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Es geschah, daß an dem Abend desselben Tages, an welchem Dagobert nach Hause kehrte, ein böses Stücklein in der Stadt verübt wurde. Es war in der Neustadt ein Haus gelegen, das man »Zum heißen Stein« nannte, und worin schon Mancher seine Hölle auf Erden gefunden hatte. Man pflog nämlich daselbst des Spiels mit Würfeln und Brett, und es ging scharf dabei her, mit Geld und Gut und fahrender Habe. Zu verschiedenen Malen war schon der Reiche als ein Bettler aus diesem Hause getreten; seltner jedoch der Habenichts als ein vermöglicher Mann, weil der Zufall nicht immer allein waltete in diesen Spielen, sondern auch gar oft und häufig die geschickte Hand und der falsche Würfel. Es hatte sich schon häufig, – namentlich während der Messen zugetragen, daß trügliche Spieler aus dem Fenster waren geworfen, oder dem Arm des Gerichts übergeben worden, das ihnen nachher zum Lohn für ihre Frevel die Augen hatte ausstechen, sie selbst aber in den Main werfen lassen. Diese schreckliche Strafe hatte indessen die Frevler nicht ausgerottet, sondern nur ihre Vorsicht vermehrt, indem es doch immer für Abenteurer aus der Fremde eine gar zu lockende Gelegenheit blieb, um leichtsinnige Bürgersöhne, übermüthige Junker, oder unerfahrene Kaufleute um ihr blankes Geld zu bringen. Wurde hin und wieder ein solcher Spielgauner ertappt, so wußte er schon recht gut, welch ein Schicksal seiner harrte und er wehrte sich daher seiner Haut dergestalt, daß die Rauferei nicht immer zum Vortheil der Rechthaber ausfiel.
Ein ähnlicher Handel fiel auch an dem benannten Abende vor, denn ein wälscher Gaudieb war dem Verbot des Raths zum Trotze, welcher selbst die Würfel an den »heißen Stein« lieferte, mit eignen aus Wälschland gebrachten Würfeln daselbst aufgetreten. Wie denn das Neue immer dem Gewohnten vorgezogen wird, so waren die Spielgäste, junge Brauseköpfe aus reichen Bürgergeschlechtern, mit dem Willen des Fremden einverstanden und zwangen den Spielwirth, die ausländischen Würfel auflegen zu lassen. – Der Italiener gewann und sein Beutel wurde immer straffer, während die Geldtaschen der Mitspieler sich leerten bis auf den Grund. Aber nicht minder die Geduld der Verlierenden versiegte, und da des Fremdlings Gewinn immer mehr und mehr anschwoll, so ergriff einer von den heftigsten Spielern im Zorn die Würfel und warf sie mit dem Rufe: »Ei, so sei doch du verdammt sammt deinem Spielzeuge, vermaledeiter Schelm!« dergestalt auf den Boden, daß einer derselben zersprang und es sich ergab, daß er mit Blei gefüttert gewesen und immer die Sechsen, wenn die geschickte Hand des Wälschen die Knochen regierte, oben liegen mußten. Darob ergrimmten denn die Herren sammt und sonders und derselbe, der zur Entdeckung Anlaß gegeben, ging dem Gauner mit dem Degen zu Leibe. Allein derselbe war ein Raufhahn nebenbei und wehrte sich mit dem langen wälschen Rappiere dermaßen, daß obgleich die Andern dazwischen sprangen, der Angreifer durchbohrt auf dem Estrich lag, ehe noch die Klingen drei Mal gekreuzt worden waren. Der Schreck, den der Fall des Fechters einflößte, half dem Spitzbuben zur Flucht und die herbeikommende Nachtwache fand weder Mörder noch Zeugen mehr im Hause, sondern einzig und allein den todten Mann, den man für des Oberstrichters Sohn, einen leidenschaftlichen, ausschweifenden Menschen erkannte. Sprach nun gleich die ganze Stadt, es sei an dem Wüstling gar nicht viel verloren, so redete das Vaterherz doch anders, und der Oberstrichter, der von vielen Kindern diesen Einzigen groß gezogen hatte, überließ sich der stummen Verzweiflung, da ihm die abgerissene letzte Blüthe seines Stammes heimgetragen wurde.
Die Morgenröthe fand ihn neben dem starren Sohne sitzend und brütend über dem Verhängnis. Da nun die Sonne heraufstieg und das Trauerhaus eben so gut mit Gold bekleidete, wie das Haus der Freude, – da legte sich die Verzweiflung zur Ruhe und ein milder Schmerz trat an dessen Stelle; nicht der nach Rache dürstende Jammer, sondern der versöhnlich weinende Gram. Zitternd blickte der alte Mann in sein Leben zurück und suchte nach einer Wurzel dieses Verderbens, das sein ganzes Geschlecht dahingerafft. Er gedachte seines strengen Amtes, der vielen Schuldigen, die seine Thürme verschlungen hatten . . . der wenigen Unschuldigen, die wieder daraus hervorgegangen waren. Er gedachte jener Vielen, die noch unter der Hand des Henkers ihre Unschuld betheuert hatten und quälende Zweifel, ob er auch immer recht gerichtet, stiegen in ihm auf. Plötzlich erinnerte er sich der Juden, die, allen Zeugnissen zu Folge, schuldlos und unverdient, – höchstens nur einer leichten Büßung würdig, im Kerker schmachteten, und an diese Gestalten des Elends reihte sich eine andere aus ferner Vergangenheit . . . die blinde Mutter, die des Oberstrichters Vater in die Flammen geworfen hatte und bis an seinen Tod nicht wegbringen konnte von seinem Kopfkissen, wie er oft dem Sohne mit bitterlicher Reue geklagt.
»Wer weiß,« seufzte der betrübte Richter . . . »wer weiß, ob nicht von jener greulichen That das Unheil ausgebrütet wurde, das mich und die Meinen schon betraf? Wer weiß, welch' gräßliches Verhängnis meiner noch im schwachen Alter wartet, wenn ich nicht vergüte, was in meiner Macht steht?« – Diesen trübsinnigen Gedanken nachhängend, kämpfte der Oberstrichter lange mit dem wilden Vorurtheil, riß sich alsdann männlich empor und begab sich mit einer Hast, als möchte es im nächsten Augenblicke schon zu spät sein, zum Thurme, in welchem Ben David und sein Vater schmachteten. Der Wächter zog achselzuckend ein langes Gesicht, da der ehrsame Herr nach dem alten Jochai fragte. »Mit ihm wird's wohl am längsten gedauert haben,« brummte der rohe Mensch, »seit gestern Abend hat's ihn angefallen, wie ein tödlich Gebreste, und mein Schwager, der Scherer am Liebfrauenberge, der den Alten gesehen, meint, es gehe mit der Judenseele zu Ende.« – Der Oberstrichter entsetzte sich, ohne jedoch ein Wort des Mitleids vor den Ohren des Kerkermeisters zu wagen. »Hat man denn dem alten Mann keine Hilfe gereicht?« fragte er fast gleichgültig. – »I wozu, ehrbarer Herr?« fragte der Wächter entgegen. »Der Teufel hilft seinen Jungen ohnehin, wenn sie nicht sterben sollen, und der alte Schelm von hundert Jahren fährt auch geradezu in die Flammen; so hat der hochwürdige Pater Reinhold gesagt, der erst vor Kurzem hinwegging. Der verfluchte Hundsjude hat sich nicht bekehren wollen, und der Pater versichert, daß ihm angst und bang bei dem Sünder geworden sei, dermaßen habe der Teufel, der in ihm sitzt, geschnauft und gefaucht, so oft der Pfaffe mit Gebet und Beschwörung angesetzt.« – »Ist denn der Sohn bei dem Sterbenden?« fragte der Richter und der Wächter schüttelte den Kopf. Das Kopfschütteln begann wieder, als er den Befehl erhalten hatte, David zu Jochai zu führen. »Gott gnade unsern Ohren!« – sprach der Brummbär, nach den Schlüsseln suchend, »das verdammte Volk wird ein Geschrei und Geklage anheben, daß man sein eigen Wort nicht versteht und es hilft doch zu nichts. Der Schurke muß dennoch fort.« – Der Oberstrichter wiederholte kalt und bestimmt seinen Befehl und ließ sich indeß Jochai's Gemach öffnen. Da lag der Greis, ausgestreckt auf einem elenden Lager, das doch immer im Vergleich mit seinen vorigen modernden Strohbette eine köstliche Ruhestelle war, – ganz allein, ohne Hilfe, ohne Labung, und nur der Tod war bei ihm, begriffen in seinem traurigen Geschäft. Die Brust hob sich keuchend, während schon die Glieder regungslos ruhten, unvermögend, den armseligen Wasserkrug, der zu Häupten des Bettes stand, an die fieberisch zitternden Lippen des Sterbenden zu bringen.
