Anne Louise Germaine von Staël
Deutschland
Anne Louise Germaine von Staël

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Deutsche Romankunst

Die große Menge der in Deutschland erschienenen Liebesromane hat den Mondschein, die Harfen, die des Abends im Tale ertönen, und alle die Mittel, durch die man das Gemüt sonst noch einwiegt, ein wenig lächerlich gemacht; bei dem allen ist in uns eine natürliche Anlage, die bei dieser leichten Lektüre ihre Rechnung findet, und die Sache des Genies ist es, sich dieser Anlage zu bemächtigen. Es ist so schön, zu lieben und geliebt zu werden, daß dieser Hymnus des Lebens bis ins Unendliche moduliert werden kann, ohne daß das Herz darüber müde wird. Auf gleiche Weise kommt man immer auf einen Gesang zurück, der durch glänzende Noten verschönert ist. Ich mag indes nicht leugnen, daß selbst die allerreinsten Romane einem schlecht bekommen können; sie haben uns von den innersten Geheimnissen unseres Herzens allzu viel aufgedeckt. Man kann zuletzt nichts mehr fühlen, ohne sich zu erinnern, daß man es bereits gelesen hat, und alle Schleier des Herzens sind zerrissen. Von den auf unsere Gefühle und unsere Sitten gegründeten Romanen könnten mehrere angeführt werden; allein keiner reicht an den Werther, der in der Tat nicht seinesgleichen hat. Man sieht, was Goethes Genie hervorbringen konnte, als er noch von Leidenschaft voll war. Es heißt, daß er auf dieses Werk seiner Jugend wenig Wert lege; jene Glut der Phantasie, die ihn für den Selbstmord beinahe begeistert hatte, mag ihm jetzt tadelnswert scheinen.

Die philosophischen Romane haben seit einiger Zeit bei den Deutschen allen übrigen den Rang abgelaufen. Sie haben indes keine Ähnlichkeit mit den französischen in dieser Gattung. Das heißt: sie sind nicht eine allgemeine Idee, die man durch ein Faktum in Form eines Apologs ausspricht, sondern ein ganz unparteiisches Gemälde des menschlichen Lebens; ein Gemälde, in dem kein leidenschaftliches Interesse vorherrscht. Verschiedene Situationen folgen sich in allen Rangordnungen, in allen Ständen und in allen Umständen, und der Schriftsteller ist da, um sie zu erzählen. So hat Goethe seinen Wilhelm Meister gedacht; ein Werk, das in Deutschland sehr geschätzt wird, sonst aber wenig bekannt ist. Wilhelm Meister ist voll von scharfsinnigen und geistreichen Erörterungen; man könnte daraus ein philosophisches Werk ersten Ranges machen, wenn sich nicht eine Roman-Intrige einmischte, deren Anziehungskraft nicht aufwiegt, was darüber verloren geht. Man findet darin sehr feine und sehr umständliche Schilderungen einer gewissen Klasse der Gesellschaft, die in Deutschland weit zahlreicher ist als in allen andern Ländern; eine Klasse, in der sich Künstler, Schauspieler und Abenteurer mit Bürgern, die ein unabhängiges Leben lieben, und mit großen Herren, welche die Künste zu beschützen glauben, vermischen. Besonders betrachtet, ist jedes dieser Gemälde bezaubernd; aber in dem Ganzen des Werks gibt es kein anderes Interesse als das, die Meinung Goethes über jeden Gegenstand zu erfahren.

Eine reizende Episode windet sich mitten durch diese Personen hindurch, die geistreicher sind als bedeutend, diese Situationen, die weniger hervorstechend als natürlich sind, und vereinigt in sich, öfter im Buche wiederkehrend, alles Interesse, das nur Goethes Talent durch Wärme und Eigentümlichkeit hervorzubringen vermag. Ein junges, italienisches Mädchen ist ein Kind der Liebe. Seiltänzer entführen sie, die von ihrer Geburt an schutzlos war, und unterweisen sie bis ins zehnte Jahr in den elenden Spielen, womit sie ihre Nahrung erwerben. Gerührt von den Mißhandlungen, die das Mädchen erduldet, nimmt sie Wilhelm in den Knabenkleidern, die sie immer getragen hat, in seinen Dienst, und nun entfaltet sich in diesem außerordentlichen Wesen eine wundersame Mischung von Kindlichkeit und Tiefe, von Ernst und Phantasie. Leidenschaftlich, wie die Italienerinnen, schweigsam und ausharrend wie nachdenkliche Charaktere, scheint das Wort nicht ihre Sprache zu sein. Die wenigen Worte, die sie dennoch redet, sind feierlich und entsprechen Gefühlen, die viel gewaltiger sind als ihr Alter, und deren Geheimnis sie selber nicht besitzt. Sie hängt an Wilhelm mit Liebe und Ehrfurcht, sie dient ihm wie ein treuer Knecht, und liebt ihn, wie ein leidenschaftliches Weib. Es scheint, daß sie, in ihrem stets unglücklichen Leben, die Kindheit nie gekannt hat, und daß ihre Leiden im natürlichen Alter der Freude ihr Dasein einem einzigen Gefühl widmen, in welchem das Schlagen ihres Herzens anhebt und aufhört. Mignon ist geheimnisvoll wie ein Traum, sie ergießt ihre Sehnsucht nach Italien in entzückende Verse, die jedermann in Deutschland auswendig weiß. »Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?« Endlich zerbricht die Eifersucht, ein für dies so zarte Wesen zu gewaltiges Gefühl, das arme Kind. Man müßte jeglichen Zug dieses unvergleichlichen Bildes wiedergeben, um den ganzen Eindruck, den es hervorbringt, verständlich zu machen. Man kann sich nicht ohne Rührung die geringsten Bewegungen dieses jungen Mädchens denken. In ihr liegt, ich weiß nicht, welcher Zauber der Einfalt, der Abgründe des Gedankens und des Gefühls ahnen läßt. Es ist, als höre man in der Tiefe ihrer Seele den Sturm erbrausen, selbst da, wo kein Wort, kein Wink, der unaussprechlichen Bangigkeit, die wir um sie fühlen, Grund zu geben scheint.


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