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38.

E r wanderte langsam, in tiefes Sinnen verloren, die Gasse hinab. In seiner Seele war es, wie draußen, nicht hell und nicht dunkel – eine magische Dämmerung, in welcher Alles, was ihn in den letzten Stunden bewegt hatte, in neuen Formen und Verhältnissen erschien, wie seinem Auge die altbekannte Umgebung. Die bittern Worte, die er soeben aus Onkel Peter's und der Tante Munde vernommen, klangen noch in seinem Ohr, aber wie Dissonanzen, welche die Kunst des Meisters zu einem höheren Accord harmonisch verklingen läßt; eine liebliche Mädchenstimme, die aus dem Dunkel, wie Engelsgesang, an sein Ohr und in sein Herz tönt, eine weiche Mädchenhand, die ihn die schmale Treppe hinableitet, ein paar thaufrische Lippen, die sich zum herzlichen Kuß auf seine Lippen drücken: Leb wohl, lieber Wolfgang, viel tausendmal! –

Und dann dachte Wolfgang des andern Abschieds, den er heute genommen – im hellen, grellen Lichte des Tages, in einem prächtigen Zimmer – von einer bildschönen, jungen Dame, die, als er, die Seele voll Schmerz und Zorn, nach der Thür schritt, die Augen nicht von ihrer Arbeit hob, weil sie eben mit der Nadelspitze die Stiche abzuzählen hatte, – und dann dachte er, daß diese junge Dame das Mädchen sei, das er liebe und zu seiner Gattin haben werde, um mit ihr Freud und Leid zu theilen, und sich nie von ihr zu trennen, bis der Tod sie scheide. – In diesem Augenblicke, wo er, unbeachtet von all' diesen Menschen, die an ihm vorübertrieben, oder in den Thüren standen und plauderten, einsam durch die Gassen dahinschritt, saß sie, umgeben von ihrem Hofstaat, auf dem Deck des Dampfers, lächelnd, huldvoll, sich bald zu Diesem, bald zu Jenem wendend! – Wie deutlich er das Alles sah! wie deutlich er Alles hörte! Aurelien's keckes Lachen, Willamowsky's affectirtes Schnarren, der Präsidentin langsam-phlegmatische Rede – und durch das Geplapper und Gelächter sagte eine liebe, sanfte Stimme: leb wohl, lieber Wolfgang, viel tausendmal!

Es war ein wunderliches Hinüber und Herüber – eine Quintessenz des alten Zwiespalts, der sich durch sein ganzes Leben zog, und der in letzter Zeit immer deutlichere Form gewonnen hatte, bis er sich nun schließlich in die Gestalten zweier schöner Mädchen kleidete, von denen das eine, welches er seine Braut nannte, ihn heute entlassen hatte, wie man einen gleichgültigen Besuch entläßt, und das andre, das er heute zum zweiten Mal in seinem Leben sah, von ihm geschieden war mit Gruß und Kuß, wie eine liebe Braut: Leb wohl! – leb wohl, lieber Wolfgang, viel tausendmal!

Wolfgang hatte die Absicht gehabt, noch heute Abend Münzer aufzusuchen, und so hatte er denn auch unwillkürlich den Weg nach der Gegend der Stadt eingeschlagen, in welcher der Freund wohnte. Als er in einer der einsameren Straßen dieses Quartiers, die zum großen Theil von Gärten begrenzt wurden, dahinschritt, sah er auf der andern Seite einen Mann gehen, dessen Haltung und Größe ihn an Münzer erinnerten. Er bog deshalb über die Straße hinüber; in demselben Augenblicke aber verschwand die Gestalt in der Thür eines der Gärten, der sich durch farbige Lampions, die hier und da an den Bäumen befestigt waren, als ein öffentlicher Garten ankündigte. Wolfgang war im Begriff umzukehren; er wußte, daß Münzer grundsätzlich niemals dergleichen Locale besuchte. Und doch war der Mann Münzer so ähnlich gewesen – vielleicht wollte er hier Jemand aufsuchen – Wolfgang trat ebenfalls in den Garten und folgte der Gestalt, die den langen Gang, welcher von der Eingangspforte zum Hause führte, halb hinaufging, dann in einen der schmaleren Seitenwege einbog und zuletzt in eine der kleinen Lauben trat, in denen über einem runden Tischchen, um welches ein paar Stühle standen, ein trüb brennendes Licht in einem Glaskelch herabhing. Als Wolfgang die Laube erreicht hatte, hörte er, wie der Mann bei der hübschen Kellnerin, die ihm gefolgt war, Wein bestellte, und dann sah er, wie der Mann den Hut abnahm und den Kopf aufstützte, daß die dunklen Locken wirr und wild über die schlanken weißen Hände fielen.