Der Oberstrichter erwies diesen Dienst dem Hilflosen, er unterstützte dessen Haupt und sprach sanfte Worte zu ihm. Das Labsal der kühlenden Tropfen und der milden Rede rief den Entschlummernden zur Besinnung zurück und die starren Augen belebten sich wieder und sahen in der feindlichen Amtstracht einen Menschen an dem Bette des Todes stehen. – »Der hochgelobte Gott soll Euch vergelten,« sprach der Greis, welcher den Oberstrichter gar wohl erkannte; »mich hat überfallen die elende Zeit, da uns der Herr hinweggehen heißt aus dem Leben und Versöhnung befiehlt mit dem Feinde.« – »Auch unser Gott nicht minder will Versöhnung im Sterben,« entgegnete der Richter mit dumpfer Stimme. »Vergieb meiner Pflicht, was ich dir Böses gethan, und fluche meinem Namen nicht.« – »Da sei Gott vor,« redete Jochai, »daß ich fluche dem, der meinen Mund genetzt hat mit kühlem Wasser. Genommen sei von Euch jeglicher Fehl und das Vergehen Eures Vaters, denn ich kann Euch vergeben für Israel, doch nicht für den gebenedeiten Gott, welcher Edom verdammt hat zum Feuer. Ich will aber bitten für Euch im Thale Josaphat, so Ihr mir gewähren wollt zwei Bitten.« – »Sprich!« erwiderte der Oberstrichter. – »Jaget den Pfaffen von meinem Lager,« versetzte der Sterbende wehmüthig, »seine Götter sind mir ein Greuel des Baal, und weil kein Rabbi stehen kann zu meiner Seite und keiner von den Freunden, so will ich sein allein mit dem Engel, der da bringt das Ende.« – Der Oberstrichter nickte und der Alte fuhr fort: »Sehen möchte ich noch den Sohn, meinen Bechor, und dessen Tochter, die arme Esther.« – »Von Esther weiß ich nichts,« äußerte der Richter, »jedoch dein Sohn . . . so eben bringt man ihn.«
Man muß den leidenschaftlichen Schmerz der Völker des Südens gesehen haben, um David's furchtbaren Kummer sich denken zu können. Er strebte gewaltsam vorwärts aus den Händen der Wächter, die im Begriff waren, ihm die Ketten abzunehmen, und hätte sich mit der ganzen schweren Eisenlast über den Körper des Vaters geworfen, wenn man es zugelassen hätte. – Endlich von den Banden befreit, stürzte er an dem Bette nieder auf die Knie, faßte die erschlafften Hände des Sterbenden, küßte sie und den bleichen Mund unter Thränen und Schluchzen und stieß von Zeit zu Zeit eine laute Klage aus, die man im Munde des Weibes, aber nicht auf den Lippen des alternden Mannes erwartet haben würde. Der Ungestüm dieses Auftrittes, welchem der Oberstrichter mit Thränen im Auge entfloh, um nach dem Hause seiner eigenen Trauer zu kehren und zu überlegen, was ferner zu thun sei, dauerte eine gute Weile hindurch, und Jochai schien diese heftigen Schmerzäußerungen als den schuldigen Tribut der kindlichen Liebe hinzunehmen. Endlich verstummte jedoch der allzu laute Jammer in ängstliches Stöhnen und auch dieses hörte auf, da Ben David das bekümmerte Auge auf Jochai's erlöschendes richtete, gleichsam als wolle er die Augenblicke zählen, die noch dem Sterbenden übrig blieben. Der Greis begann nun mit brechender Stimme ein Gebet zu murmeln, in welches der Sohn einstimmte und das bald beendet war. Nun sprach Ben David trostlos und zögernd. »Raaf! wirst du mich segnen, bevor du hinweggehst, oder wird mein Name verflucht sein von dir? Raaf! du hast mir gegeben das Leben, und ich habe dir gegeben den Tod – ach! es ist wahr geworden, was du gesagt hast in Weisheit. Du stirbst hin in edomitischen Banden und ich habe es verschuldet, daß dein Angesicht bleich wird außer Israel und den Hütten Jakobs!« – »Sohn!« entgegnete Jochai sanft, »so du mir hättest Gift gegossen in den Leib, würde ich dir doch verzeihen, nun ich sterbe. Aber du bist nicht gewesen die Schlange der Wildnis, und weil mich der Herr geschlagen hat mit Schwäche und Blödheit, da ich lebte, so hat er mir verliehen Gewalt und Kraft vor dem Tode. Ich gehe nicht dahin aus Leid, mein Sohn, ich gehe dahin aus Freude, weil die Herrlichkeit Israels hat gesiegt und der Väter Fürbitte bei dem Ewigen an's Licht gebracht unsere Unschuld. Das ist ein freudevoll Hinscheiden, mein Sohn, und ich verdanke es dir.« – Dankbar preßte David die milde Hand Jochai's an seinen Mund.
»Wir haben gelitten viel,« fuhr der Greis mit schwächerer Stimme fort, »aber die Freude ist größer denn die Qual. Aus Amalek führt uns der Weg in's Paradies, wo der Herr waltet als oberster Fürst und gastlicher Wirth und den Behemoth füttert wie den Leviathan zur Kost der sieben Scharen der Gerechten aus Israel.Andeutungen aus dem Talmud. Mag auch ausgehen die Leuchte unseres Lebens . . . wenn doch nur strahlt die Leuchte ob unserm Haupte, die Herrlichkeit des hochgelobten Gottes. Meine Hand ist kraftlos geworden, Sohn, und ich kann sie nicht auflegen deinem Haupte, aber meine Zunge spricht ihn noch aus den Segen, der dich geleite zum ewigen Leben der Wonnen, zu dem ich vorangehen will. Finde Gold auf deinen Wegen und der Herr stärke dein Gesicht und deine Hände, auf daß du mögest sehen die Stricke Edoms und gewinnen deine verlorne Habe. Der hochgelobte Gott lasse dich fahren unter die Gerechten und deine Tochter Esther nicht minder.« – Ben David seufzet schwer. Jochai fühlte es und fuhr, wiewohl ermattet, fort: »Gelobe mir mein Sohn, daß du – so du wieder findest unser verlornes Kind – daß du es erhalten willst auf dem Wege des Heils. Daß sie nicht anhänge einem Goi aus Edom!« – »Wie soll ich geloben, was ich nicht kann hindern?« fragte David ängstlich. »Ich kann nicht legen Fesseln an ihr Herz, kann nicht machen ungeschehen, was vielleicht schon ist.« – »So gelobe mir,« sprach der Sterbende mit mühsam erhöhter Stimme weiter; »sie nicht zu lassen zu dem verruchten, vermaledeiten Bad, das sie die Wiedergeburt nennen; halte sie ab, daß sie nicht abschwöre vor dem Volke den Glauben aus Kanaan. – Schwöre, gelobe!« setzte er zornig bei, da Ben David zögerte und zauderte. »Schwöre, denn dort zu meinen Füßen richtet sich schon der Engel des Todes auf.« – Halb ohne Bewußtsein gelobte David was der Alte begehrte. Jochai beruhigte sich merklich und sprach: »Der Segen folge diesem Eide und dem Kinde, das sich nennt wie das Pflegekind Mardochai's. Und nun, mein Sohn, binde mir auf das Haupt, um die Hand die Thephilum, da mein Gebein schwach geworden ist.« – David that, wie ihm geheißen war. Jochai's Auge wurde wieder starrer und seine Stimme verwirrt. »Die Seele wird unstät im Leibe,« seufzte er, »sie bebt vor dem Engel, der dort steht und feurige Augen trägt. Hüte dich, David, daß du nicht geräthst unter das Schwert des Wilden, der dort unten tanzt wie ein trunkener Fechter. Halte dich an mich, denn das ist Samael, der die Seelen nimmt derjenigen, die sterben außerhalb dem heiligen Lande. Hilf mir, Sohn! Gieb mir die Erde des Herrn, die du trägst auf deiner Brust, daß ich in der Heimat sterbe, und der Engel Gabriel meine Seele hole.«Reichere Juden pflegten sich aus Palästina Erde kommen zu lassen, mit welcher sie einen Polster oder ein kleines auf der Brust zu tragendes Amulet anfüllten, damit sie ihnen beim Sterben unter das Haupt gelegt werde.
