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So wie der Haufe des neugierigen Pöbels vor dem Hause der Deutschen Herren stand und die geschlossene Thüre angaffte, sammt den Söldnern des Raths, die vor derselben auf der Lauerwache standen, also auch die Menge des Volkes vor dem Klosterthore der weißen Frauen, nachdem man Wallraden hineingetragen hatte, blutig und entstellt. Wie ein Blitz hatte die Schreckenskunde Diether's Haus erreicht. Der Altbürger war abwesend und Margarethe, allen Groll vergessend, nur der Stimme des Mitleids und weiblicher Milde Gehör gebend, die in ihrem Herzen laut wurde, flog auf den Flügeln des Schreckens nach dem Kloster, um wo möglich Wallraden vor ihrem Hintritt noch zu sehen, ihr den Tod leichter zu machen durch die Versöhnung. Die Zelle, die Wallrade als Gast des Klosters bewohnte, war gedrängt voll von Menschen. Um das von Blut geröthete Lager standen dienende Frauen des Klosters . . . Gundel kniete zu Häupten des Bettes und flehte zum Himmel, daß er ihr nicht den Tod der Gebieterin anrechnen möge; zu den Füßen des Bettes lag Willhild auf den Knieen und betete, ohne ihren Lippen einen Stillstand zu gönnen. Die Oberin des Klosters, die stolze Walburg, die innige Freundin Wallradens, war beschäftigt, mit ihren kunsterfahrenen Händen, die Wunde der Bewußtlosen zu untersuchen und Judith, die Magd, half ihr bei diesem mühsamen Geschäfte, in der Ecke aber stand Dagobert mit blassem Angesichte, die kleine Agnes noch auf dem Arme und im Auge den trostlosen Anblick einer sterbenden Schwester, gegen welche er jeden Zorn verschwunden fühlte. Dankbar reichte er Margarethen die Hand, da sie zu ihm trat. »Gott vergelte Euch den guten Herzenswillen, ehrsame Frau,« sprach er, »Ihr verschmäht es nicht, einer in den Staub Gefallenen Euch zu nahen und zum Frieden zu reden, wie mir' s Euer himmelklares Angesicht sagt. Ich fürchte jedoch – Ihr kommt zu spät. Dennoch aber,« setzte er leiser hinzu, auf Willhild deutend – »dennoch früh genug, um diese hier zu sehen.«
Margarethe erbleichte jählings, da sie das gefürchtete Weib ersah und näherte sich demselben. Mit gepreßter, kaum vernehmbarer Stimme, fragte sie die Hochaufschauende, wie sie daher gekommen und welcher Endzweck sie zu Wallraden geführt habe. – »O, liebe Frau,« entgegnete Willhild, »ich habe gelernt, wie nichts besser sei, denn Wahrheit. Konnte diejenige, die dort verscheidet, mir die Wahrheit abschwatzen mit Lug und List, warum sollte ich sie nicht öffentlich bekennen? Erschrocken, daß ich Eurer Stieftochter, in Krankheitsangst und von meinem blödsinnigen Manne versucht, entdeckt, was ich nicht entdecken sollte, fürchtete ich Euren Anblick, und da mein Paul wieder heimkam und mir glaublich wurde, daß er Euren Gemahl selbst gesprochen, daß dieser um Alles wußte und fürchterlich strafen würde, da ward ich plötzlich gesund von dem Gebreste. Die Angst hatte mich geheilt und mein Herz sehnte sich nach Compostell, um dort Vergebung meiner Sünden zu holen. Aber aus einem Kloster auf der Grenze von Elsaß sandte man mich zurück. Der Prior versagte mir jeden Beistand zur weitern Pilgerfahrt, wenn ich nicht heimkehren, selbst Alles reuig bekennen würde und Vergebung erhielte. Meinen Mann zurücklassend eilte ich zurück und gelangte heute hieher. Wie hätte ich ohne Schutz vor Euer Antlitz treten können, vor Euch, die ich verrathen? Eine Fürsprecherin glaubte ich in dem Fräulein zu finden, das ein bedauernswerter Zufall mir in den Gassen der Stadt begegnen ließ. Wallradens Freude über mein Erscheinen war außerordentlich. »»So mögen sie denn Alle mich Lügen strafen!