Es war Münzer.

Dennoch zauderte Wolfgang, den Freund anzureden. Münzer hatte augenscheinlich diese einsame Laube in dem stillsten Theil eines wenig belebten Gartens nicht aufgesucht, um in Gesellschaft zu sein – ja, in seiner ganzen Haltung lag ein Etwas, das Wolfgang mit Mitleid, ja fast mit Besorgniß erfüllte. Bevor er aber noch zu einem Entschluß gekommen war, ließ Münzer mit einem tiefen Seufzer die Hände von dem Gesicht gleiten, richtete den Kopf in die Höhe und seine Augen fielen auf den Jüngling, der nun mit dargebotener Hand und herzlichem Gruß herantrat.

»Wolfgang!« rief Münzer erstaunt; »bist Du's wirklich!« Wie kommst Du hierher?«

»Ich sah Sie in den Garten treten und bin Ihnen nachgegangen; ich war auf dem Wege zu Ihnen; ich will morgen fort; es wäre mir schmerzlich gewesen, wenn ich hätte abreisen müssen, ohne vorher von Ihnen Abschied genommen zu haben.«

»Du willst fort?« sagte Münzer zerstreut; »wohin willst Du? ja, ich erinnere mich: sie haben's mir ja erzählt. Du willst Soldat werden, oder bist es schon geworden, obgleich man Dir allerdings nichts davon ansieht. Und verlobt hast Du Dich auch mit Deiner schönen Cousine! Was nicht Alles in ein paar Monaten aus einem harmlosen Musensohne werden kann! Aber komm, Wolfgang, setze Dich zu mir! Das hübsche Mädchen bringt uns noch ein Glas – nicht wahr, Kleine? –und dann erzähle mir: wie denn dies Alles so gar wundersam gekommen ist!«

Münzer's bleiches Aussehen und das düstre Feuer, das in seinen großen Augen brannte, standen in einem unheimlichen Gegensatz zu der Heiterkeit, zu der er sich zwang. Wolfgang fiel das schmerzlich auf; auch entging ihm nicht, daß Münzer seiner Erzählung nur geringe Aufmerksamkeit schenkte, wenn er überhaupt zuhörte. Die Ueberzeugung, daß dem Freunde etwas besonders Unangenehmes begegnet sein müsse, bemächtigte sich seiner so sehr, saß er mitten in seinem Bericht abbrach und seine Hand auf Münzer's Hand legend, sagte: »Münzer, was haben Sie? was ist Ihnen?«

»Mir?« sagte Münzer, wie aus einem Traum erwachend; »was soll mir sein?«

»Sie hören nicht, was ich sage.«

»Doch, doch – ich habe Alles gehört, jedes Wort – und ich habe mich im Stillen über den Parallelismus unsrer beiden Lebenslinien gewundert. Mit unserem Streben nach dem Großen und Ganzen wären wir Beide in den kleinen Halbheiten einer gewöhnlichen Existenz verkümmert – nun packt uns das Schicksal an den Schultern, schleudert uns in die Arena des öffentlichen Lebens und zwingt uns, den Kampf aufzunehmen, dem wir sonst vielleicht feige aus dem Wege gegangen wären. Jetzt heißt es: Sieg oder Tod! Die Thore flogen dauernd hinter uns zu; zurück in den Pferch der Alltäglichkeit können wir nicht mehr.«