Ben David riß das Päckchen von der Brust und schob es unter den Kopf des Verscheidenden, dessen Blicke noch einmal aufloderten in dem Scheine einer wehmüthigen Freude. »Groß ist der Herr!« stammelte seine Zunge, »gekannt in Juda und sein Name herrlich in Israel. Zu Salem ist sein Gezelt und seine Wohnung in Zion! Laßt uns ihn preisen, den hochgelobten Gott!« – Hier stockte die Zunge des Erblassenden; seine Augen umdüsterte die in's Leben hereinbrechende Nacht; noch einmal öffnete sich der Mund und von dem Schwerte des Todesengels fiel der an der Spitze hängende Galltropfen hinein, von welchem das Angesicht bleich wird und die Seele entflieht.Nach den Angaben und Lehrsätzen mehrere Rabbiner, vielleicht der schönste poetische Gedanke des Talmud. – Ben David zog dem Todten das armselige Kissen weg unter dem Kopfe, stürzte den Wasserkrug um, in welchem vielleicht der Todesbote sein Schwert abgewaschen hatte, zerriß sein Gewand und warf sich nieder auf den Boden, wo er trauerte im Schweigen, oder betete, oder jammernd im Staube sich wälzte.
In diesem Zustand fand der Oberstrichter ihn am Abend. Die Wahrhaftigkeit seines Schmerzes hatte selbst die rauhe Brust des Thurmwärters gerührt, daß er es nicht gewagt, die theure Leiche dem Trauernden zu entreißen, bevor der Befehl dazu gekommen sein würde. Starr und schweigend, ohne sich zu erheben, sah Ben David in des Oberstrichters Antlitz, als suche er in den Augen desselben zu lesen. Die Starrheit seiner Züge milderte sich jedoch, da er nichts als Mitgefühl in des Richters Blicken wahrnahm. – »Stehe auf, David,« sprach derselbe zu ihm. »Stehe auf, ich will zu dir reden.« – »Herr!« versetzte Ben David, »ich darf nicht aufstehen; so will es das Gesetz, weil die Erde ist das Lager der bitteren Armut und verschlingt unsern wahren Reichthum. Erlaubt mir, daß ich dem Gesetze folge und redet zu mir wie ein milder Herr zu seinem Hunde.« – »Steh' auf, David,« wiederholte der Oberstrichter, »mich kümmert nicht dein Gesetz und du magst es üben an anderm Orte und zu andrer Frist. Denn du sollst frei sein.« – »Frei?« fragte Ben David staunend, »Herr! redet Ihr auch wahr und redlich?« – »Ich belüge dich nicht,« erwiderte der Oberstrichter ernst. »Du sollst frei sein.« – »Frei?« wiederholte Ben David noch einmal. »Hab' ich's doch ganz verlernt, wie man ist frei. Gehen in freier Luft, ohne Bande, schlafen unter freiem Dache, ohne Schmerz und Sorge? Versteh' ich Euch? und hat der Rath endlich erkannt die Wahrheit?«
»Er hat sie erkannt,« sagte der Oberstrichter, »der Schurke Zodick ist flüchtig gegangen, und Werkzeuge seiner mörderischen Frevel hat man in seiner Wohnung gefunden. Was den abscheulichen Menschenhandel betrifft, den du getrieben, so will der Rath Gnade für Recht ergehen lassen, in Rücksicht auf die böse Zeit, die Ihr, auf Mord und Raub beklagt, ausgestanden habt, damit nicht gesagt werde, wir hätten Euch ungerecht behandelt. Allein, da es sich doch nicht geziemen würde, daß ein von einem Betrüger irregeführter Richterstuhl bekenne, daß er sich übereilte und die peinliche Rathbank nimmer darauf eingehen wird, sich gegen einen Juden ferner zu erklären, so fiel der Schluß dahin aus, daß dir zwar die Thüren des Kerkers geöffnet werden sollen, jedoch ohne öffentlichen Freispruch, daß die Documente dieses Handels vernichtet werden mögen, und du binnen sechs Jahren verbannt bleibest aus dieser Stadt und ihrem Weichbilde, bei Verlust der Ohren und des rechten Daumens, so du dich wieder betreten ließest, binnen der ausgegebenen Bannfrist. Diese Pön magst du hinnehmen, als Vergeltung für den Kauf eines Christenknaben. Im übrigen danke der Milde des Gerichts und entferne dich noch diesen Abend.« – »Herr!« versetzte Ben David nach langer Ueberlegung, »es müßte nicht gelten die Freiheit, wenn ich nicht annähme Euren Antrag. Aber der Bann, der Bann macht mich zum Verbrecher. Mein Haus wird verfallen, Gras wachsen vor meiner Thür, meine Freunde werden mich suchen und fragen: »Wo ist er hingegangen, daß wir ihn nicht finden? Und meine Tochter, mein Estherchen! Herr! ich werde doch nicht können fort.« – »So muß ich dich mit Gewalt wegbringen lassen,« entgegnete der Oberstrichter gleichgültig, »und wehe dann deinem Kopf und deiner Faust, im Falle des Wiederbetretens.« – »O, Herr!« seufzte der Jude, »Ihr seid grausam in Eurer Barmherzigkeit. Und doch ist ein so herrliches Gut die Freiheit! Ich wollte gerne gehen, ob ich gleich nackt und arm bin, wie ein Bettler. Denn ich habe nicht vergraben Schätze, ich habe nicht verborgen mein Gold. Meine einzige Habe ist ein elend Geschrift, das der Wind mag zerstückeln und vielleicht schon weggeführt hat die Flut. Dennoch wollte ich gehen hinaus in die Welt, um zu sein frei; ich wollte legen den Schlüssel meiner Thür in die Hände des Nachbars und aushalten den Bann, mit dem Brandzeichen des Verbrechens, um zu suchen und wieder zu finden mein Kind; aber diese Leiche . . . mein Vater . . . ich kann sie doch nicht tragen auf meinen Schultern davon und was wird aus ihr werden? Soll sie doch jetzt schon ruhen in der Erde, weil der Herr befiehlt, daß die Trauer nicht schlafe über Nacht im Hause. Was geschieht aber mit ihr: Werdet Ihr sie auf den Anger werfen lassen, oder in den Fluß? Wehe, wehe über Israel und seine Schmach!« – »Beruhige dich,« versetzte hierauf der Oberstrichter, »deine Glaubensgenossen sollen morgen den Todten von hinnen holen und ihn nach ihrer Weise bestatten dürfen; bei meinem Eide!«
Da ging Ben David hin zu der geliebten Leiche und fragte: »Raaf, wirst du Zorn fühlen gegen mich in deiner unstäten Seele, wenn ich nicht aushalte hier die Tage der Trauer? Ich will mich ja aufmachen, zu suchen meine Esther – das Kind, das du geliebt, das du getragen hast in deinem Herzen, wie in deinem Arm. Ich will, ein Verbannter, aufsuchen das Land, wo deine Hütten stehen, Jakob, und das Gesetz gelehrt wird. Ich will dort die doppelte Zeit hindurch fasten und beten und sitzen auf der Erde mit zerrissenem Gewand. Zürne mir jetzo nicht, ich darf ja nicht beerdigen deinen Leib, ich darf ja nicht folgen deinen Gebeinen zur Grube. Verzeihe mir, Raaf, dem das Paradies sei, und lebe wohl!« – Er küßte noch einmal zärtlich und ehrerbietig die Stirne und den Mund des Todten, drückte ihm die Augen zu und band die Tephillum des Hauptes darüber. Dann breitete er ein Tuch über das erblaßte Gesicht und wendete sich zu dem Oberstrichter mit den Worten: »Befehlt, ehrsamer Herr, ich will gehorchen.