«« sagte sie recht hämisch. »»Ich habe hier den besten Zeugen gefunden und aus dem Hause soll mir die Frau und der Bube. Kommt mit, Willhild. Seid herzhaft und dreist und Euer Schade soll's nicht sein.«« – Nun merkte ich wohl, daß ich vor die unrechte Schmiede gerathen war, allein hier half keine Widerrede. Angstvoll der Dinge wartend, die da kommen würden, folgte ich Eurer Stieftochter, als mit einem Male das Unglück in dem wahnsinnigen Mönche einherraste.«
»Und was gedenkst du jetzt zu thun?« fragte Margarethe forschend. – »Ich muß Herrn Diether Alles bekennen, ehrsame Frau,« versetzte Willhild. »Sie sprechen mich sonst nicht los zu Compostell. Aber Euch, die ich so sehr getäuscht, will ich überlassen, wann es geschehen soll.« – Dagobert winkte Margarethen zu und sie verstand den gutgemeinten Wink. – »Ich rufe dich,« sagte sie zu Willhild, die sich sofort wieder zum Beten anschickte und ging an das Bett der unglücklichen Wallrade. »Gesegnet sei der Herr,« sprach soeben Walburga, »noch lebt die Aermste und heilbar scheint mir die schwere Wunde.«
Alles drängte sich dem Lager näher, um zu sehen, wie stufenweise das Leben wieder in die Glieder der Verwundeten trat, um zu hören, wie endlich das erste Wort aus ihrem Munde ging, dem alsdann wieder der erste Blick folgte. Doch das Auge Wallradens schloß sich wie geblendet vor den Zügen Margarethens und die Scham jagte eine flüchtig vergehende Röthe auf die todtenfarbigen Wangen des Fräuleins. – »Warum nicht todt?« stammelte ihr Mund, »warum gerade diese vor meinen Augen?« – Die Oberin entfernte die Frauen des Klosters. Nach ihnen entfernte sich auch Judith, die sich erinnerte, daß sie über dem greulichen Mordschauspiele vergessen hatte, der armen Frau, die im Kloster eingesperrt war und gehalten wurde, wie eine Wahnsinnige, ihre Kost zu bringen.
Das Versäumte eilte die Mitleidige nachzuholen, ließ sich von der Küchenmeisterin Speisen und Schlüssel geben und trat zu der abgehärmten Frau in die dürftige und wohlverwahrte Klause. – »Seid nicht böse,« redete sie so sanft als möglich und versuchte ihre unschönen Züge durch Freundlichkeit gefälliger zu machen. »Seid nicht böse, liebe Frau Katharina. Ich bin ein vergeßlich Ding, das allenthalben seine Hände bieten möchte und dabei immer Einem oder dem Andern ein Leid thut. Mir thut es herzlich weh', daß Ihr gehungert habt um meinetwillen. Vergebt mir.« – »Ach, was bist du eine gute, treue Magd,« erwiderte Katharina wehmüthig und freundlich, richtete sich aber nicht empor aus der nachdenkenden Stellung, in welcher sie von Judith gefunden worden. »Habe Dank! beruhige dich. Mich hungert nicht . . . denn wie sollte ich in meinem Elend mich erinnern, daß ich ein Weib bin, das noch fürder zu leben gedenkt? Sage mir, liebe gute Judith, ob noch keine Frau nach mir gefragt hat . . . ob noch kein Kind gebracht worden ist, das ich umarmen soll?«
