Anne Louise Germaine von Staël
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Anne Louise Germaine von Staël

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Pestalozzi und der Geist der Erziehung

Rousseau sagt mit Recht, daß die Kinder nicht fassen, was sie lernen; und daraus schließt er, daß sie nichts lernen sollen. Pestalozzi hat vortrefflich ergründet, warum die Kinder nicht fassen, und seine Methode vereinfacht die Ideen und stuft sie zugleich so ab, daß sie dem Fassungsvermögen der Kindheit entsprechen, und daß der Geist in diesem Alter, ohne zu ermüden, zu den tiefsten Resultaten gelangt. Indem Pestalozzi mit großer Genauigkeit alle Stufen des Nachdenkens durchschreitet, setzt er das Kind in den Stand, selbst zu entdecken, was man es lehren will.

In Pestalozzis Methode gibt es kein beinahe; man versteht entweder gut, oder man versteht gar nicht; denn alle Sätze berühren sich so eng, daß das zweite Sichklarwerden immer eine unmittelbare Folge des ersteren ist. Rousseau hat gesagt: man ermüde den Kopf der Kinder durch die Studien, die man von ihnen fordere. Pestalozzi führt sie immer auf einem so leichten und so positiven Weg, daß das Vertrautwerden mit den abstraktesten Wissenschaften ihnen nicht mehr Beschwerde verursacht, als sie in den einfachsten Beschäftigungen finden; jeder Schritt in diesen Wissenschaften ist, vermöge des vorhergegangenen, ebenso leicht, wie die allernatürlichste Folgerung aus den allergewöhnlichsten Umständen. Was die Kinder ermüdet, ist, wenn man sie die Zwischensätze überspringen läßt, ist, wenn sie vorrücken, ohne daß sie wissen, was sie gelernt zu haben glauben. In ihrem Kopfe entsteht dann eine Verwirrung, die ihnen jede Untersuchung lästig macht und ihnen einen unüberwindlichen Ekel gegen die Arbeit einflößt.

Von allen diesen Nachteilen findet sich keine Spur bei Pestalozzi. Die Kinder belustigen sich bei ihren Studien, nicht, daß man sie ihnen zum Spiel gibt, sondern weil sie von Kindesbeinen an das Vergnügen erwachsener Menschen genießen – nämlich zu begreifen und zu beendigen, was man ihnen aufgetragen hat.

Pestalozzis Methode ist, wie alles wahrhaft Gute, nicht eine ganz neue Entdeckung, wohl aber eine einsichtsvolle und standhafte Anwendung bereits bekannter Wahrheiten. Geduld, Beobachtung und philosophisches Studium der Verfahren des menschlichen Geistes haben ihm gezeigt, was in den Gedanken elementar, in ihrer Entwicklung folgerecht ist; und weiter als jeder andere hat er die Theorie und Praxis der Abstufung des Unterrichts getrieben. Mit Erfolg hat man seine Methode auf die Grammatik, die Geographie, die Musik angewandt; aber es wäre sehr wünschenswert, wenn ausgezeichnete Lehrer, die seine Grundsätze angenommen haben, sie auf alle Arten von Kenntnissen anwendeten; die der Geschichte ist insbesondere noch nicht gehörig gefaßt. Noch hat man nicht die Abstufung der Eindrücke in der Literatur, wie die der Probleme in den Wissenschaften beobachtet. Mit einem Wort: es bleibt noch viel zu tun übrig, um die Erziehung auf den Gipfel zu bringen, d. h. die Kunst, sich hinter das, was man weiß, zu stellen, um es anderen begreiflich zu machen.