« – »So gehe hin, sobald der späte Abend dämmert,« sprach der Richter. »Der Kerkerknecht wird dich nach Sachsenhausen hinüber geleiten. Dort magst du weilen bis morgen. Mit dem Frühesten des Tages jedoch schüttle den Staub von deinen Schuhen und wand're, wand're weit von hier. Dem erbarmenden Gefühle in meiner Brust habe ich genug gethan, da ich dich losgebettelt habe bei dem Rathe. Zwinge mich nicht, deine Strafe aussprechen zu müssen und halte deinen Bann.« – »Schon dämmert der Spätabend,« entgegnete Ben David langsam, durch die Fenster schauend, »das Brückenthor wird bald gesperrt werden; ich will daher jetzt gehen, Herr, so Ihr befehlt.« Der Wächter erschien mit Licht an der Thür, und der Oberstrichter machte sich auf, das Zimmer zu verlassen. Ben David that einige Schritte und blieb dann wie eine Bildsäule stehen. »Ist mir doch,« stammelte er, »als ob mich's hielte bei den Haaren und Salomon's Ring mich festbannte, daß ich nicht kann fort!« – »Fasse Muth, Jude,« – antwortete der Oberstrichter hierauf, »die Freiheit winkt. Der alte Mann stand lange schon am Ziele seines Lebens, und der Vater stirbt vor dem Sohne nach dem Laufe der Natur. Mich beklage, denn ich gehe von hier zum Sarge meines Erben!«
Ben David gedachte seiner Söhne, wendete den Kopf noch einmal nach dem Entschlummerten und folgte alsdann, sich wie in der Verzweiflung losreißend, dem Kerkerknecht. – Der Mann warf ihm, während sein Gehilfe dem Richter des Thurmes Thüre öffnete, ein wollenes Wams zu und sagte: »Das schickt dir die Barmherzigkeit der verrückten Dirne, die des getauften Schurken Frevelthaten an das Licht gebracht. Die Jacke war für den Alten bestimmt, doch kommt sie dir jetzo auch zu gut, so wie diese Flasche Wein, die von derselben Geberin geschickt worden ist. Die närrische Dirne hat Euch schon früherhin, da Eure Leute sich nicht um Euch bekümmerten, manchmal Wein geschickt, und er hat – wenngleich nicht koscher – Euren Judengurgeln wohl geschmeckt. Da, nimm auch diesen.« – »Was soll mir Wein?« fragte Ben David bitter lächelnd. »Ich bin getränkt mit Sorge und Bangigkeit. Trinke du, mein Freund.« – »Lieber Pech und Schwefel,« erwiderte der grobe Knecht, »als Rüdesheimer, der schon einmal für jüdische Ketzer bestimmt ist. Trink, und dann komm'. Ich würde dich an die Leine nehmen, wie der Schlächter das Schwein, Euren Erbfeind; aber ich schämte mich, wenn mich in der Dämmerung ein Mensch in deiner Gesellschaft erkennte. Darum will ich dir erlauben, frei vor mir zu gehen und ich zähle auf deine schwachen Beine, daß du mir nicht in der Stadt entkömmst.«
Ben David antwortete nicht auf die pöbelhaften Beleidigungen, zwang sich, einen Zug aus der Flasche zu thun und folgte, nachdem er seine zitternden Glieder mit dem warmen Wams bedeckt, seinem rohen Führer, der ihn auf der Gasse vorschreiten ließ, um ihn im Auge zu haben. Am Brückenthor angelangt, wo schon die Pforten gesperrt werden sollten, schickte dieser seinen Begleiter unter derben Flüchen zum Teufel und befahl den Wachen an, dem Juden, falls er sich heute noch herüber wagen wollte, mit der Hellebarde die Nase aus dem Gesicht zu hauen und ihn zu weiterer Bestrafung einzufangen. – Ben David hatte indessen völlige Freiheit, zu gehen, wohin er wollte. Wankend vor Schwäche schritt er unbemerkt durch die Haufen der nach Sachsenhausen kehrenden Handwerker hin. Er suchte auch nicht sein sehr kennbares Gesicht bei Lichte zu zeigen; deshalb setzte er sich, da seine Mattigkeit ihm nicht erlaubte, weiter fürbaß zu ziehen, in einen entlegenen Winkel der Gasse, in welcher die Maternuskapelle lag, ein unausgebautes, öde und wüst stehendes Kirchlein, das dem Müden wohl ein besseres Obdach gegeben hätte, aber als eine christliche Tempelstätte, schon mit dem Namen eines heiligen Patrons begabt, von dem gewissenhaften Juden nicht zum Schlummerplatz erwählt wurde. – Die Gedanken, die einen betrübten Sohn und noch betrübteren, in alles Ungemach des Lebens und der Armut herausgestoßenen Vater quälen, verwehrten dem mildernden Schlummer allen Zugang zu dem Gepeinigten. Wohin sollte er sich wenden, um das verlorene Kleinod seines verbitterten Lebens aufzusuchen? Wohin hatten die wilden Reiter, von denen Judith sprach, die bedauernswerte Esther entführt? Und wenn er das Kind seiner Tage wieder in die Arme schloß, welche Schande weilte nicht vielleicht im verborgenen Hintergrunde? »O, Gott meiner Väter!« seufzte er aus dem Grunde seines Herzens in die rings um ihn still gewordene Nacht hinaus. »O du, der du gemacht hast die Sterne, die dort oben funkeln in der Krone deines Hauptes! Wie liege ich doch hier, so geplagt und gepeinigt, wie ein von deinem Angesicht Verstoßener? Ich bin unglücklicher, denn der arme Mann Job und der Bettler vor der Thüre des Reichen. Ich habe gehabt Geld und Gut, ich habe gepflegt einen greisen Vater, ich wurde bedient von einer geliebten Tochter; ich habe hinausgeschickt in die Fremde zwei Söhne, zu werden der Stolz meiner Tage und meine Freude im Tode. Weh' mir! weh' mir! was ist geworden aus diesem Reichthum? Das Schwert hat gefressen den einen meiner Söhne; abgefallen ist der Zweite von dem Gesetze seiner Väter. Geschieden ist mein Vater in den Banden der Knechtschaft und verstummt ist unter dem Himmel die Klage meiner Tochter. Wo ist sie, die blühende Rose aus meinem Garten? Ach, sie ist von dannen gerafft worden, wie meine Habe, und betteln muß ich mein Brot vor den Hütten Jakob's, oder den Wohnungen Amalek's, das mir den Tod wünscht, statt Gedeihen, weil ich hänge an dem Gesetz, weil ich mich nenne nach Israel. Gerechtigkeit war mein Kleid, mein Recht der fürstliche Hut meines Hauptes. Hast du denn gar so große Sünden gefunden an deinem Knecht, o Herr, daß du ihn schlägst mit deinem unendlichen Zorn? Oder willst du prüfen, ob . . .« Das leise Flüstern der bebenden Lippen verlosch in lauschende Stille, denn Gestalten, wie die Schatten der Nacht, in düstere Gewänder gehüllt, eilten unfern von dem Platze des Juden vorüber. Gingen ihrer gleich mehrere zusammen, so wurde dennoch kein Wort gewechselt, und dieses schnelle und ganz geräuschlose Vorübertreiben der nächtlichen Wanderer machte nicht auf Ben David allein einen unheimlichen Eindruck, denn ein guter Bürger, welcher gegenüber, vielleicht der letzte Wachende in seiner ganzen Straße, beim düstern Lampenschimmer am halb geöffneten Fenster saß, schlug bei obigem Anblick mit dem halblauten Rufe: »Ach, Jesus Maria!« das Fensterlein zu und löschte schnell den Lichtschein, um scheu in sein Lager zu kriechen. Ben David, mit Gespensterfurcht wenig bekannt, sah in den verhüllten Leuten keine Schrecknisse des Grabes; wohl aber erinnerte ihn seine Vernunft gar bald an das im Finstern waltende Gericht, das von Zeit zu Zeit auf Sachsenhausens Boden gehegt wurde und von dem Volke gefürchteter und gehaßter war, als von den Juden, die nicht vor die heimliche Acht gezogen wurden. Diese Freiung sicherte indessen diese Letztere nicht vor ungläubiger Mißhandlung, so sie in dem Umkreise der Vehmstätte als neugierige Späher aufgefunden würden und, um von den hin und her schweifenden Vermummten nicht ertappt zu werden, versuchte Ben David, von dannen zu schleichen, als eine bekannte Stimme, die sich in geringer Entfernung hören ließ, ihn neuerdings vermochte, sein Ohr aufzuthun und zu verharren. »Bis hieher und nicht weiter,« sagte eine Stimme freundlich; »hat anders die Sage des Pöbels einen Grund, so muß ich im Bereich der Maternuskapelle meine Leute finden. Habe Dank, daß du mich bis hieher geleitet, denn, da ich hier der Feinde so viele und mächtige zähle, wird mir bald selbst vor Meuchelmord bange.«