Judith verneinte bekümmert lächelnd, denn sie meinte, die Frau spräche wieder im Wahnsinn. – »Das ist doch recht traurig,« sprach Katharina weiter, und das Haupt ließ sie in ihre Hand sinken, wie die hellen Thränen aus den Augen. »Sieh', Judith, sieh', das wird mich wahnsinnig machen, wenn ich's nicht schon bin. – Und sie hatte mir's so heilig gelobt!« setzte sie, vor sich hinredend hinzu: »und sie bleibt aus mit meinem Kinde.« – »Esset doch, gute Frau!« ermahnte Judith. »Es segne der Herr Eures Körpers Gedeihen und zugleich das Licht Eures Hauptes.« – »Laß' mich doch,« versetzte Katharina schwermüthig. »Glaubst denn du auch, daß ich thöricht im Gehirn bin? O, leider habe ich meinen Verstand und wenn ich nur sagen dürfte, wer ich bin und wenn meine Freundin käme und sähe, wie man hier mit mir verfährt, grausam wie mit einem wilden Thiere . . . dann sollte Alles anders werden. Aber wo wird sie sein, die Zeit? Wo sind sie, meine Lieben?« – »Wehrt doch Euren Thränen, Frau,« ermahnte Judith. »Das Wasser des Auges hilft nie zu dem, was es verloren hat.«
»Verloren?« fragte Katharina schnell. »Wahrlich, wahrlich, du hast recht; ach, nimmer kehrt das Verlorene wieder. Glaube mir doch ja,« setzte sie langsamer und schwermüthig hinzu, »daß ich nicht wahnsinnig bin und sage es der hochwürdigen Frau Walburg, ich könnte aber verwirrt im Haupte werden, wenn man mich fürder zwingen möchte, mit meinem Schmerz und meiner ungewissen Angst allein zu sein. Erzähle mir aber jetzt meine gute Magd, wie es kam, daß du heute so lange weggeblieben?«
Judith erzählte, was vorgefallen war, aber mit vieler Vorsicht, um das Gemüth der Seelenkranken nicht allzu heftig zu erschüttern. Gleichgültig fast fragte endlich Katharina nach dem Namen der zum Tode verwundeten und Judith glaubte, ihr ihn nicht verhehlen zu müssen. Nun war es aber gerade, als ob alle Flammen der Leidenschaft aus der schmermüthigen Frau von der Rhön schlügen, denn sie fuhr auf, daß selbst die herzhafte Judith erschrecken mußte. »Wallrade!« rief sie, »Wallrade? o bittre, allzu bitt're Täuschung! Sie hat in diesen Mauern gelebt und ließ mich im Kerker? . . . Auf ihren Befehl liege ich also hier in Ketten? O, der Greuelstunden meines Lebens schrecklichste komme über ihr Haupt! Doch nein, nein . . .« setzte sie gemäßigter hinzu; »hat sie denn Gottes Gericht nicht schon getroffen? Fluche ihr nicht, Katharina, aber fluche auch deinem Gatten nicht, dessen Leumund die Schlange gewiß nur vergiftet hat, um meine Ruhe zu morden! – Ach, welche Erinnerung thut sich mir auf beim Angedenken meines Gatten! Judith! Judith! denke dir den Jammer einer Mutter! Hilf mir heraus aus diesem Kerker – hinaus zu der Sterbenden . . . denn ich muß mit ihr reden . . . ich muß sie sehen . . .« – »Gute Frau« – entgegnete Judith, welche noch immer auf dem Glauben an Katharinens Wahnsinn beharrte und in ihrem Schmerz nur einen heftigen Anfall der Krankheit sah: »Faßt und mäßigt Euch . . . ich vermag nicht, was Ihr begehrt, und zudem ist es leider gewiß schon zu spät. Wallrade lebt gewiß nicht mehr.« – »Barmherziger Gott!« kreischte Katharina gräßlich auf. »Sie lebe nicht mehr? Was sagst du, Unselige? Das kann nicht sein! Sie darf nicht todt sein . . . Sie muß mir ja sagen, wo mein Kind hingekommen ist . . . ich bin ja Agnesens Mutter . . . sie darf mir ja nicht verhehlen . . . O, um Gottes willen, Judith! Judith! laß' mich fort an ihr Sterbelager.«
