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Das ältliche Fräulein Oberlin hatte kaum mit einem in der Erinnerung noch tränenfeuchten Augenaufschlag und einer kummervollen Verbeugung den Saal verlassen, so trat der Rechtsanwalt Dr. Paul Morell stürmisch vor. Jetzt war er in seinem Element. Es war, als ob er vor den Geschworenen plädierte. Er warf leidenschaftlich den brünetten Krauskopf ins Genick. Er gestikulierte mit den Händen. Der ganze Mann flackerte wieder wie eine Pechfackel im Wind. Aber es ließ sich nicht leugnen: Etwas von seinem verzweifelten Ungestüm als Verteidiger auf Tod und Leben teilte sich auch den anderen mit.
»Meine Herren! Diese Aussagen sprechen ja Bände!« rief er atemlos. »Gott sei Dank, daß diese Nacht, diese letzte Nacht, zu reden beginnt und uns ihre Boten sendet! Diese Boten nahen von allen Seiten durch die Nacht und schreien uns in die Ohren: Margot ist nicht die einzige in dem Fall Sandner, woraus allein die Anklage der Unglücklichen den Todesstrick schürzt. Es schreitet noch ein Zweiter durch den Fall Sandner – ein großer Unbekannter, dem die Bluttat zuzutrauen ist, auf den die Blutschuld fällt. Noch wissen wir nichts Näheres von ihm und nennen ihn nur den grauen Herrn. Aber vielleicht ist dieser große Unbekannte in diesem Augenblick nur ein paar Türen weit von uns in guter Obhut und harrt seines verdienten Schicksals!
Der graue Herr ... Hat ihn etwa nur ein einziger Zeuge gesehen?« fuhr Paul Morell eindringlich fort. »Oder hat ihn nur eine einzelne Gruppe von Zeugen gesehen? Nein! De Poorter und Genossen kennen den Hausverwalter Ranft nicht. Ranft hat das Fräulein Oberlin nie gesehen. Das Fräulein Oberlin weiß bis zur Stunde nichts von einem De Poorter. Und alle diese Menschen, so verschieden an Alter, Geschlecht, selbst Nationalität, bezeugen getrennt voneinander, sich gegenseitig unbekannt und voneinander unbeeinflußt, daß ein solcher großer Unbekannter leibhaftig existiert, und haben ihn durch viele Monate beobachtet – von jener Sommernacht im vorigen Jahr bis zu der Winternacht, in der er kurz vor dem Schuß die Villa Sandner betrat, um das Unglück über das Ehepaar Sandner zu bringen. Denn er ist der Unglücksbote selber. Er ist der wandelnde Tod. Das haben wir gehört und wissen wahrscheinlich doch nur einen Bruchteil von dieser unheimlichen Ausgeburt der Nacht.«
»Es sind allerdings ja gerade im letzten Jahre ein paar ganz mysteriöse Selbstmorde bei uns vorgekommen!« sagte einer der Herren, und ein anderer ergänzte: »Auch sonst so ungeklärte Unglücksfälle – plötzliche finanzielle Katastrophen, wie mit diesem alten, soliden Bankgeschäft.«
Der Herr Präsident hob, in seinem Lehnstuhl sitzend, ein wenig die Hand. Diese kurze Bewegung genügte, um ihm ehrerbietig Gehör zu sichern.
»Diese akademischen Erläuterungen, Herr Doktor Morell, führen uns nicht weiter!« sagte er in seiner leisen, leidenschaftslosen, klaren Sprechweise in das ebbende Stimmengewirr. »Nichts ist gefährlicher für die arme, geplagte Wahrheit auf Erden, als mit vorgefaßter Meinung an irgendein Ding heranzutreten. Wir brauchen nicht Meinungen, sondern Tatsachen. Wir sind in der Lage, Herr Staatsanwalt Sigrist, solche Tatsachen jetzt durch die Gegenüberstellung von Zeugen mit einem Menschen zu erhärten, von dem wir vorläufig noch nicht wissen, was es für ein Mensch ist oder zwei Menschen in einem ... ein Philister ... ein Ungeheuer ... beides ...«
»Und ich«, setzte ich ernst und nachdrücklich, mich im Kreise umsehend, hinzu, »bitte sämtliche Anwesende, bei der nunmehrigen Vorführung des Nottebohm diejenige Stille und Zurückhaltung zu bewahren, die diesen entscheidenden Minuten zukommt, und in keiner Weise, auch nicht durch Kopfschütteln oder Mienenspiel oder sich achselzuckend anblickend, die Zeugen unbewußt bei ihrer Konfrontation mit dieser noch unerforschten Persönlichkeit zu beeinflussen.«
»Ich schließe mich mit der gleichen Bitte dem Herrn Staatsanwalt an«, flüsterte der Verteidiger Morell gepreßt. »Sie wissen: Die Vollstreckung des Urteils ist durch den Herrn Staatspräsidenten nur aufgeschoben, nicht aufgehoben. Es hängt ein Menschenleben von dem ab, was wir jetzt sehen und hören werden!«
Es war ein geradezu feierliches Schweigen. Alles hielt förmlich den Atem an, als Herrn Nottebohms Schritte draußen auf dem Flur hörbar wurden, nicht hilflos schlurfend wie vorhin, sondern eher mit einer gewissen Entschiedenheit aufgesetzt. Er ließ sich beim Eintritt nicht mehr von den beiden Wachtmeistern stützen, sondern nur rechts und links eskortieren, und wandelte mit einer gewissen Würde seines Weges.
