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I n dem Familienzimmer des Hauses in der Ufergasse war es bereits so dunkel, daß man dicht an das Erkerfenster herantreten mußte, um in den beiden Frauengestalten, die dort saßen, Tante Bella und Ottilie zu erkennen; während die Gestalt Onkel Peter's, der in der Tiefe des Gemaches auf- und niederging, sich kaum von der altergebräunten Tapete abhob. Es hatte zwischen den Geschwistern ein langes Gespräch über Familienverhältnisse stattgefunden, das zuletzt eine für Peter peinliche Wendung genommen hatte und das er deshalb mit den Worten: »Nun gut, so müssen wir wieder von vorne anfangen und damit basta!« abzubrechen suchte.
Aber Tante Bella war nicht so leicht zum Schweigen zu bringen – besonders in dieser stillen Dämmerstunde, in der es sich so schön sprach – und sie erwiderte mit großer Lebhaftigkeit:
»Ja, wenn es damit abgemacht wäre! aber so weiß ich besser, was Alles für Dich hinter dem Basta! steckt, wieviel Mühen, Sorgen und schlaflose Nächte!«
»So laß doch wenigstens Deine Jeremiaden, bis wir allein sind!« sagte Peter ärgerlich; »was soll denn das arme Kind von dem Allen hören.«
»Ottilie ist alt genug, um das Leben sehen zu können, wie es ist,« sagte Tante Bella; »nicht wahr, Ottilie?«
»Das wohl!« erwiderte Ottilie; »aber, nimm es mir nicht übel, Tantchen: ich sehe auch nicht wie Onkel anders handeln könnte.«
»Nicht wahr?« sagte Peter mit großer Lebhaftigkeit; »Du bist ein braves Mädchen! aber sag' Deine Meinung mal frei heraus! warum glaubst Du, daß ich so und nicht anders handeln muß?«
»Weil Du die Tendenz der Zeitung nicht ändern kannst, ohne Deiner Ueberzeugung untreu zu werden, und das, denke ich mir, ist das Schrecklichste, was ein Mensch thun kann.«
»Mädchen!« sagte Onkel Peter, stehen bleibend; »Du bist mein Fleisch und Blut!«
Onkel Peter hatte das gegen seine Gewohnheit so weich und innig gesprochen, daß Ottilie von ihrem Platz am Fenster zu ihm eilen und ihn an ihr Herz drücken mußte. Onkel Peter ließ sie nicht wieder von sich; er legte seinen Arm um den schlanken Leib und begann in langsamerem Tempo seine Wanderung von Neuem.
»Natürlich!« sagte Tante Bella; »ich habe Wasser in den Adern; ich habe keine Eingeweide; ich bin aus dem Monde;« und dabei richtete Tante Bella ihre Augen auf die goldne Schale des Mondes, die eben über den First der gegenüberliegenden Dächer heraufkam.
Ottilie machte eine Bewegung nach dem Fenster hin, aber Onkel Peter hielt sie zurück.