Judith suchte vergebens, die gegen jeden ferneren Zwang rüstig Aufstrebende zurückzuhalten . . . die Gewalt ihrer Hände gegen die Unglückliche zu gebrauchen, weigerte sich ihr Mitleid, welches die Möglichkeit, daß hier nicht Wahnsinn sowohl als endloses Leid die Sprache führen möge, gar wohl ahnte. Sie war daher auf dem Punkte, dem ihr auferlegten Gebote zum Trotz, die als thöricht Eingesperrte dahin zu lassen, wohin ihrer ganzen Seele Sehnsucht strebte, als Walburg's Eintritt sie aus der Verlegenheit riß. Das Gesicht der strengen, unerbittlichen Oberin war finster und trug die Spuren einer unangenehmen Bewegung. Sie trat langsam vor Katharinen hin, betrachtete die in Schmerz Vergehende und schüttelte ernst das Haupt. – »Ich bin arg hintergangen worden,« sagte sie alsdann – »oder aus der Verwundeten spricht die Glut des Fiebers. Wahr soll es sein, daß Ihr Eure Vernunft besitzt, daß Ihr nicht wahnwitzig geworden über den Tod eines Kindes . . .?«
»Mein Kind lebt!« fiel Katharina ein, »hochwürdige Frau! um Gottes willen, mein Kind lebt, sagt mir nicht anders. Ich will Euch ja von Herzen vergeben, was Ihr Böses an mir gethan. Ihr wart hintergangen, gleich mir; der Satan hatte Euch umstrickt . . . aber damit ich Euch verzeihe, sagt mir nur nicht, daß mein Kind todt ist. Sie wird es doch nicht gemordet haben, die Abscheuliche? Sagt nicht »Ja«, würdige Frau. Des Kindes Vater hat sie in's Elend getrieben . . . sie wird doch nicht das Töchterlein erwürgt haben?« – »Nein, nein, ehrsame Frau,« antwortete Walburg zuversichtlich. »Dieses Kind lebt, ich will es Euch zeigen sogar, in Eure Arme es legen, denn diese Mutterangst ist nicht Tollheit, und ich fürchte, ich habe mich sehr versündigt an Euch. Kommt mit mir, arme Frau, und bringt ein versöhnlich Herz zu der Todkranken, damit sie nicht auf ihren Sünden hinab, sondern auf ihrer Reue zum Himmel steige.« – Ohne ein Wort zu erwidern, folgte Katharina der Oberin. Mit versöhnlichem Herzen und mit dem aufrichtigsten Willen, zu vergeben, betrat Katharina an Walburg's Hand Wallradens Zelle, aber nur einen schmerzlichen Blick warf sie auf die Todtbleiche, die soeben von Margarethen und Willhild aus einer Ohnmacht geweckt wurde – und zustürzte sie auf die kleine Agnese, die von Dagobert's Armen ihr entgegenlächelte und jauchzte. Die im Entzücken versunkene Mutter hatte keinen anderen Gedanken von da an, als ihr Kind, kauerte sich mit demselben in einen Winkel, koste mit ihm, herzte es, machte tausend Fragen an seinen geschwätzigen Mund und vergaß Alles um sich her. Wallraden, die wieder zu sich gekommen war, that es wohl, von der Mißhandelten nicht angeredet zu werden und sie fuhr in der offenen Beichte fort, die sie schon früher gegen Margarethen begonnen hatte – von der kurzen Bewußtlosigkeit unterbrochen. »Es ist hart,« lispelte sie, »daß ich um