»Wer weiß, ob Ihr nicht einem ähnlichen Schicksale entgegen geht,« antwortete eine andere Stimme. »Seht, guter Dagobert, ich möchte Euch gar zu gerne wieder mit mir zurücknehmen nach der Stadt. Laßt das Wagstück bleiben und geht in's Kloster oder in die Fremde auf Abenteuer; dann lassen Euch die Finsterlinge ungeschoren!« – »Wahre deine Zunge,« entgegnete Dagobert, »hier ist die Luft nicht rein; und von meinem Vorhaben bringst du mich nicht ab. Um deines freundlichen Geleits willen jedoch verzeihe ich dir, daß du mich so feig in deinen bösen Handel verwickeln wolltest und nehme all meinen Groll zurück.« – »Ihr habt gut reden, Junker,« versetzte der Andere – Gerhard von Hülshofen – »und Ihr selbst hättet alsobald dem ganzen Ding eine andere Wendung geben können, hättet Ihr die Augen bei Euch gehabt und den Jungen als Euren Bruder erkannt.« – »Du hast recht,« sprach Dagobert mit einem Seufzer nach kurzer Stille, »'s ist meine Schuld. Mir war der Knabe fremd. Geh' aber jetzt mit Gott von dannen. Mir ist, als stände ich in einem Zauberkreise, und keinen Zweiten möcht' ich in mein Geschick verwickeln. Frage morgen im »Eichhorn« nach mir; bin ich am Leben noch, so wollen wir einen Valettrunk halten, denn mir ist Vaterhaus und Vaterstadt verleidet und ich will fort. Bei dieser Gelegenheit magst du über deinen langen Vollbrecht staunen. Die Kost in meinem Dienste schlug dem Burschen trefflich an und er beginnt, dir's gleich zu thun.« – »Ihr könnt noch scherzen,« sprach Gerhard, »und mir pocht das Herz wie einem armen Sünder! Ein gut Gewissen mag ein wack'rer Harnisch sein, allein . . .« – »Das ist es auch,« meinte Dagobert, »noch einmal, geh'! Komm' ich nicht wieder, so grüß' den Vater und den Lehrer Johannes, und nimm mein Pferd, das Beste meiner Habe. Leb' wohl jetzt.« Ein Handschlag noch, und fort eilte der Begleiter.
Dagobert sah sich unschlüssig auf der Kreuzstraße um und sagte zu sich: »Am besten ist's, ich warte hier, bis man mich ausgewittert.« Er schlug den Mantel fester um die Schultern und blickte scharf nach der Seite, von wo sich etwas gegen ihn bewegte. Den linken, in den Mantel gewickelten Arm vorgehalten wie ein Schild und die rechte Faust am Griffe des kurzen Schwertes, das an seiner Seite hing, rief er dem Nahenden sein: »Wer geht da?« entgegen. Statt der dumpfen Stimme eines harrenden Freifrohnen, redete ihn jedoch Ben David's Stimme an, die er alsobald erkannte; erschrocken rief er ihm zu: »Unglücklicher, woher kommst du? Was willst du hier? Rede, oder besser, fliehe! Man bringt dich in deinen Kerker zurück, oder die Diener der Acht schleudern dich in den Main, so du nicht eilig auf und davon gehst!« – »Ich bin nicht entsprungen, Herr!« erwiderte der Jude schwer athmend und demüthig, »ich will weiter wandern, jedoch um zu retten mein armseliges Dasein für mein Kind . . . Herr . . . Ihr habt es gekannt . . . Ihr habt es beschützt . . . Ihr habt es vielleicht geliebt, wie ein Edelmann nicht soll lieben eine schlechte Jüdin.« – »Ben David!« rief der Junker halb zürnend, aber der Jude ließ ihn nicht weiter sprechen, sondern fuhr fort: »Hab' ich gesagt eine Lüge, so verzeiht mir. Und hätte ich gesagt die Wahrheit und wäre Esther geworden ein Spiel Eurer Muße und Eures raschen Blutes . . . Herr . . . ich muß Euch vergeben, da Ihr ein Christ seid und ich nur ein elender Jude; aber ich will auch vergeben, wenn Ihr barmherzig sein wollt und mir nur einen Wink gebet, wo ich sie wiederfinden kann, das Licht meiner Augen, den Stab meiner schwachen Hand. Aber, was rede ich?« setzte er hinzu, da Dagobert noch vor Bestürzung schwieg. »Ich bin ein Thor und vergeßlich wie das Hirn eines alten Weibes. Weiß ich denn nicht, daß der verfluchte Zodick sie geraubt aus Eurem Gewahrsam . . . – daß sie geworden eine Beute des Kriegsvolks? . . . Weh' mir! weh' mir!«
Dagobert hatte Mitleid mit dem Vater seiner Esther. »Fasse dich,« sagte er eindringlich zu dem Winselnden. »Deine Furcht ist grundlos. Esther ist in Sicherheit, Gott und ich – wir haben sie nicht verlassen. Du wirst mich besser kennen lernen.« – »Engel, Fürst der Barmherzigkeit!« stammelte der froh überraschte Vater, Dagobert's Hände küssend. »Ihr habt Segen gepflanzt auf meinem dunkeln Weg, Oel gegossen in die Wunden meines Grams. Erfüllt das Maß Eurer Menschenliebe . . . zeigt mir dem Weg zu Esther. Besorgt nicht, daß ich sie reiße mit mir in's Unglück. Ist sie Euer Eigenthum geworden, wie der Knecht das des Herrn, ich raube sie Euch nicht . . . ist sie geworden Euer Gut, wie das Lieb des Buhlen, ich verführe sie Euch nicht! Aber letzen muß ich mich mit ihr, damit ich hinfahren könne in Frieden.«
»Merke auf!« versetzte Dagobert schnell und bewegt. »Morgen schon magst du im Arme deines Kindes liegen. Unfern von der Stadt Friedberg liegt das Dürninger Schloß und in dem Walde, der das Ritterhaus umgibt, steht, eingehegt wie das Veilchen im weitverbergenden Wieswachs, die Forsthütte des Schlosses. Darin haust Esther, dort magst du sie finden und mein in Frieden gedenken, sollte ich nimmer dahin zurückkommen. Geh' aber jetzt, Alter, denn sicher bleibt die Stätte nicht mehr lange leer.« – Er riß die, zwar nicht überflüssig gefüllte Börse vom Gürtel und drückte sie dem Freudevollen in die widerstrebende Hand. Mit dankbarer Inbrunst küßte Ben David den Saum seines Mantels, stammelte die Worte: »Herr des Lebens! Herr der Gnade! Und dich konnte ich nennen grausam?« und lief, ohne ferner zu verweilen, fort gegen das Gatterthor zu, das aus Sachsenhausen einen Ausweg darbot und seine Flügel vor der Freigebigkeit des eiligen Wandrers willig öffnete. – »Die Begierde, über den Strom zurück zu kommen, stürzt vielleicht den armen Mann in die Fluten, ehe noch das Morgenlicht den Schiffer weckt, die Fähre zu rüsten!« sagte Dagobert vor sich hin und schritt mit aufmerksamem Ohre hin und her. – »Es dauert lange!« fuhr er nach einer kurzen Stille fort, »wüßte ich nur ein Mittel, mich den Herren bemerkbar zu machen, denn gehegt wird heute. Die schwarzen Vögel strichen schon an mir vorbei.« – Indem er nun mit verschränkten Armen zu den Sternen emporsah in ungeduldiger Erwartung und in schmerzlicher Erinnerung an die Ferne, Ersehnte – fiel ihm ein Lied ein, das zu jenen Zeiten im Munde aller gefühlvollen oder minneholden Jünglinge war; und da dessen einfach rührender Inhalt sich vollkommen nach dem Zustande seiner innersten Seele richtete, so sang er es vor sich hin mit halblauter Stimme: »Vom Vaterland so fern, so fern – hat mich erkannt der Abendstern – und lacht mich an, ich kenne dich und deine Bahn, hier siehst du mich!«