»Ich kenne Dich besser, Bella,« sagte er, »und weiß, daß kein braveres Herz schlägt, als Deines, aber von der Politik verstehst Du ein für alle Mal nichts.«
»Und will auch gar nichts davon verstehen,« rief Tante Bella in großem Eifer; »Gott soll mich bewahren! ich habe noch nicht bemerkt, daß aus der Politik auch nur das mindeste Gute gekommen wäre, aber, großer Himmel, wie viel Schlechtes! Wenn Ihr sonst nicht den Schatten von dem Schatten eines Grundes für Eure Ueberspanntheiten aufbringen könnt – dann ist es immer die Politik, die Euch diese vernünftige Handlung nicht thun läßt und jene Thorheit wieder zu begehen zwingt, und so fort, daß einem andern ehrlichen Menschen angst und bange dabei werden kann. Weil es gegen sein demokratisches Gewissen ist, sich von Andern helfen zu lassen, hungert der Mensch, der Cajus, mit seinem zerbrochenen Arm in seiner Dachstube; – weil er nun einmal partout eine politische Rolle spielen muß, verschenkt Herr Münzer sein mühsam erworbenes Geld an Krethi und Plethi und sieht in Hinz und Kunz viel lieber seinen Nächsten als in seiner eigenen Frau und seinen eigenen Kindern. Als politischer Charakter mußt Du die Zeitung aufgeben, an der Deine ganze Seele hängt, und Dir eine Zukunft bereiten, vor der Du innerlich schauderst. – Ja, und ich möchte nur wissen, welches Recht Ihr habt, auf die Andern zu schelten, die nicht so thun, wie Ihr wollt, und die sich für ihr schlechtes Thun ja auch auf ihre politische Stellung berufen können und berufen! Du schiltst auf die Aristokraten, der Stadtrath schilt auf die Demokraten; Dein Grundsatz ist: Gleich und Gleich gesellt sich gern; der Stadtrath sagt dasselbe. Warum soll er uns also nicht sein Haus verbieten? warum soll Wolfgang nicht Officier werden und Camilla heirathen? Was Einem recht ist, ist dem Andern billig.«
Eine Rechtfertigung oder gar ein Lob des Stadtrats war etwas so Ungewöhnliches in Tante Bella's Munde, daß Peter im ersten Augenblicke vor Erstaunen gar nicht wußte, was er erwidern sollte. Ottilie hörte nur, wie schwer und hastig er athmete; sie fürchtete einen Ausbruch seiner Heftigkeit und sagte deshalb schnell und leise: »Sei der Tante nicht bös, Onkelchen; sie meint es ja so gut.«
Aber wie leise Ottilie das auch gesagt hatte, Tante Bella's scharfes Ohr hatte es doch vernommen: »Ich kann meine Sache schon allein führen, Kind,« sagte sie bitter, »und brauche keinen Advokaten.«
»So?« sagte Onkel Peter, »brauchst keinen Advokaten? – Laß mich, Kind, ich bin vollkommen ruhig; ich hätte viel zu thun, wenn ich über dergleichen in Aufregung gerathen sollte. Aber das sage ich Dir, Bella, wenn Du noch einmal einem Menschen das Wort redest, der sich so schwer an mir versündigt, der mich um das Glück meines Lebens betrogen und schließlich sein Werk damit gekrönt hat, daß er dieses Kind hier – mein Kind – von seiner Schwelle gewiesen hat – so soll –«
Peter Schmitz schlug sich vor den Kopf und murmelte den alten Spruch durch die Zähne, dessen Weisheit ihn schon durch so manches Irrsal sicher geleitet hatte: »ruhig, Peter, ruhig!«
»Nun, was soll dann mit mir geschehen?« fragte Tante Bella mit einer Stimme, die ironisch klingen sollte, aber sehr weinerlich klang; »was giebt es denn, was so schlecht ist, daß es gut genug für Bella Schmitz wäre? Sprich es doch nur aus: überraschen wird mich Nichts, davon sei überzeugt!«
»Adieu, Ottilie!« sagte Peter Schmitz, seiner Nichte so heftig die Hand drückend, daß sie beinahe vor Schmerz aufgeschrieen hätte, und er eilte nach der Thür.
Als er sie noch nicht erreicht hatte, wurde sie von draußen geöffnet und eine hohe Gestalt trat in das halbdunkle Gemach.
»Wer da?« schrie Peter.
»Ich bin's, – Wolfgang! ich hörte sprechen, und so bin ich hereingetreten. Es freut mich, daß ich Dich treffe, Onkel; ich komme, um Abschied von Dir zu nehmen.«
»Den ich von Dir und Deinem Vater schon längst genommen habe,« sprudelte Peter Schmitz, rannte, ohne Wolfgang's dargebotene Hand zu berühren, aus der Thür und warf dieselbe so ungestüm hinter sich zu, daß der Knall wie ein Donnerschlag durch den weiten öden Hausflur hallte.
