Anne Louise Germaine von Staël
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Anne Louise Germaine von Staël

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Eleganz und Grazie

Seit Ludwig XIV. setzte die sogenannte schöne Welt des Kontinents in Europa, Italien und Spanien ausgenommen, ihre Ehre daran, sich den Franzosen nachzubilden. In England gibt es einen beständigen Gegenstand der Unterhaltung, nämlich das politische Problem, worin alle und jeder ihr besonderes Interesse suchen und finden. Im Süden von Europa gibt es keine Gesellschaften; die schöne Sonne, die schönen Künste, die Liebe füllen dort das Leben aus. In Paris unterhält man sich gewöhnlich über die Literatur, und das sich immer mit neuen Stücken bereichernde Schauspiel gibt zu witzigen, scharfsinnigen Bemerkungen Anlaß und Stoff. In allen übrigen großen Städten besteht der Hauptinhalt aller Unterhaltungen in Anekdoten, in täglichen Urteilen und Anmerkungen über diejenigen, die zur großen Welt gehören. Es ist ein gewöhnliches Gewäsch, nur, daß die Namen vornehmer klingen; im Grunde sind es Klatschereien, wie in den niedrigsten Volksklassen; denn bei aller Eleganz der Formen, bei aller Wahl der Ausdrücke, läuft doch alles auf die Chronik von der Nachbarschaft hinaus.

Der wahrhaft liberale Stoff zur Unterhaltung besteht in Ideen und Tatsachen von allgemeinem Interesse. Die zur Gewohnheit gewordene Medisance, weil sie doch einmal die Gedankenleere und die Dürftigkeit des Verstandes in den Gesellschaften zum notwendigen Bedürfnisse gemacht hat, kann zwar mehr oder weniger durch Herzensgüte gemildert werden, doch nie so sehr, daß man mit jedem Schritt, mit jedem Wort kleine, ärgerliche Anekdoten hören sollte, deren Gesumme, wie das der Fliegen, selbst den Löwen auf die Dauer beunruhigen könnte. In Frankreich bedient man sich der Waffe des Lächerlichen, um sich gegenseitig zu bekämpfen und den Boden zu erobern, auf dem man den Sieg der Eigenliebe davonzutragen hofft. In anderen Ländern läßt man es bei einem harmlosen Geschwätz bewenden, das den Geist abnutzt und alle Spannkraft in jeder Gattung der Verstandesübungen hemmt.

Eine leichte Unterhaltung, in der eigentlich von nichts die Rede ist, und alles auf den Reiz der Worte und Wendungen ankommt, kann großes Vergnügen gewähren, und man darf es ohne Anmaßung behaupten, Frankreich allein stelle diese Gattung von Unterhaltung auf. Man kann sie als eine gefährliche, aber einladende Übung ansehen, in der jeder kleine Gegenstand sozusagen zum Federball wird, den man einander zuwirft, und der im genau berechneten Augenblick aus einer Hand in die andere fliegen muß.

Die Österreicher verbinden im allgemeinen zu viel Steifes mit zu viel Aufrichtigkeit, um sich fremdes Wesen anpassen zu wollen. Man hält es in Berlin für eine Sache des guten Geschmacks, französisch zu sprechen.

Die Franzosen haben sich in Europa, und vor allem in Deutschland, durch ihre Kunst, Extravaganzen auffallen zu lassen, hervorgetan. In den Worten Eleganz und Grazie lag eine geheime magische Kraft, die für die Eigenliebe ein unwiderstehlicher Ansporn war. Es ist nicht anders, als wären die Gefühle, die Handlungen, als wäre das ganze Leben dieser überfeinen Gesetzgebung des Weltgebrauchs unterworfen, als sei diese Gesetzgebung ein Vertrag zwischen der Eigenliebe des Einzelnen und der Eigenliebe der bürgerlichen Gesellschaft, ein Vertrag, kraft dessen die Eitelkeiten eine republikanische Konstitution unter sich errichtet haben, wo die Strafe des Ostrazismus gegen alles verhängt wird, was scharf gezeichnet und stark ausgesprochen ist. Diese, dem Schein nach leichten, im Grund aber despotischen Formen und Verabredungen entscheiden über das ganze Wesen des Menschen; sie haben allmählich und stufenweise alles untergraben, die Liebe, den Enthusiasmus, die Religion: alles, außer dem Egoismus, den der Stachel der Ironie nicht erreichen kann, weil er sich zwar dem Tadel, nie aber dem Spotte bloßstellt.