»Das trifft für Sie zu, Münzer, der Sie jetzt als Erwählter des Volkes die Geschicke der Nation zu lenken berufen sind. Sie treten jetzt auf den bedeutenden Schauplatz, der Ihnen endlich den nöthigen Spielraum für die Schwingen Ihres Genius bietet. Für Sie hat die Zeit gearbeitet, und Sie gehen mit der Zeit – da kann der Sieg nicht fehlen. Aber ich? ich habe das schlimme Bewußtsein, daß ich gezwungen bin, gegen den Strom der Zeit zu schwimmen, und der Strom wird mich auf den Sand setzen, – auf den Sand des Paradeplatzes – das ist die Arena, die mir sich öffnet. Ich zweifle sehr, daß in dieser Arena große Lorbeeren zu erringen sind.«

»So meine ich es auch nicht;« erwiderte Münzer: »die Hauptsache ist, daß Du in Kreise kommst, die das beneidenswerthe Vorrecht haben, sich über die Erbärmlichkeiten enger und gedrückter Verhältnisse, in denen wir Andern unsre besten Kräfte zu Grabe tragen, wegsetzen zu können. Wenn sich Tausende dieses Vorrechts nicht bedienen, so darfst Du und wirst Du ihrem Beispiele nicht folgen. Du wirst, wenn der Alte auf Rheinfelden stirbt, reich – ich glaube sogar, sehr reich werden. Reichthum ist Einfluß und Macht. Gebrauche diese Macht, gebrauche diesen Einfluß. Wo wir Andern unsre nackten Hände an der Feste des Wahns blutig ringen – da kannst Du Minen graben und allein in einer Secunde die Arbeit thun, an der Hunderte von uns sich Jahre lang vergeblich quälen. Und schilt mir nicht auf Dein Soldatenthum! Die Armeen sind die eisernen Zuchtruthen unsrer Herren. Brich diese Ruthen und ihr Arm ist ohnmächtig, wie eines Kindes Arm. Ein Freund im Lager des Feindes – das ist soviel wie ein Thor, das man zu schließen vergaß, ein Posten, der bei einem nächtlichen Ueberfall kein Alarmzeichen giebt, ein Bataillon, das im Augenblicke der Entscheidung zu uns übergeht. Ich wollte, ich könnte jede zweite Officierstelle in Europa mit einem der Unsern besetzen und in acht Tagen würde Europa frei sein.«

»Eine Freiheit, die durch tausendfachen Verrath in's Leben träte! – Nein, nein, Münzer, eine so niedrig geborene Freiheit ist nicht die Freiheit, die ich meine. Allerdings müssen die europäischen Armeen andere werden, wenn die Freiheit der Völker gesichert sein soll, – und sie werden andere werden – ich würde noch heute zurücktreten, wenn ich nicht davon überzeugt wäre – aber, ich meine mit Herrn von Degenfeld: es ist thöricht, ein Volksheer zu wollen, bevor wir noch ein Volk sind.«