mich nur Menschen sehen kann, denen ich weh' gethan, die ich hinterging. Das Schwert des Mörders hat der Reue eine fürchterliche Bahn in meinem Busen gemacht und nur Eure Gegenwart, Margarethe, Eure Milde ist Arznei für mich. Die ich am meisten haßte, stehen bei mir . . . die Andern verließen mich. Laßt mich endigen, Stiefmutter; laßt mich Eurer freundlichen Sorge das Kind empfehlen, das von mir ausgestoßen wurde und alles Unheil in Euer Haus und über Andere brachte . . . der unschuldige Knabe. Ich hatte nie ein Mutterherz, ich habe nie das Kind geliebt, dessen Vater ich haßte. Ich überließ dem, der mich verlassen, den Knaben nicht, damit er keine Freude an ihm erleben sollte; ich mißhandelte den Buben, weil ich in ihm des Vaters Ebenbild zu demütigen glaubte, ich stieß ihn hinaus in die Welt, weil mir endlich sein Anblick unerträglich wurde, da sich in seinem Gesichte, durch Zufall oder geheimen Zusammenhang der Blutsfreundschaft, die Züge des verabscheuten Bruders entwickelten. Gundel und Rüdiger waren Zeugen meiner That und der unverfälschlichste ist der Knabe selbst, denn Er ist Euer kleiner Johannes.«
Staunend schlug Margarethe die Hände zusammen und versank in düsteres Nachdenken. – »Laßt ihm nicht entgelten, was seine Mutter verbrach . . .« flehte Wallrade. »Stoßt ihn nicht von Euch, wie ich gethan . . . Dagobert . . . sei du des Knaben Schirm. Ach, der Vater wird ihn ja nicht ganz verlassen, denn er hat mich Unwürdige ja einst geliebt, obschon sein Zorn ihm jetzo nicht erlaubt, an meinem Todtenbette zu stehen. Dagobert! sorge du für den kleinen Hans! Versprich es mir!« – »Ich gelobe,« antwortete Dagobert, Wallradens Hand fassend – »des Knaben Freund und treuer Ohm zu sein; ihn nimmer zu verlassen und zu halten wie einen Sohn.« – »Das erheitert mein schrecklich Ende,« flüsterte Wallrade, dann setzte sie mit erhabener Stimme hinzu: »O, meine Lieben und Freunde! könnte ich Euch doch eine Hoffnung zurücklassen zum Ersatz für all das Böse, das ich Euch in Wirklichkeit gethan. Vergebens werdet Ihr das Kreuz auf dem Grabe Eures Söhnleins suchen. Willhild's Angst vor der gerechten Strafe ihrer Unvorsichtigkeit wälzte eine Schuld auf sie, die alles Andere nach sich zog. Johannes starb nicht bei ihr!« – »Nicht?« rief Margarethe heftig aus und beugte sich tiefer zu Wallradens Lippen. »Hab' ich auch recht vernommen? Johannes starb nicht? Um Gottes willen! Willhild, was soll das bedeuten?«
Willhild drückte furchtsam schluchzend das Antlitz in die Kissen des Lagers; Wallrade versuchte vergebens zu sprechen; Dagobert jedoch ergänzte mit vorsichtiger Kürze das Mangelnde. »Rüdiger, der Knecht,« sprach er, »hat mir im Sterben gestanden, was er dem Manne Willhildens entlockt hatte; der Knabe kränkelte sehr und war nahe dem Versiechen, da rief eines Tages ein nothwendig Feldgeschäft Willhild und Paul zur Bestellung außerhalb der Hütte. Das freundliche Spätherbstwetter bewog die Pfleger, den ihnen anvertrauten Sohn nicht in der Hütte einzusperren, wie sie sonst wohl gethan, wenn sein überhandnehmendes Gebreste es verhinderte, ihn mit auf's Feld zu nehmen. Sie ließen dem Buben Wies' und Gärtlein frei und da sie von der einsamen Wohnung