Anne Louise Germaine von Staël
Deutschland
Anne Louise Germaine von Staël

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Sitten und Charakter der Deutschen

Deutschland war ein aristokratischer Bundesstaat. Dem Reiche fehlte es an einem gemeinschaftlichen Mittelpunkt der Aufklärung und des Gemeingeistes. Es bildete keine zusammenhängende Nation; dem Bündel fehlte das Band. So nachteilig diese Verschiedenheit Deutschlands seiner politischen Kraft war, so vorteilhaft war sie allen Versuchen des Genies und der Phantasie. Es herrschte eine Art sanfter friedlicher Anarchie auf den Gebieten literarischer und metaphysischer Meinungen, wobei es jedermann freistand, seine individuelle Ansicht der Dinge ganz nach Gefallen zu entwickeln.

Da es keine Hauptstadt gibt, die der Sammelplatz der guten Gesellschaft von ganz Deutschland ist, so kann der gesellige Geist seine Gewalt nur wenig geltend machen, so fehlt es dem herrschenden Geschmack an Einfluß und den Waffen des Spottes am Stachel. Ein großer Teil der Schriftsteller arbeitet in der Einsamkeit oder in dem engen Kreis kleiner Umgebungen, über die sie die Herrschaft führen. Sie geben sich, jeder besonders, allem hin, was eine ungezügelte Phantasie ihnen eingibt, und wenn sich in Deutschland eine Spur der Modegewalt blicken läßt, so besteht sie bloß darin, daß jeder versteht, sich von allen anderen zu unterscheiden. In Frankreich ist gerade das Gegenteil der Fall; da strebt alles nach dem Lob, das Montesquieu Voltaire erteilt, wenn er sagt: »Er hat mehr als irgend jemand den Verstand, den jedermann hat.«

In der Literatur wie in der Politik haben überhaupt die Deutschen nicht genug Nationalvorurteile. Bei einzelnen ist die Verleugnung ihrer selbst und die Achtung des andern eine Tugend; nicht so beim Patriotismus der Nationen: dieser muß egoistisch sein. Der Stolz der Engländer trägt zu ihrer politischen Existenz mächtig bei. Die gute Meinung der Franzosen von sich hat von jeher ihr Übergewicht in Europa verstärken helfen. Der edle Stolz der Spanier machte sie einst zu Herren eines Erdteils des Erdkreises. Die Deutschen sind Sachsen, Preußen, Bayern, Österreicher, aber der Grundcharakter, der die Stärke aller übrigen begründen sollte, ist zerstückelt wie das Land selbst.

Die Deutschen sind im allgemeinen aufrichtig und treu; fast immer ist ihr Wort ihnen heilig und der Betrug ihnen fremd. Sollte sich je die Falschheit in Deutschland einschleichen, so könnte es nur geschehen, um sich den Ausländern nachzubilden, um zu zeigen, daß sie ebenso gewandt sein können, wie jene; vor allem, um sich nicht von ihnen hinters Licht führen zu lassen. Bald aber würde der gesunde Verstand und das gute Herz die Deutschen zur Überzeugung bekehren, daß man nur durch seine eigene Natur stark sei, und daß die Gewohnheit des Rechtlichen uns ganz und gar unfähig zur Arglist mache, selbst dann, wenn wir sie gebrauchen möchten. Um aus der Immoralität Vorteil zu ziehen, muß man in jeder Hinsicht leicht gerüstet sein, nicht aber ein Gewissen im Herzen und Bedenklichkeiten im Kopfe führen, die uns auf halbem Wege aufhalten und es uns um so mehr bereuen lassen, vom alten Wege abgewichen zu sein, als es uns unmöglich wird, in der neuen Straße verwegen fortzuschreiten.

Es wäre, dünkt mich, leicht zu beweisen, daß ohne Moral alles in der Welt Finsternis ist. Trotzdem ist man oft bei den Völkern lateinischen Ursprungs einer Politik begegnet, die mit seltener Gewandtheit die Kunst besaß und ausübte, sich von allen Pflichten zu befreien. Der deutschen Nation hingegen darf man es zum Ruhme nachsagen, daß es ihr beinahe an jener Fähigkeit fehlt, die es geschmeidig-dreist versteht, jede Wahrheit jedem Vorteil zugunsten zu beugen und die heiligen Verbindlichkeiten der kalten Berechnung zu opfern. Ihre Mängel sowohl wie ihre Eigenschaften unterwerfen diese Nation der ehrenvollen Notwendigkeit, gerecht zu sein.

Der mächtige Trieb zur Arbeit und zum Nachdenken ist ebenfalls ein entscheidendes Charaktermerkmal der Deutschen. Sie sind von Natur literarisch und philosophisch; nur daß der Unterschied der Klassen, der in Deutschland hervorstechender als irgendwo ist, in mancher Hinsicht dem, was man unter Geist (Esprit) versteht, im Wege steht. Der Adel hat zu wenig Ideen, die Gelehrten zu wenig Kenntnis der Geschäfte.