»Umgekehrt!« rief Münzer mit finsterem Lachen: »es ist thöricht, zu hoffen, wir könnten je ein Volk werden, wenn wir nicht, so oder so, vorher ein Volksheer auf die Beine gebracht haben. Nein, nein, mon cher, Du bist befangen in dem Wahn, in welchem Holm und Dein Onkel Schmitz und alle die Andern befangen sind: es ließen sich die Schäden des Staates mit den Medicamenten wohlgemeinter allmäliger Reformen heilen. Diese Staatskünstler werden ihre Kunst sehr bald erschöpfen, und dann wird der Appel an die ultima ratio der Könige stattfinden, die auch die ultima ratio der Völker ist. Dann wird das Eisen heilen, was die Medicamente nicht zu heilen vermochten, und manch' Scheiterhaufen wird brennen müssen, bevor die Stickluft des Polizeistaates so weit gereinigt ist, daß eine freie Brust frei zu athmen vermag. Ich sage Dir, Wolfgang, es wird eine Zeit kommen, wo die große Idee, deren Verwirklichung wir unser Leben geweiht haben, furchtbar wie das jüngste Gericht, schreiten wir durch Europa vom Aufgang bis zum Niedergang und vom Niedergang bis zum Aufgang, wo der tiefste Grund der Menschheit wird aufgewühlt werden, damit aus dem Chaos eine neue Welt geboren wird. Wohl ihm, der sich aus der Sündfluth rettet! aber wir müssen uns darauf gefaßt machen, daß wir nicht errettet werden, sondern Angesichts des Landes der Verheißung untergehen; müssen darauf gefaßt sein, daß sie, die uns die Liebsten sind, vor unsern Augen untergehen, oder, was noch schlimmer ist, uns von sich stoßen, um sich desto sicherer retten zu können. Das aber soll und darf Den nicht hindern, der begnadigt ist, die Idee zu schauen – sein Loos ist von Alters her immer dasselbe gewesen. Vater und Mutter haben ihm geflucht, die Freunde haben ihn verrathen, sein Weib hat sich von ihm gewandt und seine Kinder haben ihn verleugnet; die schöne weite Erde hat man ihm zur Wüste gemacht, und wenn die Füchse ihre Höhlen haben – er hat nicht gehabt, wo er sein Haupt hinlege. Und doch muß er seinen einsamen Weg gehen, denn, was ihn treibt, ist viel mächtiger, denn er, und so ist das Klagen nutzlos und die Thränen sind nutzlos und Alles, was ihm bleibt, ist der Glaube an die Idee, die vor ihm herzieht, wie der goldne Stern der Verheißung.«

Münzer's Antlitz glühte, seine Augen leuchteten von dem Feuer, das in seiner Seele brannte – aber es war nur ein Moment – dann nahm sein Gesicht wieder den abgespannten, schmerzensreichen Ausdruck von vorhin an. Er schob das Glas, das er kaum berührt hatte, von sich und sagte: »Du mußt gehen, Wolfgang; es wird spät und Du willst morgen früh fort.«

»Und Sie?«

»Ich bleibe noch hier; der Abend ist so schön, der Garten so still; ich habe so Manches zu überdenken, – das kann ich hier besser, als zu Hause – und dann siehst Du – die Flasche ist noch beinahe voll, die muß doch erst geleert werden.«

Um Münzer's Lippen zuckte ein schmerzliches Lächeln.

Wolfgang erhob sich; es war klar, daß Münzer allein sein wollte.

»Leben Sie wohl, Münzer;« sagte er, »wann sehe ich Sie in der Residenz?«

»In wenigen Tagen hoffentlich, lebe wohl!«

Er reichte Wolfgang über den Tisch die Hand. Wolfgang verließ die Laube. Als er sich in dem dunklen Gange umwandte, sah er, daß Münzer wiederum den Kopf in beide Hände gestützt hatte – ein Bild schmerzensreicher, leidvoller Vereinsamung.

Wolfgang empfand das tiefste Mitleid mit dem unglücklichen Mann. Er wäre gern wieder umgekehrt – aber er wagte es nicht, und seufzend verließ er den Garten …

· · · · · · · · · · · · · · · · · ·

Am folgenden Morgen gleich nach sieben Uhr kam eine offene Equipage sehr schnell vor dem Portale des Bahnhofgebäudes vorgefahren. In der Equipage saßen die Präsidentin von Hohenstein und Camilla.

»Ist der Zug schon fort?« fragte die Präsidentin den Portier, der an den Wagen getreten war.

»Seit fünf Minuten!« erwiderte der Mann.

»O, wie fatal!« rief die Präsidentin.

»Ich sagte es ja gleich!« meinte Camilla, die sich nicht aus ihrer Ecke aufgerichtet hatte.

»Nun, wir schreiben ihm – so was arrangirt sich auch besser schriftlich;« sagte die Präsidentin. – »Nach Hause, Jean!«

Ende des zweiten Bandes.



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