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W ie sehr der Stadtrath auch darnach verlangte, sich mit seinem Sohne definitiv zu verständigen, so war es doch erst am Morgen des folgenden Tages, daß er sich zu einer Unterredung von solcher Wichtigkeit entschließen konnte. Gestern hatte er nicht mehr in die rechte Stimmung kommen können. Nichts destoweniger hatte er den Rest des Tages eifrig benutzt, um die Angelegenheit weiter zu bringen, ja, er hatte sie im Grunde so weit gebracht, daß sein Sohn, wenn er den Vater nicht geradezu Lügen strafen wollte, genau so handeln mußte, wie der Vater es wünschte. Und das war eben die Absicht des Stadtraths gewesen. »Ich muß ihm mit einem fait accompli imponiren; wenn er nicht mehr zurückkann, muß er vorwärts.«
So hatte er sich denn nicht gescheut, in dem Besuch, welchen er unmittelbar nach der Unterredung mit seiner Gattin, seinem Bruder, dem Obristen, abstattete, zu erklären, daß es von je Wolfgangs eifrigster Wunsch gewesen sei, Officier zu werden, und daß er (der Vater) nur in Rücksicht auf das gespannte Verhältniß mit seinen Brüdern diesem Wunsch nicht gewillfahrt habe. Bei der Zusammenkunft mit dem Präsidenten gestern Nachmittag hatte er, unter dem Druck gänzlicher physischer Abspannung und der Furcht vor einer möglichen Weigerung seines Sohnes, freilich »von einigen leicht zu beseitigenden Scrupeln« gesprochen, die Wolfgang noch bezüglich seiner künftigen Carrière habe; dafür hatte er aber am Abend beim Präsidenten, wo seine Stimmung durch den günstigen Empfang wieder gehoben war, dem General Hinkel, dem Baron Willamowsky und ebenso den anderen Herren im Vertrauen mitgetheilt, daß sein Sohn die Juristerei, für die er nun doch einmal bei seiner entschiedenen Neigung für ein freieres Leben nicht tauge, an den Nagel hängen und des Königs Rock anziehen werde. Die vertraulichen Anfragen Einzelner, ob denn an dem Gerücht einer Verlobung zwischen seinem Sohne und Fräulein Camilla etwas sei, hatte er mit einem diplomatischen Lächeln erwidert, und mit der Präsidentin in einer längeren Unterredung sich über die Schritte, die in dieser für beide Theile gleich wichtigen Angelegenheit demnächst zu thun seien, vollständig geeinigt.
Das war nun Alles wohl recht gut; aber das Schwerste blieb noch übrig. Herr von Hohenstein hatte das in diesem Augenblick doppelt drückende Bewußtsein, daß er von jeher mit seinem Sohne in den wenigsten Fragen – und in den wichtigsten am wenigsten – übereingestimmt hatte. Und doch hing von dieser Uebereinstimmung jetzt geradezu Alles ab.
»Wenn er nun Nein sagt,« fragte sich der Stadtrath, während er sein Zimmer abschloß, um sich zu seinem Sohne hinaufzubegeben, und bei diesem Gedanken kam eine Zaghaftigkeit über ihn, die alles schon Errungene wieder in Frage zu stellen schien. Aber die Zeit drängte; in einer Stunde konnte – der gestrigen Verabredung gemäß – die Präsidentin mit ihren Töchtern kommen, um sich nach dem Befinden des lieben Kranken zu erkundigen. Bis dahin mußte Alles geordnet sein. Der Stadtrath nahm alle seine Kraft zusammen – das hohe Spiel, das sich bis jetzt so glücklich angelassen hatte, mußte zu Ende gespielt werden.