Der Geist ist ein Gemisch von der Kenntnis der Dinge und der Menschen; und die Gesellschaft, in der man ohne Zweck und doch mit Teilnahme handelt, ist gerade das, was die am meisten entgegenstehenden Fähigkeiten am besten entwickelt. Was die Deutschen charakterisiert, ist mehr die Einbildungskraft als der Geist. Jean Paul Richter, einer ihrer ausgezeichnetsten Schriftsteller, sagt irgendwo: »Das Gebiet des Meeres gehört den Engländern; das Gebiet der Erde den Franzosen; das Gebiet der geistigen Atmosphäre den Deutschen«. Und in der Tat wäre es angebracht, Deutschland jener hervorstechenden Denkkraft zu überlassen, die sich in den leeren Raum versteigt und verliert, in die Tiefe eindringt und verschwindet, die in ihrer zu großen Unparteilichkeit zu nichts, in ihrer zu feinen Analyse zum Chaos wird.

Es kostet Mühe, wenn man soeben aus Frankreich kam, sich an die Langsamkeit, an die Ruhe des deutschen Volkes zu gewöhnen; es hat nie Eile, findet allenthalben Hindernisse. Das Wort unmöglich hört man hundertmal in Deutschland aussprechen gegen einmal in Frankreich. Muß gehandelt werden, so weiß der Deutsche nicht, was es heißt, den Hindernissen entgegenstreben; und seine Achtung vor der Gewalt rührt mehr davon, daß sie in seinen Augen dem Schicksale gleicht, als von irgendeinem eigennützigen Grund her.

Sobald man sich etwas über die unterste Volksklasse in Deutschland erhoben hat, bemerkt man bald das innere Leben, die Seelenpoesie, die den Deutschen bezeichnet. Die Bewohner der Städte und Dörfer, Soldaten und Landleute, verstehen fast alle Musik. Es ist mir sehr oft begegnet, in kleine, von Tabaksdampf durchräucherte Häuser zu treten und nicht allein die Hausfrau, sondern auch ihren Mann auf dem Klavier phantasieren zu hören, wie man in Italien improvisiert. Überall verbreitet ist die Einrichtung, daß an Markttagen auf dem Altan des Rathauses mitten auf dem Platz Spielleute mit Blasinstrumenten sich versammeln, so daß die Bauern der benachbarten Dörfer ihren freudigen Anteil an der ersten aller Künste nehmen können. Sonntags singen Chorschüler auf den Straßen geistliche Lieder. Wie man erzählt, war Luther in seiner Jugend ein solcher Chorknabe. Ich befand mich einst zu Eisenach, einem Städtchen im Herzogtum Sachsen-Weimar, an einem überaus kalten Wintertage; auf den Straßen lag tiefer Schnee. Ich sah einen langen Zug von jungen Leuten in schwarzen Mänteln durch die Stadt ziehen und hörte sie mit lauter Stimme Lieder zum Lobe Gottes anstimmen. Außer ihnen befand sich niemand auf der Straße, so streng war die Kälte; und diese Stimmen, beinahe so harmonisch wie die südlichen, rührten desto mehr, als sie mitten aus der erstarrten Natur hervortönten. Bei der bitteren Kälte durften die Einwohner ihre Fenster nicht öffnen; doch sah man hinter den Scheiben traurige und heitere Gesichter, alte und junge, die mit Freuden die Tröstungen der Religion empfingen, die ihnen der sanfte Gesang zuhauchte.

Die Instrumentalmusik ist in Deutschland ebenso allgemein eingeführt wie die Vokalmusik in Italien. Die Natur hat freilich in dieser Hinsicht wie in so mancher anderen mehr für Italien als für Deutschland getan. Es kostet Mühe und Anstrengung, um es in der Instrumentalmusik weit zu bringen, während der südliche Himmel allein hinreicht, schöne Stimmen zu bilden; gleichwohl würden nie Männer aus den arbeitenden Klassen auf die Erlernung der Musik die notwendige Zeit verwenden, wenn sie nicht natürliche Anlage dazu hätten. Die von Natur musikalischen Völker erhalten durch die Harmonie Gefühle und Ideen, zu denen sie infolge ihrer beschränkten Lage und ihrer alltäglichen Beschäftigungen auf andere Art nicht kommen könnten.

In Deutschland ist nichts so auffallend als der Gegensatz zwischen den Empfindungen und den Gewohnheiten, zwischen den Talenten und dem Geschmack. Zivilisation und Natur scheinen hier noch nicht gehörig zusammengeschmolzen zu sein. Wahrheitliebende Männer erscheinen nicht selten im Ausdruck und im Anstande manieriert, als hätten sie etwas zu verbergen; nicht minder oft zeigt sich die sanfte Seele unter einer rauhen Außenseite. Ja, man geht noch weiter; die Schwäche des Charakters blickt hinter harten Worten und harten Formen hervor. Mit dem Enthusiasmus für Dichtkunst und schöne Künste verbinden sich vielfältige gesellschaftliche Sitten und Gewohnheiten. Es gibt kein Land, wo die Gelehrten oder junge Studierende auf hohen Schulen es weiter in den alten Sprachen und in der Kenntnis des Altertums gebracht hätten; und von der anderen Seite kein Land, wo altväterische Sitten und Gebräuche einheimischer wären als in Deutschland.