gingen, hatte sich das kranke Kind in den Sonnenschein auf eine kleine Bank gelagert, die am Gehege stand, und war eingeschlummert vor Schwäche. Die Leute blieben stehen vor dem Knaben, und das Herz wurde ihnen weich beim Anblicke des abgemagerten Gesichts und Körperleins. Sie breiteten ein Tüchlein über sein Antlitz und begaben sich hinweg. Da sie aber wieder zurückkehrten, war der Bube nicht mehr da und nicht in Haus und Hof, nicht auf Wies' und Feld zu finden und bis auf den heutigen Tag ist nirgends eine Spur von ihm anzutreffen gewesen.«
Dagobert schwieg und der Schmerz der Mutter nahm nun das Wort: »O, wie erneuert diese Erzählung blutende Wunden!« klagte sie. »Wie doppelt fühle ich jetzt den Gram um meinen Einziggebornen! Bis jetzt glaubte ich ihn in kühle Erde versenkt, im geweihten, christlichen Grabe, und jetzt muß ich befürchten, daß ihn ein wildes Thier hinweggetragen, das herabgekommen ist von des Heynreichs waldigem Rücken. Willhild! Willhild! Was hast du auf dem Gewissen, Unglückliche? Und ist Alles wahr, was ich vernommen?«
Willhild vermochte nur stumm den Kopf zu neigen und brach in lautes Weinen aus. Wallrade winkte ebenfalls bekräftigend und faltete die Hände, wie um Vergebung für die reuevolle Pflegerin zu bitten. – »Das hat lange auf meiner Brust gelastet,« begann Dagobert, »und ich konnte mich nicht überwinden, es zu entdecken, aber das Unglück schenkt dem Menschen nichts. Faßt Euch daher, gute Mutter, und setzt Eure Zuversicht auf Gott, wie Ihr auf diese arme Frau keinen Groll werft, sondern das Mitleid Eurer Seele.« – »Dann sterbe ich leichter,« sprach Wallrade, die wieder zu Kräften gekommen war; »ruhiger, unter Verzeihenden eine Vergebende, denn ich nehme alle Schuld von meinem Mörder, dem unglücklichen von der Rhön.«
»Von der Rhön?« fragte Katharina, aus ihrem zärtlichen Kosen mit dem Kinde aufschreckend; »was ist mit ihm? Wallrade, ich beschwöre Euch bei der Barmherzigkeit Gottes . . . wo ist der, dessen Namen Ihr nanntet? Auch dieses lallende Kind nannte ihn . . . was soll ich glauben, was werde ich hören? Redet . . . nur ein Wort, mein Fräulein, wo ist mein Gatte, was geschah mit ihm?« – Wallrade schlug die Augen gen Himmel, blickte dann fragend nach der Aebtissin, im Begriff zu reden. Walburg raunte jedoch befehlend in das Ohr der Verwundeten: »Schweigt . . . laßt mich der Schwerbedrängten antworten, damit die Kunde von der Wahrheit sie nicht tödte in unserer Mitte. – Euer Gatte lebt,« sprach sie hierauf zu der gespannten Zuhörerin. »Noch mehr, Ihr werdet ihn sehen; macht Euch gefaßt, ihn nicht im Schoße des Glücks zu finden . . .« – »Des Glücks?« fragte Katharina rasch entgegen. »Hochwürdige Frau . . . wie könnte Bilger glücklich sein ohne die, die ihn lieben? Ach, möchte er in Armut und Dürftigkeit darniederliegen . . . mein Anblick, der Anblick seines Kindes wird ihm willkommen sein. Gott! Alles will ich thun, Alles leiden, Hunger und Pein mit ihm leiden, wenn ich ihn nur sehen, in seiner Nähe sein kann; denn so wie ich, liebt ihn keine Andere, so hat ihn jene sicher nicht geliebt, der er gehuldigt, bevor er mir die Treue gelobte.« – Wallrade zuckte schmerzhaft zusammen. Walburg versetzte: »Ueber die Vergangenheit, gute Frau, laßt uns einen Schleier werfen. Verlaßt Euch indessen darauf: Euern Gatten sollt Ihr sehen. Vielleicht schon morgen, vielleicht noch heute Abend. Bleibt aber ruhig jetzt und geht auf Eure Zelle mit Eurem Kinde. Ihr sollt wohl gehalten sein, denn ich will mein Unrecht gut machen; betet aber für diese im Todeskampf Leidende!«
