Anne Louise Germaine von Staël
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Anne Louise Germaine von Staël

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Das Rätsel der Welt

Das Rätsel der Welt ist der Gegenstand vieles vergeblichen Nachsinnens für eine große Zahl von Männern gewesen, die der Bewunderung nicht unwert waren, weil sie sich zu etwas Besserem berufen fühlten, als diese Welt ist; Geister höherer Art schwärmen unaufhörlich um den Abgrund endloser Gedanken. Dennoch muß man sich davon wegwenden; denn der Geist ermüdet vergeblich in diesen Anstrengungen zur Bestürmung des Himmels.

Der Ursprung des Gedankens hat alle wahre Philosophen beschäftigt. Gibt es zwei Naturen im Menschen? Und wenn es nur eine gibt: ist es der Geist oder die Materie? Gibt es deren zwei, stammen die Ideen von den Sinnen her, oder entspringen sie aus unserer Seele, oder sind sie das zusammengesetzte Produkt der Tätigkeit äußerer Gegenstände auf uns hin, und der inneren Fähigkeiten, die wir besitzen?

An diese Fragen, die zu allen Zeiten die philosophische Welt entzweit haben, ist die Forschung gebunden, welche die Tugend unmittelbar berührt, ob Verhängnis oder freier Wille die Beschlüsse des Menschen bestimmen.

In der Antike rührte das Verhängnis von dem Willen der Götter her; die Neueren schreiben es dem Lauf der Dinge zu. Bei den Alten weitete das Verhängnis den freien Willen; denn der Wille des Menschen kämpfte an gegen die Schickung und der moralische Widerstand war unüberwindlich. Das Verhängnis der Neueren hingegen zerstört den Glauben an den freien Willen; denn wenn die Umstände uns zu dem machen, was wir sind: so können wir uns ihrem Übergewicht nicht entgegenstemmen; wenn die äußerlichen Gegenstände die Ursache alles dessen sind, was in unserer Seele vorgeht – welcher unabhängige Gedanke sollte uns dann von ihrem Einfluß befreien? Das vom Himmel kommende Verhängnis erfüllte die Seele mit einem heiligen Schrecken, während das Verhängnis, das uns an die Erde knüpft, uns nur herabwürdigt. »Aber wozu alle diese Fragen?« wird man sagen. Wozu alles andere, was diese Gegenstände nicht angeht? – könnte man antworten. Denn was ist wichtiger für den Menschen, als zu wissen, ob er wirklich die Verantwortlichkeit für seine Handlungen trägt, und in welchem Verhältnisse die Macht seines Willens zu der Herrschaft steht, welche die Umstände ausüben? Was würde das Gewissen sein, wenn es seine Entstehung unseren Gewohnheiten verdankte, wenn es in sich selbst nichts weiter wäre, als das Erzeugnis der Farben, der Töne, der Düfte, kurz aller der Umstände, womit wir von Kindesbeinen an umgeben gewesen sind?

Die Metaphysik, die darauf ausgeht, die Quelle unserer Ideen zu entdecken, hat in ihren Folgen den mächtigsten Einfluß auf die Natur und die Stärke unseres Willens. Sie ist zugleich die höchste und die notwendigste unserer Erkenntnisse, und die Anhänger der höchsten Nützlichkeit, der moralischen Nützlichkeit, dürfen sie nicht verschmähen.


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