Anne Louise Germaine von Staël
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Anne Louise Germaine von Staël

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Freuden und Leiden des Lebens

Die meisten Weltmenschen geben keinen besseren Rat als der Fuchs; wenn sie gefühlvolle Seelen von den Qualen des Herzens gefoltert sehen: so schlagen sie ihnen immer vor, aus der Luft, wo der Sturm herrscht, in die Leere zu treten, die tötet.

Ich kenne eine Stelle des »Messias«, wo der Dichter auf einem entfernten Planeten, dessen Bewohner unsterblich sind, einen Engel vorstellt, der die Nachricht bringt, daß es eine Erde gibt, wo die menschlichen Geschöpfe dem Tode unterworfen sind. Klopstock entwirft ein bewundernswertes Gemälde vom Erstaunen dieser Wesen, denen der Schmerz über den Verlust geliebter Gegenstände unbekannt ist.

Würde es elterliche und kindliche Zuneigungen geben, wenn das Dasein der Menschen nicht zugleich dauerhaft und flüchtig, festgehalten vom Gefühl und fortgerissen von der Zeit, wäre? Wenn es in der Welt keinen Verfall gäbe: so würde es auch keine Fortschritte geben. Wie sollte man also Furcht und Hoffnung empfinden? Kurz, in jeder Handlung, in jedem Gefühl, in jedem Gedanken ist ein Teil vom Tod. Und nicht bloß in der Tat, sondern selbst in der Einbildung sind die Freuden und Leiden, die von der Unbeständigkeit des Lebens herrühren, unzertrennlich. Das ganze Dasein besteht in jenen Empfindungen des Vertrauens und der Angst, die die zwischen Himmel und Erde schwebende Seite erfüllen, und das Leben hat keine andere Triebfeder, als das Sterben.

Es gibt keinen Zweifel, daß das, was vor zweitausend Jahren in moralischen Dingen wahr war, es auch jetzt ist; seit zwei Jahrtausenden jedoch haben sich die Überlegungen der Niederträchtigkeit und Verderbtheit so vermehrt, daß ein rechtschaffener Philosoph seine Bestrebungen nach diesem traurigen Fortschritt beurteilen muß. Die gewöhnlichen Ideen können nicht gegen die systematische Immoralität kämpfen; man muß den Schacht weitertreiben, wenn die äußeren Adern kostbarer Metalle erschöpft sind. In unseren Tagen hat man die Schwäche so oft mit der Tugend vereinigt gesehen, daß man sich gewöhnt hat zu glauben, in der Immoralität sei Tatkraft. Die deutschen Philosophen – und Dank und Ruhm werde ihnen dafür zuteil! – sind im achtzehnten Jahrhundert die ersten gewesen, die den Verstand zum Glauben, das Genie zur Moral und den Charakter zur Pflicht gemacht haben.

Die, welche die Vervollkommnungsfähigkeit des menschlichen Geistes leugnen, behaupten, in allen Dingen lösen Fortschritte und Verfall einander ab, und wie das Glücksrad, ebenso drehe sich auch das Gedankenrad. Welch ein trauriges Schauspiel würden Generationen sein, die sich, wie Sisyphus in der Unterwelt, auf Erden mit ewig unnützen Arbeiten beschäftigten! Und was würde denn die Bestimmung der Menschheit sein, wenn sie der grausamsten Folter gliche, welche die Phantasie der Dichter hat erdenken können! Dem ist jedoch nicht so, und in der Geschichte der Menschheit läßt sich ein Plan wahrnehmen, der immer derselbe bleibt, nie aufgegeben wird, und beständig fortschreitet.