Nachdem er diesen ersten Vers vollendet und sein Herz in neuer Kraft aufschlagen fühlte, war es ihm, als ob sich unfern von ihm wieder etwas regte. Er lauschte, das Geräusch hatte aber aufgehört. So begann er denn den zweiten Vers des ermunternden Liedes: »Ich blick' dich an, ach, Abendstern, auf deiner Bahn, so nah' und fern, wie freu' ich mich, dich hier zu sehn: Du kannst – nicht ich, zum Liebchen geh'n.« – »Zum Liebchen geh'n!« wiederholte er schmerzlich und hielt die Hand vor die thränenden Augen. Neben ihm ließ sich indessen eine freundliche Mannesstimme vernehmen: »Habt Dank, guter Geselle, Euer Lied kam von Herzen und ging auch zu Herzen. Gott segne den wackern Sänger, der es machte und lasse es ihm wohl gehen; säße er auch in Schmach und Elend . . . vergnügt müßte er sein, da die Dichtkunst und die liebliche Musika ihm dienen und sie sind beide gar holdselige Engelein.«
Dagobert schaute verwundert auf den Nachbar mit der leisen gemüthlichen Rede und wäre fast erschrocken, da er in demselben einen kleinen verkappten Mann wahrnahm, über dessen Haupt die Kapuze eines dunklen Mantels tief herabfiel. »Ich muß Euch aber jetzo bitten,« sprach der Mann weiter, »diesen Platz zu meiden. Es wird hier herum die kaiserliche beschlossene Acht gehegt und wir haben Fug und Recht vom Kaiser, hier nur Geladene zu dulden. Ich hab' Euch nur das Liedlein wollen vollenden lassen und denke, Ihr werdet ohne Säumen heimgehen.« – »Ei, mein Freund,« antwortete Dagobert fast lustig und wohlgemuth; »ich bin ja ein Geladener, und wenn Ihr, wie ich denke, ein Diener der Heimlichen seid, so thut mir die Liebe, mich hinzuführen, wo man meiner bedarf, denn es ist nicht eben fröhlich, hier das Grab umsonst zu hüten.Sprichwörtliche Redensart, entsprungen dem Gebrauche, in der heil. Woche das Grab des Heilands in den Kirchen von Schülern gegen eine Vergütung an Geld und Speisen hüten zu lassen. Die Stunde ist spät und vom Main weht keine sommerliche Luft.« – Der kleine Mann warf sich bei diesen Worten etwas in die Brust und fragte nach dem Namen des Andern. Als derselbe sich genannt, staunte der Frohn ein wenig. – »Ihr seid allzu fertig, Junker Frosch,« sagte er mit einer Art von Verbeugung. »Nur ein gut Gewissen stellt sich, ohne die dritte Ladung abzuwarten, vor die Schranken. Glück auf, Herr, und folgt mir. Ich will hoffen, Euch wohlbehalten wieder hieher zurück zu bringen.« – »Gott geb's!« versetzte Dagobert. »Schreitet voran, ich komme nach.« – »Erlaubt, daß ich Euch mit diesem Tuche die Augen blende,« entgegnete der Frohn, »wir haben nicht weit zu gehen und der Gebrauch will es so. Auch Eure Waffen gebt mir, falls Ihr deren bei Euch tragt.« – Dagobert besann sich ein wenig, dann sagte er: »Und warum denn nicht? Mein Recht bedarf keines Schwerts, und die schwache Klinge würde nicht der Gewaltthat Vieler sich erwehren können.« – Er reichte dem Frohn die Waffe und ließ sich geduldig das Antlitz verhüllen, worauf ihn der Frohn bei der Hand nahm und behutsam mit ihm voranging. – »Wäre ich Freigraf und Schöppenbank in Einen,« wisperte der Kleine dem Jüngling zu, »so hätte ich Euch schon dort auf dem Kreuzwege freigesprochen, denn ein Mann, der solche Liedlein singt, und singt, wie Ihr es thut . . . der hat nimmer einen Frevel im Schilde geführt. Ich kenne Euch auch nicht erst seit heute und schon, da Ihr mit Singen aufhörtet und zu sprechen begannt, hab' ich wohl gewußt, wer Ihr seid. Ich kenne Euch sehr gut und Euer Haus.« – »Ei, so soll mich Gott! . . .« sagte Dagobert, im Gehen innehaltend: »Ihr seid mir auch nicht fremd, und manches Stiefelpaar hat mir Eure Hand gefertigt, Meister Freudenberger, wenn mich meine Ohren nicht abscheulich hinter's Licht führen.« – »Pst!« antwortete der Andere, und weiter nichts. – »Wie kommt denn Ihr, der fröhliche Meister und kunstgerechte Chor- und Stubensänger, wie kommt Ihr unter diese Eulen der Nacht?« fragte Dagobert. Der Frohn drückte ihm aber rasch die Hand und flüsterte: »Stille, um des Himmels willen. Wir sind unfern dem Stuhle und haben nur das Zeichen zu erwarten.« – Lautlos standen Beide stille, und nachdem verschiedene Stimmen, brummend und flüsternd, an ihnen vorübergegangen waren, geschahen unweit von ihrer Stätte sieben Hammerschläge auf ein dröhnendes Brett und mehrere Menschen kamen heran. »Blitz!« rief der Eine, mit viel Frohsinn in dem Ausdruck seiner Rede, »'s hat hart gehalten, aber, Gott sei Dank, Recht ist Recht geblieben. Wie wird sich meine Mutter freuen, wenn ich wohlbehalten nach Hause komme.« Sein ferneres Geplauder verscholl in der Weite. – »Dieser Mensch hat's glücklich überstanden,« dachte Dagobert für sich, »die Vehme scheint also nicht aus eitel Bluthunden zu bestehen; darum Muth, Freund Dagobert, Muth und offenen Helm!«
Rasch fühlte er sich nun fortgeführt; sein Fuß betrat glattes Steinpflaster; er hörte ein Geräusch um sich summen, wie Reden aus dem Munde Vieler, die sich an den Bogen eines Gewölbes brechen. Der Frohnbote hieß ihn stille stehen und nahm ihm die Verhüllung von den Augen. Dagobert erkannte augenblicklich die Maternuskirche als die Stätte des heimlichen Gerichts. Auf den Stufen, den Altar zu tragen bestimmt, war eine schlichte Tafel errichtet, hinter welcher der Freigraf auf einem Stuhle, die sieben ihn umgebenden Schöppen auf niedern Bänken saßen. Vor dem Erstern lag ein Schwert und der Zweig einer Weide. Hinter den Sitzen der Richter standen und saßen theils einzeln, theils in mannigfachen Gruppen, eine Anzahl von Männern, deren sorgfältige Verhüllung, jener der Richter gleich, andeutete, daß sie mit zu den Wissenden gehörten, ob als Frohnboten, oder als echte und rechte Schöppen, jedenfalls ohne an dem Gerichte thätigen Theil zu nehmen. Um den Vorgeladenen standen einige Diener des Gerichts in bescheidentlicher Entfernung. Zwei Lampen, von welchen die eine an der Thüre gehalten wurde, die andere vor dem Grafen stand, leuchteten in diesem düstern Bau. Die Unterredung der im Kreise Sitzenden dauerte mit Lebhaftigkeit fort, bis endlich der Frohnbote den Freigrafen bescheidentlich erinnerte, daß der Vorgeladene des Weitern harre. Ein Schlag auf den Tisch stellte die Ruhe her. Aller Augen richteten sich – unter den bergenden Kapuzen hervor – auf den Jüngling, dessen Ruhe und Sicherheit in dem Maße zunahm, als er mehr und mehr gewahr wurde, mit welcher Sorglosigkeit die so gefürchteten Richter ihr Geschäft betrieben. – Der Freigraf erhob zuerst seine Stimme und sprach: »Ich frage dich, Frohne, ob es noch wohl an der Zeit sei, in Statt und Stuhl unsers allergnädigsten Herrn, des römischen Kaisers, daß ich ein Gericht und heilig Ding hege, zu richten unterm Königsbanne.