Dagobert glaubte, indem er einen Blick auf der Schwester Antlitz warf, daß sie schon verschieden sei, doch Margarethens Ohr hörte das fast unmerkbare Athmen ihrer wunden Brust und winkte Allen, stille zu sein. Dieser Schlummer, der die Arme befallen, schien derjenige, der oft dem allerletzten Schlummer, in welchem der Odem erlischt, vorausgeht. Katharina entfernte sich mit ihrer kleinen Agnes, um in der Hoffnung des Wiedersehens zu schwelgen; Walburg betete bei dem Lager der Freundin. Dagobert saß neben ihr, wie ein treuer Wächter. Margarethe, nachdem sie eine kleine Weile überlegte, flüsterte zu Dagobert: »Bleibt Ihr, mein guter Sohn; ich kann sie nicht verscheiden sehen. Ich gehe, meine längst versäumte Pflicht zu erfüllen und vor Diether's Augen die Wahrheit zu enthüllen. Weh' mir, daß mein Wankelmuth bis jetzt das Geständnis verzögerte; bis jetzt, wo es ein entsetzliches Verhängnis aus meinem Busen reißt. Komm', Willhild, komm', von diesem Sterbelager müssen wir rein gehen, und nur zu den Füßen meines Herrn ist jetzt unsere Stelle.« – »Gott segne Euren Weg!« erwiderte Dagobert. »Es wird hell in unserem Hause werden und nur zu beklagen ist's, daß hier Nacht werden muß, damit es dort tage. Geht mit Zuversicht und Muth; ich fürchte, ich werde auch bald folgen können.« – Er warf einen besorgten Blick auf die schwer athmende Schwester. Margarethe zerdrückte eine Thräne im Auge und schlug ein großes Kreuz über die Leidende. Willhild, die sich mit einem Seufzer von der Erde erhob, besprengte Wallradens Lager mit einigen Tropfen Weihwasser und wankte der schnell davonschreitenden Altbürgerin nach.
So still ihr Gang durch die Straßen war, so still war ihr Empfang zu Hause. Herr Diether bemerkte kaum, in sein Leid versunken, die Eintretenden. Gleichgültig sah er auf Willhild's bebende Gestalt, aber mit erzwungener Ruhe fragte er Margarethen: »Ihr kommt von ihr? Sie ist hinüber?« – Die Gattin schüttelte den Kopf und sagte, mit geheimer Angst, wie sie denn wohl das harte Bekenntnis einleiten möchte: »sie lebt noch, mein werther Herr und sie hoffte, Euch an ihrem Bette zu sehen, als ein versöhnter Vater.« – »Zerreißt mir ihr Tod nicht das Herz?« fragte Diether mit ausbrechender heftiger Wehmuth. »Ist sie denn nicht meine Tochter? Ich bin ein Mensch, ein alter Mann von rauhen Sitten, aber meine Brust ist nicht fühllos. Bei meinem scheidenden Kinde zu verweilen, wäre mir eine heilige Pflicht, könnte ich mit ganz reinen, ungemischten Gefühlen die Tochter wiedersehen. Aber, mit dem Mitleid würde der Groll kämpfen, mit dem Segen der Fluch, und besser ist's, ich bleibe weg von ihr, als daß mir in ihrem letzten Stündlein wieder in ihrer Nähe beikäme, was sie gegen mich, gegen uns verbrochen hat.«