Der Kampf zwischen den Angelegenheiten dieser Welt und den erhabenen Gefühlen hat zu allen Zeiten, wie bei Individuen, so bei Nationen fortgedauert. Der Aberglaube verführt oft aufgeklärte Menschen zur Ungläubigkeit, und im Gegenteil wecken bisweilen die Einsichten selbst den Glauben des Herzens. Gegenwärtig flüchten sich die Philosophen in die Religion, um in ihr die Quelle hoher Gedanken und uneigennütziger Gefühle zu finden; in dieser Epoche, von Jahrhunderten vorbereitet, kann das Bündnis zwischen Philosophie und Religion innig und aufrichtig sein. Nicht, wie ehemals, sind die Unwissenden Feinde des Zweifels, die entschlossen wären, alles, was ihre religiösen Hoffnungen und ihre ritterliche Hingebung stören könnte, von sich zu stoßen; die Unwissenden unserer Zeit sind ungläubig, leichtsinnig, oberflächlich; sie wissen, was der Selbstsucht zu wissen nottut, und ihre Unwissenheit erstreckt sich nur auf jene erhabenen Studien, die in der Seele ein Gefühl der Bewunderung für die Natur und die Gottheit entzünden.

Die Gewohnheit, sich geistig zu beschäftigen, erweckt ein aufgeklärtes Wohlwollen für Menschen und Dinge. Man klebt alsdann nicht an sich selbst, wie an einem privilegierten Wesen. Weiß man viel über die menschliche Bestimmung, so wird man nicht von jedem Umstande wie von etwas Beispiellosem gereizt; und da die Gerechtigkeit nichts anderes ist, als die Gewohnheit, die Verhältnisse der Wesen untereinander aus einem allgemeinen Gesichtspunkte zu betrachten: so trägt der Umfang des Geistes nicht wenig dazu bei, daß wir uns von persönlichen Berechnungen losmachen. Man hat über seinem Dasein wie über dem Dasein anderer geschwebt, wenn man sich der Betrachtung des Universums hingegeben hat.

Und dann bleibt noch etwas sehr Schönes und Moralisches übrig, was Unwissenheit und Leichtfertigkeit nie genießen können; dies ist die Vereinigung aller denkenden Menschen von dem einen Ende Europas bis zum andern. Bisweilen stehen sie in keiner persönlichen Beziehung miteinander; oft sind sie durch große Zwischenräume voneinander getrennt: aber begegnen sie sich, so reicht ein einziges Wort hin, sich zu erkennen. Nicht die oder jene Religion, nicht die eine oder die andere Meinung, nicht die gleiche Art der Studien vereinigt sie; wohl aber die Kultur der Wahrheit. Bald dringen sie, gleich Bergleuten, in die Tiefe der Erde, um im Schoß der ewigen Nacht die Mysterien der verhüllten Welt zu ergründen; bald erheben sie sich zum Gipfel des Chimborasso, um auf dem erhabensten Punkte des Erdballs neue Erscheinungen zu entdecken; bald studieren sie die Sprache des Orients, um darin die Urgeschichte des Menschen zu finden; bald wandern sie nach Jerusalem, um aus heiligen Ruinen einen Funken zu schlagen, der Religion und Poesie belebt.

Kurz, das wahre Volk Gottes sind diese Männer, welche nicht an der Menschheit verzweifeln und ihm die Herrschaft des Gedankens bewahren wollen.

Die Deutschen verdienen in dieser Hinsicht eine besondere Dankbarkeit. Unwissenheit und Fahrlässigkeit in Hinsicht dessen, was mit der Literatur und den schönen Künsten in Verbindung steht, ist bei ihnen eine Schande, und ihr Beispiel beweist, daß auch in unseren Tagen die Kultur des Geistes Gefühle und Grundsätze bewahrt.