Wolfgang war über diesen Empfang, dessen Unfreundlichkeit selbst seine schlimmsten Erwartungen weit übertroffen hatte, zu bestürzt, um gleich zu einem Entschluß kommen zu können. Dann erinnerte er sich, daß Onkel Peter in der That Fug und Recht hatte, sich beleidigt zu fühlen, und daß es an dem Sohne sei, die Schuld des Vaters zu sühnen. So trat er denn näher an das Erkerfenster heran, das jetzt beinahe ganz von dem traulichen Schein des Mondes ausgefüllt war und sagte:
»Ihr werdet mich nicht ungehört verdammen, Tante Bella, und Du, liebe Ottilie?«
»Da möchtest Du Dich doch irren;« erwiderte Tante Bella, in deren Adern das schon durch den Streit mit ihrem Bruder aufgeregte Schmitz'sche Blut durch den Anblick des Verräthers vollends zu stürmen begann: »und was wäre da noch zu hören? ich dächte, die Thatsachen sprächen deutlich genug. Ist das der Lohn für all' die Liebe, die wir an Dich verschwendet haben? Wann bist Du zu uns gekommen, als kleiner Junge, wo Tante Bella nicht einen Apfel und eine Geschichte für Dich gehabt hätte, und Onkel Peter einen Bilderbogen, oder eine Feder mit bunter Fahne, oder ein hübsches Buch? Wann bist Du zu uns gekommen, nachdem Du erwachsen warst, wo ich Dich nicht mit offnen Armen aufgenommen, und mein armer Bruder, der nie für sich selbst Wein trinkt, die beste Flasche heraufgeholt hätte, die er im Keller hat? Wann hast Du je aus meinem Munde, oder aus seinem Munde etwas Anderes als freundliche Worte gehört, die wir genau so meinten, wie wir sie sagten? Und was ist der Dank dafür gewesen? Ich will von mir nicht reden, denn auf mich kommt schließlich nichts an; aber wie habt Ihr meinen armen Bruder behandelt, von dem ein Haar auf seinem Haupte hunderttausendmal mehr werth ist, als Ihr Alle zusammengenommen? verbittert habt Ihr ihm das Leben; ja, ja! eben hat er es noch selbst gesagt: versündigt habt Ihr Euch an ihm, so schwer, wie sich sonst kein Mensch an ihm versündigt hat; vergällt habt Ihr ihm das Leben, daß er nun selbst von uns nichts mehr wissen will, und an mir seinen Zorn ausläßt, der Euch und Euch allein zukommt. Aber treibt's nur so weiter, und Ihr werdet ja sehen, wohin das führt! verachtet nur immer Eure Verwandten in der Ufergasse, und werft Euch Eurer adligen Sippe in die Arme! stolzire Du nun einher im bunten Rock, wie Joseph! Du wirst schon noch, wie Joseph, in eine Grube gerathen, denn Hochmuth, Wolfgang, Hochmuth kommt vor dem Fall! Heirathe Du nur immer Dein gnädiges Fräulein! mir soll es recht sein! aber das verlange nur nicht, Wolfgang, daß Tante Bella jetzt noch zu Dir hält, wie früher; das verlange nicht, Wolfgang, daß ich Dich in mein Gebet aufnehme, wie ich es noch jeden Abend gethan, seitdem ich Dich über die Taufe hielt. Ich will Dir nichts Böses wünschen – aber beten, Wolfgang, beten kann ich nicht mehr für Dich!«
Tante Bella hatte sich erhoben und war von dem Tritt im Fenster heruntergestiegen und auf Wolfgang zugetreten, denn Tante Bella verhandelte mit ihren Freunden und Feinden gern Aug' in Auge. Als Wolfgang nun noch immer schwieg und auch nicht einmal den Versuch einer Erwiderung gemacht hatte, gerieth Tante Bella in Zweifel, ob sie über eine solche Verstocktheit nicht in noch größeren Zorn gerathen solle, oder ob sie nicht doch vielleicht dem armen Jungen bitter Unrecht gethan habe und ihm deshalb um den Hals fallen und ihn um Verzeihung bitten müsse. Da sie in dem Drang des Augenblicks nicht mit sich darüber einig zu werden vermochte, welcher von den beiden der für sie würdigere und den Umständen angemessenere Ausgang sei, so begnügte sie sich, laut auf zu weinen, in die Nebenstube (ihre Stube) zu eilen, die Thür etwas unsanft hinter sich zuzumachen und sodann – zum Zeichen, daß sie vorläufig mit der bösen, nichtsnutzigen Welt nichts mehr zu thun haben wolle, – den Schlüssel umzudrehen und zum Ueberfluß den Riegel vorzuschieben.