Margarethe wollte in seine Rede fallen, aber Diether gab es nicht zu. – »Kein Wort zu ihrer Vertheidigung,« sprach er heftig; »verzeihen kann ich ihr, segnen will ich sie, aber nicht selbst ihr das Wort der Vergebung bringen, aber nicht vergessen, daß sie es war, die alles Elend über uns gebracht, daß sie das Kind uns gestohlen, um es dem Jammer hinzuwerfen, wie ein armes, junges, blindes Thier in den reißenden Strom!« – »O, Herr,« rief Margarethe, seine Knie umfassend, »hemmt doch Euren Groll, hemmt doch Euren Zorn. Wallrade hat viel verbrochen, aber unschuldig ist sie an diesem Vergehen.« – »Unschuldig!« wiederholte Diether und sah mit Bestürzung, wie auch Willhild sich heulend vor ihm niederwarf und nun aus dem Munde der Frauen ein Bekenntnis zu Tage stieg, das sich der alte Mann nicht hätte träumen lassen. Und da er hörte, wie er hintergangen und wie diese schnöde List der Anfang alles Unglücks seines Hauses gewesen, da empörte sich sein Gemüth; das Blut wallte siedend auf in seiner Brust und in seinem Gehirn. Der gewohnte Ungestüm wollte hervorbrechen aus den kaum geschmiedeten Fesseln; verstoßen wollte er die schuldige Gattin, der strengsten Strafe überliefern ihre Mithelferin; aber ein Augenblick gestaltete sein Inneres anders. Margarethe, in ihrer Reue schöner noch, als an dem Tage, da sie in Diether's Hause einzog – eine siegreiche Braut – sah auf zu ihm aus der Vernichtung, in welcher sie vor ihm lag. Alle Engel des Erbarmens schienen um sie her im Kreise auf den Knien zu liegen vor dem zürnenden Greise und seiner stürmischen Seele Friede zuzufächeln mit ihren goldnen Schwingen. Der Zauber, der über des Kindes, wie über des Alten veränderlich Gemüth eine strenge Herrschaft übt, wirkte auch hier. Gegen die entwaffnete Buße hatte er nur Rührung zu stellen; wiederkehrende Liebe und all' diese Gefühle wurden geheiligt durch eine erhebende Ahnung der ewigen, unabänderlichen Vorsehung. So konnte es denn geschehen, daß sein Grimm plötzlich vernichtet dahinfiel, daß wehmüthige Freundlichkeit über seine Züge schlich, und daß die Hand, die vor einem Athemzuge noch die vor ihm Knieende hinwegstoßen wollte, dieselbe jetzo aufhob, wie ein Vater das liebe Kind aufhebt. – »Steht auf, meine Ehefrau,« sprach er gütig und siegreich im Kampfe der Leidenschaft. »Ihr habt mir so Vieles zu vergeben, daß ich, obgleich schmerzlich aus der Himmelshoffnung meines Alters gerissen, nicht anders thun kann. Kein Wort mehr von dem, was gewesen ist.«
Er schüttelte Margarethen treuherzig die Hand, sie küßte die seine schluchzend und dankbar. Hierauf hob er auch Willhild auf und sagte zu ihr, wenn gleich mit strengem Blicke: »Dich könnte ich fragen: Wo ist das Kind, das ich dir vertraute? Aber . . . ich bezwinge mich. Der Herr hat's gegeben – der Herr hat's genommen – der Name des Herrn sei gelobt. Der arme, kranke, todtschwache Knabe wird freilich von uns nie mehr gesehen werden,« setzte er weich hinzu, »und auch seine Ueberreste werden wir nicht finden. Das Haus bleibt aber darum doch nicht ohne Erben und auch der kleine Hans soll nicht unglücklich sein, um der Missethat seiner Mutter willen. Jetzt aber kommt zu eben dieser Mutter Sterbebette, daß ich jetzo sie segne und ihr aus vollem Herzen das sühnende Lebewohl zurufe!«