Die Religion hat in Deutschland ihren Sitz im Innersten des Herzens; zugleich aber trägt sie gegenwärtig ein Gepräge der Träumerei und der Unabhängigkeit, das ausschließlichen Empfindungen nicht den gehörigen Nachdruck beilegt. Dieses Einzelnstehen von Meinungen, Individuen und Staaten, der Macht des deutschen Reichs so überaus nachteilig, findet sich auch in der Religion wieder; eine große Anzahl verschiedener Sekten teilt sich in Deutschland, und die katholische Religion selbst, die durch ihre innere Beschaffenheit einförmige, strenge Zucht hält, wird von den Deutschen nach eines jeden Weise und Gutdünken erklärt. Das politische und gesellschaftliche Gut der Völker, eine gleiche Regierung, ein gleicher Gottesdienst, gleiche Gesetze, gleiches Interesse, eine klassische Literatur, eine vorherrschende Meinung; nichts von allem diesem findet sich bei den Deutschen. Dadurch wird freilich jeder einzelne Staat unabhängiger, jede Wissenschaft besser kultiviert; aber die Nation im Ganzen zerfällt in solche Unterabteilungen, daß man nicht weiß, welchem Teile des Reichs man den Namen Nation beilegen soll.

Die deutsche Nation ist ausdauernd und gerecht; ihr Gefühl für Billigkeit und Rechtlichkeit verhindert, daß eine sogar fehlerhafte Einrichtung zum Bösen führen könne. Als Ludwig der Bayer in den Krieg zog, überließ er die Verwaltung seiner Staaten Friedrich dem Schönen, seinem Gefangenen; und dieses Vertrauen, das damals für niemand befremdend war, betrog ihn nicht. Mit solchen Tugenden hatte man von den Mängeln der Schwachheit oder von der Verwicklung der Gesetze nichts zu befürchten; die Rechtschaffenheit der Menschen ersetzte alles.

Die Unabhängigkeit selbst, die man beinahe in jeder Hinsicht in Deutschland genoß, machte die Deutschen gleichgültig gegen die Freiheit: die Unabhängigkeit ist ein Gut, die Freiheit eine Bürgschaft; und eben weil niemand in Deutschland weder in seinen Rechten, noch in seinen Genüssen gekränkt wurde, fühlte man nicht das Bedürfnis einer Ordnung der Dinge, durch die dieses Gut behauptet würde.

Die alten Urkunden, die alten Privilegien der Städte, jene große Familiengeschichte, die das Glück und den Ruhm der kleinen Staaten ausmacht, war den Deutschen über alles teuer; sie vernachlässigten darüber die große Nationalmacht, die sie vor allen Dingen mitten unter den europäischen Kolossen hätten begrüßen sollen.

Dem Deutschen fehlt es, mit wenigen Ausnahmen, an Fähigkeit zu allem, wozu Gewandtheit und Geschicklichkeit erfordert wird. Alles beunruhigt ihn, macht ihn verlegen; er bedarf eben so sehr der Methode im Handeln, als der Unabhängigkeit im Denken. Der Franzose hingegen betrachtet die Handlungen mit der Freiheit der Kunst und die Ideen mit der Knechtschaft der Gewohnheit. Die Deutschen, die sich dem Joch der Regeln in der Literatur nicht unterwerfen können, möchten, daß im Leben ihnen alles vorgezeichnet würde. Sie verstehen sich nicht darauf, mit den Menschen zu verhandeln, und je weniger man ihnen Gelegenheit gibt, sich bei sich selbst Rat zu holen, desto willkommener ist man ihnen.

Politische Institutionen können den Charakter einer Nation begründen. Nun stand die Natur der Regierung in Deutschland mit der philosophischen Aufklärung der Deutschen beinahe im Gegensatz; daher kommt es, daß sie die größte Kühnheit im Denken mit dem folgsamsten Charakter verbinden. Der Vorzug, den der Soldatenstand hat, und die Verschiedenheit der Stände überhaupt, haben sie in allen Verhältnissen des geselligen Lebens an die genaueste Unterwürfigkeit gewöhnt; der Gehorsam ist bei ihnen nicht Knechtschaft, er ist Regelmäßigkeit. Sie sind in Erfüllung der an sie ergehenden Befehle so pünktlich, als ob jeder Befehl eine Pflicht wäre.

Die aufgeklärten Köpfe in Deutschland streiten lebhaft miteinander um die Herrschaft im Gebiet der Spekulation; hier dulden sie keinen Widerspruch. Der Geist der Deutschen scheint mit ihrem Charakter in keiner Verbindung zu stehen. Jener leidet keine Schranken, dieser unterwirft sich jedem Joche; und das erklärt sich leicht. Die Vermehrung unserer Kenntnisse in neueren Zeiten dient nur dazu, den Charakter zu schwächen, wenn er nicht durch die Gewohnheit der Geschäfte und die Ausübung des Willens gestärkt wird.


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