampe. Wir waren allein. Ich setzte mich ihr gegenüber. Ich begann ohne Umschweife:
»Wir wollen die Ereignisse jener Nacht rekapitulieren. Sie traten, als es elf Uhr schlug, von vorn, von der Straße aus, in das Haus. Bei dem Geräusch des eingerosteten Haustors ist das Licht, das Ihre Freundin Lisbeth gleichzeitig in dem Rauchzimmer auf der Rückseite der Villa sah, erloschen. Sie wußten also nicht, daß sich jemand schon vor Ihnen in dem Hause befand und es verdunkelte, als er jemanden kommen hörte. Auch Sie machten nicht hell, um keinen Verdacht zu erwecken. Sie kannten sich in Ihrem Hause aus. Sie setzten sich im Dunkeln hin und warteten auf Ihren Mann und Luise Heidebluth. Sie hörten nach wenigen Minuten, wie jemand das Haustor, das Sie von innen verschlossen hatten, wieder aufsperrt. Er macht im Rauchsalon Licht, kurbelt dort der Kälte wegen den elektrischen Ofen an, tut, als ob er zu Hause wäre. Sie, in dem dunkeln Salon nebenan, sieht er nicht – aber Sie sehen ihn durch die offene Tür. Es ist ein Ihnen unbekannter älterer Herr mit grauem Vollbart, mit grauem Mantel und grauem Hut. Er legt diese Dinge ab – auch den grauen Vollbart – und Sie erkennen nun, während er alles in dem Tapetenschrank hinter einem Ölbild verschließt, in ihm Ihren Mann.«
»Woher wissen Sie das?« fragte Frau Sandner mit einer von dumpfem Grauen umflorten Stimme.
» ... weil ich seit einer guten Stunde die Attribute des grauen Herrn in Händen habe. Ihr Verteidiger hat sie mir preisgegeben, um Sie zu retten – Bleiben Sie ruhig! – Hören Sie: Ich habe vorhin selber in der Villa die Sachen angelegt. Der Mantel spannte über der Brust. Ich zupfte ihn zurecht. Dabei hörte ich ein Knistern in dem Brustfutter, das der, dem der Mantel gehörte, wohl nie vernommen hatte, weil ihm der Mantel ja paßte. Ich griff hinein und zog aus einer kleinen Innentasche, die sicher noch nie aufgeknöpft worden war, ein kleines Stück Papier heraus. Es stak offenbar darin, seitdem der Mantel die Schneiderwerkstatt verlassen hatte. Es war der Bestellzettel eines Londoner Herren-Maßgeschäfts zur Ablieferung an Kunden. Er lautet, als Weisung für den Boten: › Paid‹ – auf deutsch ›bezahlt‹. › To Mr. Leopold Sandner, Cecil Hotel.‹ Dieser unscheinbare vergessene kleine Zettel erzählte mir das ganze Geheimnis: Der graue Herr war Ihr Mann selber, Frau Sandner!«
»Ja«, sagte Margot Sandner dumpf. Ich beugte mich vor. Ich versetzte gedämpft:
»Gnädige Frau, ich frage Sie nicht weiter. Denn Sie wissen es nicht und können es nicht wissen – denn sonst hätten Sie sich, so wie Sie sind, längst von Ihrem Mann getrennt, und ich muß Ihnen jetzt, kraft meiner Amtspflicht und im Interesse der Untersuchung das Furchtbare verraten, das wir schon vorher durch Zeugen von dem grauen Herrn wußten, ehe wir wußten, wer der graue Herr war: Gnädige Frau – seien Sie stark! Fassen Sie sich, wenn ich Ihnen jetzt sage: Es klebt Blut und Tränen an dem Einkommen, das Ihrem Mann scheinbar so reichlich aus Amerika zufloß. Er lebte mit seiner Weltkenntnis und Weltgewandtheit und äußeren Liebenswürdigkeit offenbar ausschließlich von Erpressungen. Er war ein schonungsloser Ausbeuter fremder Schuld und fremder Geheimnisse, der wahrscheinlich viele Menschen auf dem Gewissen hat! Sein Weg ging über Leichen.«
»Das weiß ich!« sagte Margot Sandner gleichgültig und eintönig.
»... daß er seine gesellschaftlichen Verbindungen hier in der Stadt und wahrscheinlich auch anderswo zu diesen Erpressungen benutzte? Daß er, wie es scheint, geradezu hellsehend war, wo ein Skelett im Hause war und von dieser unheimlichen Gabe mitleidslos Gebrauch machte?« »Ja. Das weiß ich!« wiederholte Margot Sandner dumpf.
»Um Gottes willen ... woher denn? Seit wann denn?«
»Ich wußte es bis zu jener Nacht nicht!« sagte Margot Sandner. »Er setzte sich damals, nachdem er seine Verkleidung abgelegt hatte, im Rauchzimmer an den Tisch. Er fing an, zu telephonieren. Es kam ein Dämon heraus. Kein Mensch. Sein Gesicht war lächelnd verzerrt. Er ließ sich mit ein paar Nummern, der Reihe nach, verbinden. Er sprach als der graue Herr – mit mehreren Leuten hintereinander. Er spielte mit ihnen wie die Katze mit der Maus. Es waren alles Leute, die etwas zu verbergen hatten. Das merkte man an den Gesprächen. Er verhandelte mit den verzweifelten Menschen wegen weiterer Schweigegelder und nickte nur belustigt zu den Notrufen und Bitten und Flüchen, die er offenbar durch das Telephon hörte und zuckte gleichgültig die Achseln.«
»Und dann?«
»Dann legte er den Hörer hin und stand auf und ging nach der Diele. Wahrscheinlich wollte er die Pistole holen, die er beim Kommen aus dem grauen Mantel gezogen und dort auf den Tisch gelegt hatte. Er war noch kaum in der Diele, da krachte ein Schuß. Er taumelte und fiel nieder. Wer geschossen hat, weiß ich nicht. Ich habe ihn nicht gesehen ...«
»Ich glaube, Sie haben ihn schon oft gesehen, gnädige Frau!«
»Ich weiß auch nicht, wo er hin ist. Ich konnte mich nicht rühren. Ich war vor Grauen erstarrt. Ich blieb wie leblos sitzen. Gleich darauf Samen schon die Schutzleute herein. Ein junger Arzt. Allerhand Menschen. Alle schrien: Da sitzt die Mörderin!«
»Ja – und warum haben Sie denn um Gotteswillen diesen Leuten nicht gleich den wahren Tatbestand ... Warum schweigen Sie denn die ganze Zeit?«
Ich wurde unterbrochen. Die Zellentüre wurde geöffnet. Ich schaute stirnrunzelnd über die Schulter. Ich wollte die Störung abwehren. Aber es war der Rechtsanwalt Paul Morell, der atemlos, mit dem Recht des Verteidigers, eintrat.