Während so von allen Seiten an dem feinen Netz, in welchem sich Wolfgang fangen sollte, von klugen Händen eifrigst geflochten und geschürzt war, hatte der Ahnungslose sich die Einsamkeit seiner Krankenstube mit den freundlichsten Bildern geschmückt. Das Gefühl des durch die kurze Krankheit neu gekräftigten Lebens vereinigte sich mit dem für ein junges, reines Gemüth so süßen Bewußtsein, zu lieben und geliebt zu werden, um seine Seele mit einer Heiterkeit zu erfüllen, wie er sie seit seinen Kinderjahren nicht wieder empfunden hatte. Die Zukunft erschien ihm, wie dem rüstigen Wanderer von der Höhe des Berges ein schönes sonniges Land erscheint, an dessen Anblick er sich nicht sättigen kann und von dem er zum Voraus überzeugt ist, daß ihm in diesem lieblichen Revier die reizendsten Abenteuer begegnen müssen. Zwar ist es mit seiner Kenntniß des Weges so ein eigen Ding. Er hat sogar eine unbestimmte Ahnung, daß dieser Weg gar nicht so leicht zu finden sein dürfte, daß er in Folge dessen mit manchen Schwierigkeiten zu kämpfen, manche Hindernisse zu überwinden haben wird. Aber dies reizt nur noch mehr. Ist er doch jung, ist er doch voll Muth und Kraft – da muß sich ja alles Andre – und besonders der Weg, der unbekannte Weg – von selber finden!
Freilich, wenn Wolfgang zurückblickte auf sein vergangenes Leben, schien eine so sanguinische Auffassung der Zukunft wenig gerechtfertigt. Seine Jugend war sehr freudlos gewesen; nur zu oft war er schmerzlich an den tiefen Riß erinnert worden, der die Klassen der Gesellschaft in ebenso viele feindliche Heerlager scheidet, denn dieser Riß war mitten durch seine Familie, ach! und wie oft mitten durch sein Herz gegangen! Wie oft hatte er von seinem Vater den Hochmuth seiner vornehmen Verwandten verwünschen hören, die ihn in den Bann gethan hätten, weil er kühn genug gewesen sei, dem Zuge seines Herzens frei zu folgen; wie oft hatte er die Mutter klagen hören, daß sie sich von den Ihrigen getrennt sehe, die sie doch so sehr liebe und die diese Liebe so ganz verdienten. Wie oft hatte er sich gelobt, sein ganzes Leben der Versöhnung so unberechtigter, so grausamer Gegensätze zu weihen! Und wenn er, der durch seine Geburt mitten in diese Gegensätze gestellt war, die Liebe der jungen Aristokratin und die Achtung der ganzen aristokratischen Sippe gewann und dabei doch seinen freisinnigen Grundsätzen, seinem Streben, das ganz auf eine Reform der Gesellschaft im Sinne der Freiheit und Brüderlichkeit gerichtet war, treu blieb – wenn er durch sein Leben, durch sein Handeln, durch seine Erfolge bewies, daß man ein bürgerlich schlichter Mann sein und dabei doch die adelig feinen Sitten schätzen und pflegen könne – war er da nicht auf dem besten Wege, sein jugendlich begeistertes Gelöbniß zu erfüllen, so weit es eben in seiner schwachen Kraft lag? war er, wenn er dies erstrebte, dies erreichte, nicht im vollen Einklang mit der Zeit, dieser brausenden, tosenden Zeit, deren wilde Wellen sich ja doch schließlich zu dem ruhigen Spiegel einer höheren Bildung und Gesittung sänftigen mußten?
Ein leises, fast schüchternes Klopfen unterbrach den Jüngling in diesen friedlichen Meditationen. Ohne Zweifel war es die Mutter; sie hatte sich merkwürdiger Weise diesen ganzen Morgen noch nicht sehen lassen; sie sollte ihn schlafend glauben, und erstaunen, wenn sie, hereintretend, ihn vollständig angekleidet mitten im Zimmer in dem alten Lehnstuhle sitzen sah. Das Klopfen wurde wiederholt – aber lauter, ungeduldiger. »Herein!« sagte Wolfgang, sich unwillkürlich von dem Stuhle erhebend und auf die Thür zugehend.