Im Saal blieb er an der Tür stehen und schaute den Versammelten frank und frei ins Auge – nicht das Häufchen Unglück wie vorhin, sondern die verfolgte, graubärtige Unschuld. Trotzdem ging es wie ein leises Grauen bei seinem Eintritt durch den Raum, obwohl er wirklich nichts Grauenerregendes an sich hatte. Ich konnte mich nicht enthalten, zu dem jungen Regierungsrat neben mir zu sagen:
»Finden Sie nicht, daß er wie ein ehrbarer Kaufmann in Person ausschaut?«
Der Rechtsanwalt Morell hatte es gehört. Er drehte sich zu mir um und zischelte spöttisch:
»Ja – wenn Sie nach vielen Jahren forensischer Praxis noch glauben, Herr Staatsanwalt, daß der Teufel mit Hörnern und Klauen durch die Welt läuft ...«
Daniel Nottebohm schwieg und wartete. Er hatte in einer Art Napoleonstellung die rechte Hand in den Westenausschnitt geschoben und den rechten Fuß vorgesetzt. Auf seinem nüchternen Gesicht malte sich eine verhaltene edle Entrüstung, als sei er das gute Gewissen selber auf zwei Beinen. Es ließ sich nicht leugnen, der Mann hatte in seiner Spießerhaftigkeit fast etwas Feierliches, etwas Märtyrerhaftes an sich. Um ihn herrschte immer noch die große, erwartungsvolle Stille. Ich unterbrach sie und begann zugleich zu stenographieren:
»Herr Nottebohm: Haben Sie mir etwas zu sagen?«
Nottebohm richtete sich auf. Seine Stimme war viel stärker und klang entschieden.
»Tscha! Sehr viel! Das kam ja wohl so plötzlich – nöch? Da habe ich meine Fassung verloren. Die habe ich nu allens wieder beisammen. Ich bin zu mir gekommen!«
»Was haben Sie mir zu sagen?«
»Ich zahle meine Steuern ...«, sprach Nottebohm.
»Das gehört nicht hierher!«
»Ich bin Waisenpfleger! Ich bin in der städtischen Deputation für Straßenbahnwesen. Ich bin Staatsbürger. Der Bürger ist kein Spielzeug!«
»Sie stehen nun einmal unter Verdacht ...«
»Tscha! Der Delirant sieht weiße Mäuse. Und ihr seht swarte Männer! Aber nicht in mir! Darum möchte ich gefälligst gebeten haben – nöch?«
»Herr Nottebohm! Halten Sie gefälligst an sich!«
Aber der Wurm krümmt sich, toietm er getreten wird, und Herr Nottebohm war kriegerisch gesonnen.
»Ich habe einmal vor neunzehn Jahren einen Strafbefehl über drei Mark gekriegt, weil ich vor meinem Hause bei Glatteis nicht habe streuen lassen. Seitdem habe ich nie wieder die Staatsgesetze verletzt, und über die drei Mark ist ja nun wohl Gras gewachsen. Wenn ihr euch Spitzbuben halten wollt – tscha – meinetwegen! Die Polizei will ja auch leben. Aber ich möchte jetzt nach Hause!«
»Weiter haben Sie nichts zu sagen?«
»Nö!«
»Dann soll Fräulein Oberlin noch einmal eintreten!«
»Wer ist denn Fräulein Oberlin?« fragte Daniel Nottebohm empört und mißtrauisch zugleich. »Ich habe diesen Namen nie gehört! Ich habe gar keine Beziehungen zu dieser Dame! Ich bin doch verlobt ... nö ... ich war verlobt ... O Gott ... die Luise ... Wo soll denn dat alles noch hin?«