Der deutsche Geist verträgt sich weit weniger als jeder andere mit jener berechneten Kleingeistigkeit; er ist kaum auf der Oberfläche sichtbar, er muß tief eindringen, um zu begreifen. Er hascht nichts im Fluge. Vergebens würden die Deutschen es versuchen wollen, ihren natürlichen Eigenschaften und Gefühlen zu entsagen; an der Gründlichkeit würden sie verlieren, und in der leichten Form nicht gewinnen. Sie würden aufhören, Deutsche von Wert und Verdienst zu sein, ohne sich in liebenswürdige Franzosen umzuschaffen.

Ich bin weit entfernt, ihnen die Grazie absprechen zu wollen; sobald sie sich nur ihrer natürlichen Stimmung hingeben, geht sie aus ihrer Einbildungskraft, aus ihrer Empfindung hervor. Ihre muntere Laune (und es fehlt ihnen, besonders den Österreichern, keineswegs daran) hat aber mit der französischen Lustigkeit nichts gemein. Die Tiroler Possen, an denen in Wien die Großen wie das Volk soviel Freude empfinden, haben weit mehr Ähnlichkeit mit dem italienischen als mit dem französischen komischen Spott. Sie bestehen in stark aufgetragenen Karikaturen, in denen die menschliche Natur zwar mit Wahrheit, aber die Gesellschaft nicht mit Feinheit dargestellt wird. Gleichwohl ziehe ich diese Lustigkeit mit ihrem gröberen Anstrich der Nachahmung einer fremden Grazie vor.

Sobald man die Franzosen nachzuahmen sucht, tragen sie über alle und alles den Sieg davon.

Sooft man im Auslande auf einen Nationalfranzosen stößt, freut man sich, mit ihm ein Gespräch über die französische Literatur anknüpfen zu können; man fühlt sich wie zu Hause, man unterhält sich sozusagen von häuslichen Geschäften. Nicht so mit einem französischen Ausländer; ein solcher erlaubt sich keine Meinung, keine Sprachwendung, die nicht den Stempel der Orthodoxie mit sich führte; und nicht selten ist es eine Orthodoxie von ehedem, die er für die Meinung des Tages ansieht. In manchen nordischen Ländern bleibt man noch immer bei den Anekdoten der Regierung Ludwigs XIV. stehen. Man hört Ausländer, die es den Franzosen gern nachtun möchten, und die Hofstreitigkeiten der Madame de Montespan und der Mademoiselle de Fontanges mit einer Weitläufigkeit und mit Umständen erzählen, die ermüden müßten, auch wenn von einem Ereignis von gestern die Rede wäre. Diese kleinliche Lesegelehrsamkeit, dieses eigensinnige Ankleben an einigen allgemein gangbaren Ideen, welches aus der Schwierigkeit entsteht, seinen Vorrat von Zeit zu Zeit zu ergänzen, bringt Langeweile hervor; die wahre Kraft eines Landes besteht in dessen natürlichem Charakter, und die Nachahmung des Auslandes, sei's worin es wolle, zeugt von einem Mangel an Patriotismus.

Dem geistreichen Franzosen ist es auf Reisen nicht angenehm, bei fremden Nationen den französischen Geist zu finden. Er sieht es weit lieber, wenn er auf Männer trifft, die mit der individuellen die National-Originalität verbinden. Die Modehändlerinnen in Frankreich pflegen den Bodensatz ihres Warenlagers nach den Kolonien, nach Deutschland, nach dem Norden zu schicken. Gleichwohl suchen sie sich auf alle mögliche Weise die Nationaltrachten eben dieser Länder zu verschaffen, und stellen sie mit Recht als elegante Nachahmungsmuster auf. Was von der Naturverzierung gilt, gilt ebenfalls vom Geiste. Wir senden ganze Ladungen von Calembourgs, von Vaudevilles ins Ausland, wenn wir ihrer in Frankreich überdrüssig sind; aber in der fremden Literatur liebt der Franzose nur, was nicht französisch, was einheimische Schönheit ist. In der Nachahmung gibt es weder Leben noch Natur, und man könnte im allgemeinen auf alle diese Aftergeburten des Geistes, auf alle diese Werke französischer Nachahmung das Lob anwenden, welches im Ariost Roland dem Pferde beilegt, das er hinter sich schleppt: »Mein Pferd vereinigt alle möglichen guten Eigenschaften; es hat nur einen einzigen Fehler; den, daß es tot ist!«


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