»Du bist es, Vater!«
»Ich bin's, mein Sohn!« sagte der Stadtrath, indem er Wolfgang mit großer Zärtlichkeit umarmte; »Du hast mich seit einigen Tagen nicht gesehen, Du böser Junge; aber wer heißt Dich auch jedesmal, so oft Dein Vater Dich zu besuchen kommt, in einem so krankhaft tiefen Schlaf liegen. Nun, nun! Du bist ja wieder wohl auf. Das freut mich herzlich. Aber setze Dich, mein Junge; setzen wir uns; ich bin auch angegriffen, sehr, sehr! Es ist eine heiße Zeit und man kommt nicht zu Athem.«
»Du siehst in der That recht abgespannt aus, Vater;« sagte Wolfgang, wieder auf dem Armstuhl Platz nehmend, nachdem der Vater sich wenige Schritte von ihm auf das Sopha gesetzt hatte. »Wie sieht es denn in der Stadt und draußen in der Welt aus? ich bin wahrhaftig seit meiner Rückkehr von Rheinfelden, ja, und auch eigentlich schon, seitdem ich in Rheinfelden war, außer allem Zusammenhang mit den öffentlichen Angelegenheiten.«
»Weil uns die Angelegenheiten unsres eignen kleinen Lebens so ganz in Anspruch nahmen? he?« sagte der Stadtrath lächelnd; »nun, nun, brauchst nicht so roth zu werden, mein Junge! Ueber kurz oder lang hätte ich es ja doch erfahren, und ich gestehe Dir ganz offen, daß es mir lieb, sehr lieb ist, es gerade jetzt erfahren zu haben.«
Wolfgang war durch diese nicht mißzuverstehenden Worte des Vaters in eine sprachlose Verlegenheit gesetzt. Er hatte seinem Vater von Jugend auf so fremd gegenüberstanden; kaum jemals war ein herzliches, vertrauliches Wort zwischen ihnen gewechselt worden; – und jetzt sah er den Vater auf einmal im Besitz des Schlüssels zum Geheimniß seiner Geheimnisse. Zum ersten Male in seinem Leben hatte Wolfgang ein Gefühl des Unmuths gegen seine Mutter. Warum hatte sie dem Vater das gesagt? und ohne ihn vorher zu fragen, ohne ihn auf diese Scene vorzubereiten? Es war nicht Recht von der Mutter.
Der Stadtrath war ein viel zu kluger Mann, als daß er sich nicht die verwirrten Mienen, den halb düstern, halb scheuen Blick seines Sohnes richtig hätte deuten können.
»Wir haben einen Fehler wieder gut zu machen, lieber Wolfgang,« sagte er, »und ich meines Theils habe mit Freuden diese Gelegenheit dazu ergriffen. Wir hätten schon früher bedenken sollen, daß wir von der Natur zur gegenseitigen Freundschaft, zum gegenseitigen Schutz und Trutz, wenn ich mich so ausdrücken darf, bestimmt sind, und hätten nicht vergessen sollen, daß Vertrauen, offenes, rückhaltloses Vertrauen die Basis eines solchen Bundes ist. Indessen ist noch nichts verloren; ich konnte Deiner lieben Mutter neidlos den vollen Schatz Deines Vertrauens gönnen, denn was bisher zwischen Euch verhandelt ist, wird wohl von einer weiter greifenden Bedeutung schwerlich gewesen sein. Aber jetzt steht die Sache anders. Du bist im Begriff, mit einem Schlage die Bahn Deines ganzen Lebens in die Zukunft hineinzuzeichnen, und ich kenne Dich zu gut, um nicht zu wissen, daß Du Dich mit dem ersten Schritt auf dieser Bahn zu allen übrigen verpflichtet erachten wirst. Hier tritt der Vater, hier muß der Vater in seine Pflichten, in seine Rechte treten. Du wirst die väterliche Freundeshand, die sich Dir voll herzlicher Liebe entgegenstreckt, nicht zurückweisen – nicht wahr, mein Sohn?«
Der Stadtrath hatte das in einem so weichen Ton gesagt, die tiefe Bewegung seiner Seele lag so sichtbar auf seinem ausdrucksvollen Gesicht, daß Wolfgang die dargebotene Hand des Vaters mit einer Rührung ergriff, an welcher – ihm selbst freilich unbewußt – die aus der Krankheit zurückgebliebene Nervenschwäche einen nicht geringen Theil hatte.
