Anne Louise Germaine von Staël
Deutschland
Anne Louise Germaine von Staël

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Die Universitäten

Das ganze nördliche Deutschland ist mit den gelehrtesten Universitäten Europas übersät. In keinem Lande, selbst in England nicht, gibt es so viele Mittel zum Unterricht und zur Vervollkommnung seiner Geistesfähigkeiten. Woran liegt es denn, daß es der Nation an Vollkraft fehlt und daß sie im allgemeinen für schwerfällig und beschränkt gilt, obwohl sich in ihr eine kleine Anzahl von Männern befindet, die vielleicht die geistreichsten in ganz Europa sind? Nicht der Erziehung, sondern der Natur der Regierungen ist dieser seltsame Kontrast zuzuschreiben. Die intellektuelle Erziehung in Deutschland ist vortrefflich; aber sie wird in der Theorie vollendet. Die praktische Erziehung hängt lediglich von der Geschäftsführung ab; nur durch das Handeln gewinnt der Charakter die nötige Festigkeit, um sich in dem Lebenswandel zu leiten.

In Deutschland reicht der philosophische Geist viel weiter, als in irgendeinem anderen Lande; nichts hält ihn auf, und selbst das Fehlen einer politischen Laufbahn, wie nachteilig sie auch der Masse ist, gibt den Denkern um so mehr Freiheit. Aber eine unermeßliche Kluft trennt die Geister der ersten und zweiten Ordnung, weil für die Menschen, die sich nicht zur Höhe der umfassenden Konzeptionen erheben, weder ein Interesse, noch ein Gegenstand der Tätigkeit vorhanden ist. Wer sich in Deutschland nicht mit dem Universum befaßt, hat nichts zu tun . . .

Die deutschen Universitäten haben einen alten Ruf, der um mehrere Jahrhunderte über die Reformation hinausreicht. Seit dieser Epoche verdienen die protestantischen Universitäten den Vorzug vor den katholischen, und aller literarischer Ruhm hängt in Deutschland mit diesen Institutionen zusammen. Die englischen Universitäten haben auf eine ausgezeichnete Weise dazu beigetragen, jene Kenntnis der alten Sprachen und Literaturen zu verbreiten, die den Rednern und Staatsmännern in England eine so liberale und glänzende Erziehung gibt. Es gehört zum alten Geschmack, noch etwas mehr zu kennen als Geschäfte, wenn man diese einmal kennt; und außerdem schließt die Beredsamkeit freier Nationen sich an die Geschichte der Griechen und Römer an. Aber die deutschen Universitäten, obgleich in mancher Hinsicht den englischen sehr ähnlich, unterscheiden sich von diesen in vieler Hinsicht. Die Menge der Studierenden, die sich zu Göttingen, Halle, Jena usw. vereinigten, bildeten beinahe einen freien Körper im Staate; die Reichen und Armen unter ihnen unterschieden sich voneinander nur durch ihr persönliches Verdienst, und die Fremden, die aus allen Winkeln der Welt herbeiströmten, unterwarfen sich mit Freuden einer Gleichheit, die nur durch die natürliche Überlegenheit gestört werden konnte.

Es gab in Deutschland unter den Studierenden Unabhängigkeitssinn; und wenn sie sich nach dem Austritt aus dem Universitätsleben den öffentlichen Angelegenheiten hätten widmen können, so würde ihre Erziehung der Energie des Charakters sehr vorteilhaft gewesen sein. Aber sie traten zurück in die eintönigen und häuslichen Gewohnheiten, die in Deutschland vorherrschen, und verloren allmählich den Schwung und die Entschlossenheit, die das Universitätsleben ihnen eingeflößt hatte, und nichts blieb übrig, als eine ausgebreitete Gelehrsamkeit.

Auf jeder deutschen Universität konkurrierten mehrere Professoren für jeden Zweig des Unterrichts. Auf diese Weise waren die Lehrer selbst von Wetteifer erfüllt. Wer sich für die eine oder andere Laufbahn besonders vorbereitete, es sei die Medizin, das Recht oder was es sonst wollte, fühlte das natürliche Bedürfnis, sich über andere Gegenstände zu unterrichten; und daher rührt die Universalität der Kenntnisse, die man beinahe bei allen gebildeten Männern Deutschlands antrifft. Wie die Geistlichkeit, so hatten auch die Universitäten ihre eigentümliche Ausstattung; sie hatten sogar ihre eigene Gerichtsbarkeit, und es ist eine schöne Idee unserer Väter, daß sie die Erziehungsanstalten ganz unabhängig gemacht haben. Das reifere Alter mag sich den Umständen unterwerfen; aber beim Eintritt in das Leben soll der Jüngling seine Ideen aus einer ungetrübten Quelle schöpfen.