Entweder ist alles Zufall in dieser Welt, oder es gibt gar keinen; und wenn es keinen gibt, so besteht das religiöse Gefühl darin, daß wir mit der allgemeinen Ordnung übereinstimmen, trotz des Geistes der Rebellion und der Verheerung, den der Egoismus jedem von uns besonders einflößt. Alle Dogmen und alle Gottesverehrung sind die verschiedenen Formen, die dieses religiöse Gefühl je nach den Zeiten und den Ländern gestaltet hat; es kann durch den Schrecken zerstört werden, wie sehr es auch auf das Vertrauen gegründet ist: aber immer besteht es in der Überzeugung, daß in den Ereignissen kein Zufall ist und daß die einzige Art, wie wir auf das Schicksal einwirken können, in der Arbeit an uns selbst besteht. Die Vernunft regiert deswegen nicht minder in allem, was mit der Führung des Lebens zusammenhängt; aber wenn diese Haushälterin des Daseins dasselbe nach ihrer besten Einsicht geordnet hat, so gehört das Innere unseres Herzens immer der Liebe, und was man Mystizismus nennt, ist diese Liebe in ihrer vollkommensten Reinheit.

Die Erhebung des Gemüts zu seinem Schöpfer ist der höchste Gottesdienst der mystischen Christen; aber nie wenden sie sich nach Gott, um die eine oder die andere Glückseligkeit des Lebens zu erhalten. Ein französischer Schriftsteller, der erhabene Ansichten hat, von Saint Martin, hat gesagt: das Gebet sei ein Atemholen des Gemüts. Die Mystiker sind meistens überzeugt, daß es auf dieses Gebet eine Antwort gibt, und daß die große Offenbarung des Christentums sich gewissermaßen in der Seele erneuert, sooft es sich mit Inbrunst zum Himmel erhebt. Glaubt man, daß es keine unmittelbare Mitteilung zwischen dem höchsten Wesen und dem Menschen gibt, so ist das Gebet, sozusagen, ein Selbstgespräch; aber es wird zu einer weit fruchtbareren Handlung, wenn man überzeugt ist, die Gottheit mache sich fühlbar im Inneren unseres Herzens. In Wahrheit, es läßt sich nicht leugnen, daß Bewegungen in uns vorgehen, die von nichts Äußerlichem herrühren, und die uns beruhigen und aufrechterhalten, ohne daß man sie dem gewöhnlichen Zusammenhange der Ereignisse des Lebens zuschreiben könnte.

Wir verfügen weder über unsere Geburt, noch über unsern Tod, und Zweidrittel unseres Geschicks werden durch diese beiden Ereignisse bestimmt. Niemand vermag zu ändern, was in seiner Geburt, in seinem Lande, in seinem Jahrhundert ursprünglich gegeben ist. Niemand kann eine Gestalt, niemand einen Geistesreichtum erwerben, die die Natur ihm versagt hat. Und aus wieviel andern gebieterischen Umständen ist das Leben nicht zusammengesetzt! Wenn unser Schicksal aus hundert Losen besteht, so sind neunundneunzig davon nicht in unserer Gewalt; und die ganze Leidenschaft unseres Willens ergießt sich noch über den kleinen schwachen Anteil, der in unserer Gewalt steht. Die Einwirkung des Willens auf diesen schwachen Anteil ist also unvollständig. Die einzige freie Tat des Menschen, die immer zum Ziele gelangt, ist die Erfüllung der Pflicht; der Ausgang aller übrigen Beschlüsse hängt gänzlich von Zufälligkeiten ab, über die die Klugheit selbst nicht herrscht. Die meisten Menschen erhalten nicht, was sie heftig wollen; und die Glückseligkeit selbst, wenn sie ihnen zuteil wird, kommt auf eine unerwartete Weise.

In der physischen Ordnung haben Unfälle und Unglück etwas so Schnelles, so Unerbittliches, so Unerwartetes, daß sie an das Wunderbare grenzen; die Krankheit ist wie ein böses Leben, das sich plötzlich des friedlichen Lebens bemächtigt. Die liebenden Gefühle des Herzens machen uns die Barbarei jener Natur, die man uns sanft darstellen möchte, nur allzu fühlbar. Wie viel Gefahren bedrohen nicht ein geliebtes Haupt! Unter wie vielen Gestaltungen verkleidet sich nicht der Tod um uns her. Es gibt keinen schönen Tag, der nicht den Blitz verbirgt, keine Blüte, deren Säfte nicht vergiftet sind; keinen Lufthauch, der nicht eine tödliche Ansteckung mit sich führen könnte; die Natur scheint eine eifersüchtige Liebende zu sein, die bereit ist, die Brust des Menschen zu durchstoßen in dem Augenblick, wo er in ihren Gaben schwelgt.