Der Stadtrath triumphirte; er hatte sich den Sieg nicht so leicht gedacht. Er beglückwünschte seinen Sohn über die Wahl, die er getroffen, um so mehr, als dieselbe nicht nur von keiner Seite auf einen Widerstand stieße, sondern von allen Seiten gewünscht, befürwortet und als ein Akt der Versöhnung zwischen den so lange getrennt gewesenen Geschwistern betrachtet würde. Lachend sagte er:
»Ihr Guten glaubet Euch ganz unbeobachtet, während Ihr in dem schönen Rheinfelder Park Sonne, Mond und Sterne anschwärmtet; aber wir Alten hatten schon längst die Köpfe zusammengesteckt und waren einig, ehe noch Eure Herzen einig waren. Und, weißt Du, wer sich von Anfang an am allermeisten für das junge Pärchen interessirt hat? der Großonkel selbst. Ich glaube, der alte Herr würde untröstlich sein, wenn – was Gott verhüten wolle! – sein Lieblingsprojekt aus einem oder dem andern Grunde nicht zu Stande käme; und nicht blos untröstlich, sondern, wie das bei seiner heftigen Natur erklärlich genug ist: sehr zornig, so zornig, daß –«
Der Stadtrath schwieg und strich sich mit der Hand über die Stirn. Er hatte bemerkt, daß Wolfgang's Gesicht während des letzten Theils der Unterredung einen weniger freundlichen Ausdruck angenommen hatte. In der That fühlte sich der Zartsinnige durch dies Hereinbrechen einer spürenden, beobachtenden, hinter seinem Rücken Pläne schmiedenden Welt in das stille und, wie er glaubte, Allen unbekannte Heiligthum seiner Liebe peinlich genug berührt. Dennoch unterdrückte er seine Empfindlichkeit und sagte mit einem, allerdings etwas gezwungenen Lächeln:
»Ich versichere Dich, lieber Vater, daß ich meinestheils durchaus nicht die Absicht habe, den Zorn des Großonkels auf uns herabzurufen, und ich glaube kaum, daß Camilla in diesem Punkte anders denkt.«
»Nun, das ist ja recht schön, recht schön,« sagte der Stadtrath, »der Großonkel hat über die Bedingung, an deren Erfüllung Deinerseits er seine Einwilligung geknüpft hat, bereits mit Dir gesprochen, nicht wahr?«
»Der Großonkel? eine Bedingung?« erwiderte Wolfgang erstaunt.
»Hm, hm, das wundert mich. Aus einem Briefe vom Großonkel, den ich gestern Morgen erhielt, glaubte ich schließen zu dürfen, daß Ihr Euch über diesen Punkt vollständig verständigt hättet. Hat der Großonkel niemals über gewisse Pläne mit Dir gesprochen, die er für Deine Zukunft, für Deine zukünftige Carrière gemacht hat?«
»Er hat allerdings wiederholt darauf hingedeutet, daß er, wie er sich ausdrückte, Etwas mit mir im Sinne habe; ich habe das aber immer nur für einen allgemeinen Ausdruck seines Wohlwollens für mich ohne eine bestimmte Nebenbedeutung genommen.«
»Hm, hm! in dem Briefe hat er diesen Plan ganz bestimmt formulirt. Ich bin mit diesem Plane um so mehr einverstanden, als ich denselben schon vor Jahren selbst in Angriff genommen hätte, wenn damals die Verhältnisse so günstig gewesen wären, wie sie es jetzt sind.«
»Aber, lieber Vater, welches ist denn dieser geheimnisvolle Plan?« fragte Wolfgang, dem die Wendung, welche das Gespräch genommen hatte, mit jedem Augenblicke peinlicher wurde.
»Kein anderer,« erwiderte der Stadtrath mit einer halb empfundenen und halb affectirten Feierlichkeit, »als daß wir Alle Dich gern das Handwerk ergreifen sähen, das meiner Ansicht nach eines Edelmanns einzig und allein würdig ist, das alle Hohensteins viele Generationen hindurch mit ganz wenigen Ausnahmen geübt haben, das ich selbst geübt habe und das ich nur Deiner Mutter zu Liebe und auch dann noch mit tiefstem Schmerz aufgegeben habe – das –«
»Ich soll Soldat werden,« rief Wolfgang, der bei den letzten Worten des Vaters aufgesprungen war und mit großer Erregung im Zimmer auf- und abging.