« – Der Frohne antwortete: »Sintemalen Ihr von der Freigrafschaft und von der leiblichen Hand des römischen Königs Fug und Recht zu hegen empfangen habt, so mögt Ihr noch immer thun zu Rechten an diesen Beklagten, Geladenen und Gegenwärtigen.« – Hierauf wurde dem Jüngling abermals das Haupt verhüllt; dagegen enthüllten Freigraf und Schöppen ihr Antlitz und entblößten ihre Häupter. Sie legten die Mäntel zurück auf die Schultern und warfen die Handschuhe ab. In aller Namen sprach der Freigraf die Worte: »So hege ich denn ein Gericht und billig gefeimtes Geding unterm Königsbann, auf des Königs Bank, Stätte und Stuhl mit diesen echten, rechten, freien Männern des Königs, und fürbaß mit diesen andern Freischöppen, wie sich's mit Recht gebührt unterm Königszwang und bei der höchsten Strafe des Strangs.« – Die Richter verhüllten sich wieder, setzten sich, und dem Geladenen wurden die Augen freigegeben. Nach den Eingangsfragen, auf welche Dagobert mit harmloser Unbefangenheit antwortete, kam die Reihe im schnell und oberflächlich geführten Verhör auf die Missethaten, deren der Vorgeladene von einem Wissenden beschuldigt worden sei. Dagoberts Herz empörte sich bei der Aufzählung der Verbrechen, die ihm zur Last gelegt wurden, aber dieser edle Zorn raubte ihm nicht die Sprache des kühnen Mannes, der sich stark und kräftig gegen solche Unbill vertheidigt. Mit hinreißender Beredsamkeit schilderte er den Unbekannten seines Lebens klaren Weg; wie ihm ein gesundes, gutes Herz stets das höchste Kleinod gewesen, wie er immer seine Eltern geliebt und geehrt – wie er selbst die Stiefmutter, die ihn gehaßt, so kindlich behandelt, daß sie endlich seine vertrauende mütterliche Freundin geworden. Er sagte klar und frei heraus, wie Wallrade ihn stets verfolgt und gehaßt, wie er ihr freundlich die Hand geboten, doch ohne Erfolg. Er sprach von der nothwendig guten Beziehung, die Judith's letzte Aussagen und die Kunde vom Aufenthalt Wallradens auf seine Sache haben müßten.
»Ich habe also nicht des Vaters Leben einem Mörder verdungen,« sprach er; »ich habe nicht die Schwester in Räubers Hand geliefert; ich habe keinen Theil an dem Verkauf des Knaben Johannes gehabt. Wird es mir, erleuchteten und weisen Männern gegenüber, schwer fallen, meine Unschuld in den übrigen Anklagen zu beweisen? Nicht die That steht mir zu diesem Endzweck zu Gebote, nur das Wort. Aber auch nicht die That kann man als Beweis gegen mich aufbringen; nur das Wort. Ich habe meinen Vater stets geehrt und geachtet seine grauen Haare. Ich habe ihm nicht den schlechtesten Pfennig entzogen und sollte mich an dem höchsten Schmuck seines Hauses, an dem Herzen seines geliebten Weibes zum Diebe gemacht haben? Die Abscheulichkeit kann nur aus dem Grunde einer verleumderischen Brust kommen und ich verachte sie als Mann und als Christ. Die letzte Beschuldigung endlich, Ihr Herren des Vehmgedings, ist nicht minder ungegründet. Buhlschaft unterhalten mit einer Jüdin und dadurch zum Ketzer werden? Wer zeiht mich dessen? Ich habe die arme verlassene, von der Welt gehaßte und verachtete Dirne in meinen Schutz genommen ohne sträfliche Absicht. Ich halte sie verborgen vor ihren Feinden und bin fröhlich, daß es mir gelungen ist. Vergebens befragte man mich nach ihrer Zufluchtstätte. Das Lamm, das ich rettete, verkaufe ich nicht selbst den Wölfen und ich müßte mich zuvörderst überzeugen, ob nicht hinter diesen Gewändern, die Euch, Ihr Herren, verhüllen, von diesen Wölfen einige verborgen wären. Verzeiht mir dieses dreiste Wort; überführt mich jedoch vom Gegentheil und könnt Ihr mir verbürgen, daß Esther, Ben David's Tochter, Händen übergeben wird, die redlich und ohne Haß ihr Bestes wahren, dann erst sollt Ihr ohne Widerrede erfahren, wo sie weilt. Ich aber habe mich in Eure Gewalt begeben, ob Ihr meinen Worten trauen wollt, ob nicht. Es wäre mir nicht schwer geworden, manches Böse zu enthüllen, das ich von denen erfahren, die ich verletzt haben soll, allein Rache ist meiner Seele fremd. Ich handle schlicht und recht und denke, in dem kaiserlich freien Gericht, vor dem ich mich sonder Furcht gestellt, nicht den Stuhl zu finden, vor dem die Wahrheit flieht und die Lüge das Haupt erhebt, wie das Volk insgemein befürchtet; sondern einen Verein von deutschen Männern, die des Königs heiligen Namen ehren und nicht minder den untadeligen Menschen, den Gott nach seinem Ebenbilde schuf.«
Als nun der herzhafte Jüngling schwieg, verbreitete sich über den ganzen Raum eine Stille sonder Gleichen und jeder von den Unbekannten überlegte, ob denn Dagobert gesprochen wie ein Beklagter, oder vielmehr wie ein Wissender selbst. Der Freigraf hob, der Erste, wieder an zu reden und sagte: »Gott walte, daß auf dieser Vehmstätte die Unschuld nicht wissentlich verderbe. Der Mann, so das Reich hütet – unser gnädigster Herr und König – hat nicht darum seine höchste Macht über Gut, Ehr' und Leben in unsere Hand gelegt, daß wir tödten sollen den Schuldlosen und erhöhen den Sträflichen. Bedeutet das Schwert hier vor uns das Kreuz, an welchem der Erlöser gelitten und die Gestrengigkeit unseres Gerichts, so wie die Weide die Strafe der Bösen, um ihre Missethat, so hat uns doch der Herr die Weisheit gegeben, die das Wahre unterscheiden mag vom Falschen. Ich finde nicht die Schuld an Euch, deren Ihr bezüchtigt worden und die Stimmen dieser sieben Freien mögen zur Sprache kommen.«
Während die Schöppen rings um die Tafel leise ihre Entscheidung dem Freigrafen mittheilten, bemerkte Dagobert, daß in einer Ecke, halb von einer vorspringenden Säule verdeckt, einer der Verhüllten sich wie ein trostloser Mensch geberdete, das Haupt gegen die Säule stemmte und sich nicht durch das Zureden einiger um ihn Versammelten begütigen ließ.