Es ist ein anziehendes und einziges Schauspiel bei Pestalozzi, diese Kindergesichter zu sehen, deren abgerundete, unbestimmte und zarte Züge den Ausdruck des Nachdenkens annehmen. Sie sind aufmerksam durch sich selbst und betrachten ihre Studien, wie ein Mensch in gereiftem Alter sich mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigen würde. Es ist sehr merkwürdig, daß weder Strafen noch Belohnungen nötig sind. Vielleicht zum erstenmal existiert eine Schule von hundertfünfzig Kindern ohne die Triebfeder der Nacheiferung und der Furcht. Wie viele böse Empfindungen werden dem Menschen erspart, wenn er in seinen Gespielen keine Nebenbuhler, in seinen Lehrern keine Richter sieht! Rousseau wollte das Kind dem Gesetze des Schicksals unterwerfen; Pestalozzi schafft dieses Schicksal selbst in der Erziehung dieses Kindes und bezweckt durch seine Dekrete Glück und Vervollkommnung. Das Kind fühlt sich frei, weil es ihm in der allgemeinen Ordnung wohl zu Mut ist, von der es sich umgeben sieht, und deren vollkommene Gleichheit nicht einmal durch die mehr oder weniger ausgezeichneten Talente der einzelnen gestört wird. Die Schüler werden Lehrer, wenn sie mehr wissen, als ihre Kameraden; die Lehrer werden wieder zu Schülern, wenn sie in ihrer Methode einige Unvollkommenheiten finden, und beginnen ihre Erziehung aufs neue, um über die Schwierigkeiten des Unterrichts besser zu urteilen.

Man würde sich in Frankreich sehr irren, wenn man glauben wollte, in Pestalozzis Schule sei außer seiner raschen Methode, im Rechnen zu unterrichten, nichts Gutes weiter zu finden. Pestalozzi selbst ist gar nicht Mathematiker; auch Sprachen hat er nicht studiert. Er besitzt nur das Genie und den Instinkt, die Intelligenz der Kinder zu entwickeln; er weiß, welchen Weg ihr Gedanke verfolgt, um zum Ziel zu gelangen. Jene Reinheit des Charakters, die eine edle Gelassenheit über die Affektionen des Herzens verbreitet, hat Pestalozzi für nötig erachtet, auf die Arbeiten zu übertragen. Er achtet darauf, daß in vollständigen Studien eine moralische Freude steckt.

In der Tat bemerken wir unaufhörlich, daß oberflächliche Kenntnisse eine Art von Hochmut einflößen, der alles, was man nicht weiß, als unnütz oder gefährlich oder lächerlich zurückstößt. Auch sehen wir, daß diese oberflächlichen Kenntnisse die Pflicht auferlegen, das, was man nicht weiß, geschickt zu verbergen. Die Offenheit leidet unter den Mängeln des Unterrichts. Die Redlichkeit also, die Pestalozzi in den Kreis der Intelligenz eingeführt hat, und die mit Ideen ebenso gewissenhaft umgeht, wie mit Menschen – diese Redlichkeit ist das Hauptverdienst seiner Schule; und gerade durch sie versammelt er um sich her Männer, die sich dem Wohlergehen der Kinder auf eine vollkommen uneigennützige Weise widmen. Wenn in einer öffentlichen Anstalt von den persönlichen Berechnungen ihrer Vorsteher keine einzige befriedigt wird, so muß man die bewegende Kraft dieser Anstalt in der Liebe zur Tüchtigkeit suchen.

Huldigen muß man Pestalozzi besonders wegen der Sorgfalt, die er angewandt hat, um sein Institut mit dem Vermögenszustand unbemittelter Personen ins Gleichgewicht zu bringen; er hat die Kosten so gering als möglich angesetzt. Mit großer Standhaftigkeit hat er sich der Armen angenommen, um ihnen die Wohltat reiner Aufklärung und gründlichen Unterrichts zu verschaffen. Pestalozzis Werke sind in dieser Hinsicht eine merkwürdige Lektüre. Er hat Romane geschrieben, in denen die Lage von Leuten aus dem Volke mit vollendetem Interesse, mit Wahrheit und Moralität dargestellt sind.

Da man die Zeichenkunst unter die nützlichen Kenntnisse rechnen kann, so darf man sagen, daß unter allen Erholungskünsten, die in der Pestalozzischen Anstalt erlernt werden, die Tonkunst die einzige ist; eine Wahl, die man billigen muß. Es gibt eine ganze Ordnung von Gefühlen, ich möchte sagen, eine ganze Ordnung von Tugenden, die mit der Kenntnis oder wenigstens mit der Freude an der Musik in Verbindung stehen; es muß für wahrhaft grausam gelten, daß man einen großen Teil des Menschengeschlechtes von diesen Gefühlen ausschließt. Die Antike war der Meinung, die Völker seien durch Musik von der Barbarei befreit worden; in dieser Allegorie liegt ein tiefer Sinn; denn man kann nicht umhin zu glauben, das Band der Gesellschaft sei durch Sympathie oder durch Interesse geknüpft worden.


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