Wolfgang hatte sich während des Sturmes, der so unversehens über ihn hereingebrochen war, nicht von der Stelle gerührt. Seine Augen waren unverwandt auf die schlanke, vom Mondschein umspielte Gestalt Ottilien's gerichtet gewesen, als käme es ihm einzig und allein darauf an, ob das schöne sanfte Mädchen ihn auch verdammen würde, wie die Andern; ja er hatte mit Bestimmtheit erwartet, daß sie der Tante in das Wort fallen und für ihn sprechen werde. Aber Ottilie schwieg, schwieg auch jetzt, und schmerzlich enttäuscht wandte sich Wolfgang, um still, ohne Klage, ohne Vorwurf, die ungastliche Schwelle wieder zu überschreiten. Da hörte er hinter sich das eilige Rauschen eines Gewandes, eine warme Hand ergriff mit sanftem Druck seine Hand und eine melodische Stimme sagte:
»Wolfgang, geh' nicht so fort! geh' nicht fort, ohne mir gesagt zu haben, daß Du dem Onkel und der Tante verzeihen willst!«
Wolfgang schaute in das liebliche, von Thränen überflossene Antlitz, und bei diesem Anblick verschwand Alles, was, von Bitterkeit noch in seiner Seele war.
»Habe Dank, Ottilie!« sagte er – und seine Finger schlossen sich fester um die zarte Hand, die in der seinen ruhte. – »Wie Du mir neulich Abends an dem Bette der Mutter erschienst, so erscheinst Du mir heute – ein Engel, der Trost und Frieden bringt. Lebe wohl!«
»Ich will Dich hinaus begleiten,« sagte Ottilie; »es ist so dunkel auf der Gallerie, und Du bist so lange nicht hier gewesen.«
Wolfgang hätte seinen Weg zum Hause hinaus recht wohl auch im Dunkeln finden können, aber er machte keinen Versuch, Ottilien zurückzuhalten. So gingen sie denn Hand in Hand über die schmale Gallerte die enge knarrende Treppe hinab.
Unterdessen sagte Ottilie:
»Ist es wahr, Wolfgang, daß Du Officier wirst?«
»Ja.«
»Und daß Du, – daß Du verlobt bist?«
»Ja.«
»Und daß Du von hier fortgehst?«
»Schon morgen früh – auf ein halbes Jahr; nicht wahr, nun giebst Du mich auch auf, wie die Andern?«
»Nein, Wolfgang, Du siehst viel zu gut und edel aus! Du kannst nichts Schlechtes thun; mich dauert nur Deine arme Mutter; sie wird Dich schwer vermissen.«
»Willst Du zu ihr gehen, Ottilie, wenn ich Dir verspreche, daß der Vater selbst Dich bitten wird, so oft Du kannst, zu kommen?«
»Dessen bedarf's gar nicht, wenn ich nur weiß, daß ich kommen darf. Ich habe Deine Mutter sehr lieb.«
»Und sie Dich, und ich habe Dich auch lieb, Ottilie – sehr lieb.«
Wolfgang stand am Fuße der Treppe, Ottilie auf der letzten Stufe. Durch die weit offen stehende Hausthür fiel ein breiter Mondenstreif in den Flur, aber an der Stelle, wo sie standen, war es dunkel, so daß Wolfgang nur eben die Umrisse von Ottilien's Gestalt wahrzunehmen vermochte. Er beugte sich näher zu ihr; der warme Athem ihres Mundes berührte seine Wange.
»Lebe wohl, Ottilie!«
»Leb wohl, lieber Wolfgang, viel tausendmal!« Sie hatten ihre Arme, Eines um das Andre, geschlungen und ihre Lippen begegneten sich.
Und schnell, wie sie sich gefunden, hatten sie sich auch wieder getrennt. Ottilien's leichte Gestalt eilte die dunkle Treppe wieder hinauf; Wolfgang trat durch die Hausthür in die vom Dämmerschein des Mondes erfüllte Gasse.