Das Sprachstudium, das die Grundlage des Unterrichts in Deutschland ausmacht, ist in der Jugend der Entwicklung aller Fähigkeiten bei weitem günstiger, als das Studium der mathematischen und physischen Wissenschaften. Pascal, dieser große Geometer, dessen Gedanke über der Wissenschaft, womit er sich beschäftigte, wie über den übrigen allen schwebte – Pascal selbst hat die Mängel anerkannt, die von den Geistern, die sich ausschließlich durch das Studium der Mathematik bilden, unzertrennlich sind; denn dies Studium übt in einem früheren Alter nur den Mechanismus des Verstandes. Die Probleme des Lebens sind verwickelter. Keins ist positiv, keins abgeschlossen; man muß erraten, wählen, und zwar mit Hilfe von Ansichten und Voraussetzungen, die mit dem untrüglichen Gang der Berechnung nichts zu tun haben.

Die erwiesenen Wahrheiten führen nicht zu den Wahrscheinlichkeiten, die in Geschäften wie in den Künsten und in dem Umgang uns allein zu Führern dienen. Es gibt unstreitig einen Punkt, wo auch die Mathematik jene strahlende Macht der Erfindung fordert, ohne die sie nicht in die Geheimnisse der Natur eindringen kann; auf dem Gipfel des Gedankens scheinen sich Homers und Newtons Imagination zu vereinigen. Aber wie viele Kinder ohne Genie für die Mathematik widmen derselben ihr ganzes Leben! Man übt in ihnen nur eine Fähigkeit, während man das ganze moralische Wesen in einer Epoche entwickeln sollte, wo man Seele und Körper durch die übermäßige Stärkung des einzelnen Teils so leicht verdirbt.

Nichts ist weniger anwendbar auf das Leben als ein mathematisches Raisonnement. Ein Satz in Zahlen ist entweder entschieden falsch oder wahr; in allen übrigen Beziehungen vermischt sich das Wahre mit dem Falschen auf eine so wunderbare Weise, daß nur der Instinkt uns zwischen verschiedenen Beweggründen, die auf beiden Seiten bisweilen gleich mächtig sind, zur Entscheidung führen kann.

Die Erziehung, die spielend geschieht, zerstreut den Gedanken. Die Mühe jeder Art ist eins von den großen Geheimnissen der Natur, und der Geist des Kindes muß sich zu den Anstrengungen des Studiums ebenso gewöhnen, wie unser Herz zum Leiden. Die Vervollkommnung der Jugend steht zu der Arbeit in eben dem Verhältnis, wie die Vervollkommnung des reiferen Alters zum Schmerz. Es ist unstreitig zu wünschen, daß Eltern und Schicksal dieses doppelte Geheimnis nicht allzusehr mißbrauchen; aber in allen Fächern des Lebens ist nur das von Wichtigkeit, was auf den Mittelpunkt der Existenz selbst hinwirkt.

Die dem Geiste der Deutschen so natürliche Unparteilichkeit bestimmt ihn zum Studium ausländischer Literaturen, und beim Austritt aus den Schulen weiß man gemeiniglich schon Latein und sogar Griechisch. »Die Erziehung der deutschen Universitäten«, sagt ein französischer Schriftsteller, »beginnt da, wo die Erziehung mehrerer Nationen von Europa aufhört.« Nicht nur sind die Professoren Männer von erstaunlicher Gelehrsamkeit, sondern was sie besonders auszeichnet, ist ein sehr gewissenhafter Unterricht.

In Deutschland betreibt man alles gewissenhaft; und wahrlich, so muß es sein. Wenn man den Lauf des menschlichen Schicksals untersucht, so wird man finden, daß der Leichtsinn zu allem Bösen führen kann. Nur in der Jugend schließt der Leichtsinn einen Zauber in sich; es scheint, als ob der Schöpfer das Kind noch an der Hand hält und es über die Wolken des Lebens sanft hinführt; aber wenn die Zeit den Menschen sich selbst überläßt, so findet er nur noch im Ernste seiner Seele Gedanken, Gefühle und Tugenden.


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