»Die Schöppen der heimlichen Acht finden keinen Fehl an Euch,« begann der Freigraf feierlich, »und damit Ihr sehet, daß wir redlich richten, so rufe ich den Wissenden, Euren Kläger, vor die Schranken, hiemit zum ersten, zweiten und dritten Male.« – Der Verhüllte, von dem früher gesprochen, wankte heran, umgeben von seinen Begleitern. – »Schöppe,« sprach der Freigraf ernst, »wir finden Eure Klage ungegründet. Wollt Ihr sie beschwören auf Euren Eid, oder beweisen, daß Ihr den beklagten Mann ergriffen auf handhafter That? oder weiter führen die Klage vor der Kammer des Reichs zu Dortmund? – Der Kläger schüttelte den Kopf und sprach mit halberlosch'ner Stimme: »Nein, mein Herr Graf. Nimmer soll das geschehen. Die schwerste Pflicht hab' ich als redlicher Freischöppe in Treuen und Wahrhaftigkeit zu erfüllen geglaubt. Der Himmel will, daß ich erliege mit meiner Klage. Ich schwöre nicht auf meinen Eid und meine Pflicht, denn dieser wäre dann verloren und Gott will, daß er frei ausgehe. Auf handhaftiger That hab' ich ihn nicht ergriffen und kann nicht Zeugnis stellen ohne Lüge und vor dem Spiegel der rothen Erde trage ich meine Schande fürder nicht.«
Das Blut in Dagobert's Adern erstarrte, denn die Stimme seines leiblichen Vaters war in der des Klägers nicht zu verkennen. Gewaltsam mußte er an sich halten. Als aber der Gedemüthigte fortfuhr: »So unterwerfe ich mich denn der Strafe, die des Freigerichts Ordnung selbst gegen den Wissenden verhängt und biete meinen Hals der Weide, wie der Beklagte hätte thun müssen . . .« Da konnte Dagobert nicht ferner schweigen, sondern stürzte mit dem Ausrufe: »Barmherziger Himmel! mein Vater!« gegen den Stuhl hin; »mein armer, getäuschter Vater sterben für mich? O, Ihr Herren der Vehme! Das nicht, das nicht dem ärmsten, betrogenen Greise, den ein grausam Verhängnis gezwungen hat, den Sohn selbst anzuklagen auf peinliche Strafe!« – Der Freigraf winkte ihm Stille zu. Indem trat ein Anderer auf, dessen Rede und Geberde den Oberstrichter verrieth: »Herr Graf,« sagte er, »dieses heutige Freigeding ist merkwürdig durch den leichten Sieg, den eines Jünglings beredte Zunge und scheinbare Freimütigkeit sonder Beweise über eines Wissenden Klage davongetragen. Jedoch, Euer Spruch, Ihr Herren, ist einmal geschehen und unumstößlich für uns. Uebt jedoch Nachsicht gegen den Kläger, der mit Ehren seit langer Frist unter uns gesessen. Seine Klage war Pflicht, eine gebotene. Die klare Wahrheit ist noch nicht am Tage. Sprecht daher kein blutig Urtheil. Es sei hinlänglich, ihn unfähig zu machen, ferner zu sitzen und zu klagen an gespannter Bank.« – »Diese Schande?« rief Diether heftig entgegen. »Nimmermehr! Nehmt meinen Kopf, damit jener Mensch lebe!«
»Vater! Vater!« sagte hier Dagobert mit überwallendem Schmerze. »Vater! Ihr versündigt Euch an mir. Habt Ihr denn mein Leben gewollt? O, dann Ihr Herren, nehmt es hin. Haßt mich gleich der Vater unverdient, so will ich dennoch lieber alle Missethat bekennen, die man mir aufgebürdet und als Ketzer und Ehrenschänder sterben, als daß nur ein Haar meines Vaters gekrümmt, seine Ehre nur mit einem Hauche verletzt werde.« – »Und diesen Sohn konntet Ihr verfolgen, Schöppe?« fragte der Freigraf mit strengem Vorwurf. »Weniger zu hassen als zu bemitleiden seid Ihr, ein Spielwerk in den Händen des Zufalls und falscher Freunde. Ich sah voraus, in welchen Kampf Eure Seele gerathen würde, bei dieser unseligen Klage, die ich mit blutendem Herzen angenommen habe. Um dieses Mitleid zu üben, greife ich zu dem Mittel, das schon als ein letztes bereit lag, wäre auch der junge Mann überwiesen worden der Beschuldigung. Denn – nicht solle es heißen, daß unter meinem Vorsitze der Vater den Sohn gemordet habe auf der Stätte des Gerichts. Ich erkläre daher unsern Spruch nicht als ein kräftiges Urtheil, sondern weise die Klage ab. Der Junker Dagobert Frosch ist gefreit von der Vehme. Er ist der Kirche verlobt und schon als Cleriker zu halten. Null und nichtig ist die Freisprechung, die ihm Johannes der Papst zugewendet. Johann war seines heiligen Amtes entsetzt, hatte selbst die Formel der Absetzung verlesen im Concilio und war nicht mehr befugt, ein solches Kirchenrecht zu üben. Sein Mund konnte nicht mehr lösen, was gebunden war durch fromme Gelübde. Dagobert Frosch, des Altbürgers Sohn, ist demnach noch Priester, frei von dem Zwang der Vehme und wir überlassen es dem geistlichen Amte und dem Bischof, ihn zu seinen Kirchenpflichten anzuhalten, von welchen wir, da wir die Ladung gaben, nichts gewußt. Also haben wir abgeurtheilt nach altem Herkommen und Gesetzen des Kaisers und des Reichs, und zum Frommen legen wir dem Beklagten den Eid auf, geheim und hehr zu halten, was er an diesen Schranken des Freigedings westphälischen Gerichts gesehen und gehört.«
Dagobert wollte zwar anfangs widersprechen, da der Freigraf von der Nichtigkeit seiner Freisprechung durch den Papst handelte, aber der Gedanke, daß dieses der einzige Weg sei, sich und den Vater von Schimpf und Schmach zu retten, verschloß ihm den Mund. Eben so willig leistete er den verlangten Eid auf das vorgehaltene Schwert und ließ sich von dem Frohnboten von dannen bringen. Der gute Mann nahm theilnehmend Abschied von dem Junkherrn und sagten »Ja, Herr, Gott hat es wohl gemacht; aber er erhalte uns auch noch lange den edlen Freigrafen, der selbst unter den Wissenden strenges Recht übt. Ihr habt ihn, – er Euch vielleicht noch nie gesehen, aber der gottesfürchtige Mann macht keinen Unterschied. Sie sind nicht Alle so sanft und gerecht, wie er, mein lieber Herr. Doch hier seid Ihr unfern dem Brückenthore. Gehabt Euch wohl. Ich muß zurück. Es gibt noch heute eine Ladung anzuschlagen und da der Bursche flüchtig ging und darum der Brief an alle Warten geheftet werden muß, so haben wir, meine Gefährten und ich, der Müdigkeit noch viel, des Schlummers wenig zu gewarten.« – Dem guten Dagobert ging's nicht besser. Schien ihm doch die Begebenheit der Nacht nichts als ein böser Traum.