Wie den Zweck aller dieser Erscheinungen begreifen, wenn man sich an die gewöhnliche Verkettung unserer Arten zu urteilen hält? Wie kann man die Tiere betrachten, ohne sich in das Erstaunen zu versenken, das ihr geheimnisvolles Dasein erzeugt? Ein Dichter hat von ihnen gesagt: sie seien die Träume der Natur, deren Erwachen der Mensch sei. Zu welchem Zweck sind sie geschaffen? Was bedeuten diese Blicke, die mit einer dunkeln Wolke bedeckt scheinen, hinter der ein Gedanke hervorbrechen möchte? In welchem Verhältnis stehen sie zu uns? Was hat es auf sich mit dem Teil des Lebens, den sie genießen? Ein Vogel überlebt den Mann von Genie, und ich weiß nicht, welche seltsame Verzweiflung das Herz ergreift, wenn man den Gegenstand seiner Liebe verloren hat, und man den Hauch des Daseins noch ein Insekt beleben sieht, das sich auf eben der Erde bewegt, von der das Edelste verschwunden ist.

Die fortdauernde Reihenfolge von Tod und Entstehung, wovon die physische Welt die Schaubühne ist, würde den allerschmerzlichsten Eindruck verursachen, wenn man hierin nicht die Spur der Wiederauferstehung aller Dinge zu sehen glaubte; und diese Art, die Natur zu betrachten, ist der wahrhaft religiöse Gesichtspunkt, aus dem sie betrachtet sein will. Man würde zuletzt vor lauter Mitleid sterben, wenn man sich auf die furchtbare Idee des Unersetzlichen beschränken müßte: kein Tier stirbt, ohne daß man es bedauern könnte, kein Baum sinkt, ohne daß der Gedanke, man werde ihn in seiner Schönheit nicht wiedersehen, in uns nicht ein schmerzliches Gefühl anregte. Selbst die unbelebten Gegenstände tun weh, wenn ihr Verfall zu einer Trennung von ihnen nötigt: das Haus, die Gerätschaften, die Personen, die wir liebten, gedient haben, finden unsere Teilnahme, und diese Gegenstände selbst erregen in uns eine Art von Sympathie, die ganz unabhängig ist von den Erinnerungen, die sie erwecken. Wenn die Zeit nicht die Ewigkeit zum Gegengift hätte, so würde man sich anklammern an jeden Augenblick, um ihn festzuhalten, an jeden Ton, um ihn zu binden, an jeden Blick, um seinen Glanz zu verlängern; und die Genüsse würden nur in dem Augenblick da sein, der nötig ist, um ihr Vorüberrauschen zu fühlen und ihre Spuren mit Tränen zu benetzen, die der Abgrund der Tage ebenso verschlingen würde.

Die wahren Endursachen der Natur sind ihre Verhältnisse zu unserer Seele, zu unserem unsterblichen Schicksal. Die physischen Gegenstände selbst haben eine Bestimmung, die sich nicht auf das kurze Dasein des Menschen hienieden beschränkt; sie sind da, um zur Entwickelung unseres Gedankens, zum Werk unseres sittlichen Lebens beizutragen. Die Erscheinungen der Natur sollen nicht bloß nach den Gesetzen der Materie begriffen werden, wie gut kombiniert diese Gesetze auch sein mögen; sie haben einen philosophischen Sinn und einen religiösen Zweck, dessen Umfang selbst die aufmerksamste Betrachtung nie ganz erkennen wird.


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