»Officier, wenn Du erlaubst.«
»Nimmer – nimmermehr!«
Der Stadtrath hatte diese Weigerung mit zu großer Bestimmtheit erwartet, als daß er durch dieselbe irgend wie hätte überrascht sein können. Nichtsdestoweniger hielt er es für zweckmäßig, eine Miene halb der Verwunderung, halb des Schmerzes anzunehmen und mit gepreßter Stimme, zu sagen:
»Und darf ich fragen, weshalb mein Sohn einen Beruf verschmäht, dem so viele seiner Vorfahren angehört haben?«
»Ich bin nicht darauf vorbereitet, Dir auf diese Frage eine befriedigende Antwort zu geben, Vater;« erwiderte Wolfgang; »mein ganzes Leben, wenn Du willst, ist die Antwort darauf. Ich bin groß geworden in der Verehrung des Wahren und Rechten, in der Abneigung gegen alle Anmaßung, alles Unrecht. In jeder Bevorzugung eines Standes aber vor dem andern sehe ich eine tiefe, schmerzliche Wunde unserer socialen Zustände. Welcher Stand aber ist durch eine tiefere Kluft von der übrigen Gesellschaft getrennt, als gerade der Officierstand? in welchem Stande ist die Ueberlieferung mittelalterlich verschnörkelter Begriffe, absurder, schädlicher Vorurtheile so lebendig, wie in dem Officierstand? in welchem Stande hat in Folge dessen Jemand, der, wie ich, mit freien Menschen brüderlich leben möchte, so wenig Aussicht, sich behaglich und befriedigt zu fühlen, als gerade im Officierstand? Nein, nein, Vater, in diesem Stande zu leben, würde mein Unglück sein, wie es Dein Unglück gewesen ist.«
»Mein Unglück?« sagte der Stadtrath empfindlich; »ich hätte das Unglück, Officier zu sein, sehr gern ertragen; ich habe, wie Du weißt, sehr wenig Sympathie für Deine neumodischen, schwärmerischen Ideen.«
»Möglich, Vater, aber Du hast ein Herz, und Dein eigen Schicksal ist der beste Beweis, daß mau in jenem Stande kein Herz haben darf. Weshalb wollte man nicht, daß Du meine Mutter heirathetest? weil sie nicht adelig und nicht reich war! Was haben der Adel und der Reichthum mit der Liebe zu thun? Weshalb mußtest Du Deinen Abschied nehmen? weil Du einem Stande nicht angehören wolltest, in welchem jede beste Regung unserer Natur dem Moloch eines falschen Ehrbegriffs geopfert wird. Vater, Du kannst mir nicht zumuthen, ein Handwerk zu ergreifen, das zu allen übrigen Gewerben in eine so schiefe, so verhängnißvoll schiefe, so unhaltbare Lage gerathen ist.«
»Ich habe Dich aussprechen lassen, lieber Wolfgang,« erwiderte der Stadtrath mit einer Ruhe, welche die bleichen Wangen und der düstre Ausdruck der Augen Lügen straften; »nun höre auch Du mich gelassen an. – Was Du da mir eben gesagt hast, beweist mir nur, wie unrecht ich gethan habe, daß ich nicht schon viel früher versuchte, meinen Einfluß – den Einfluß eines allerdings nicht eben gelehrten, aber nüchternen und verständigen Mannes – bei Dir Geltung zu verschaffen. Du bist so in eine Richtung hineingerathen, die mich für das Glück Deiner Zukunft mit den schwersten Sorgen erfüllt, in dieselbe Richtung, in welcher ich jetzt alle jene Menschen thätig sehe, die wie Dein Onkel Peter, um ihre socialen Utopien durchzusetzen, alle bestehenden Verhältnisse unter die Füße treten. Doch verlieren wir uns nicht in theoretische Dispüte, die doch zu keinem Resultat führen, und halten wir uns an den vorliegenden Fall. Die Sache ist nun ganz einfach die: Wenn Du auf den Wunsch des Großonkels, der auch unser Aller Wunsch ist, eingehst, so hast Du – ganz abgesehen davon, daß Du in spätestens einem Jahre Officier und also im Stande bist, Camilla zu heirathen – die sichre Hoffnung, ja, ich darf wohl sagen, die Gewißheit, den alten Herrn entweder ganz oder doch jedenfalls zum größten Theil zu beerben, das heißt, mit einem Schlage und mühelos ein Vermögen zu erhalten, um das sich Andre ihr Leben lang vergeblich abarbeiten. – Verschmähst Du aber, was Dir das Glück mit offenen Händen bietet, so hast Du nicht die geringste Aussicht, Camilla jemals die Deine zu nennen, denn der Großonkel ist, wie Du sehr wohl weißt, nicht der Mann, sich ungestraft beleidigen zu lassen. Er wird unwiderruflich seine Hand von Dir abziehen und die Andern werden seinem Beispiele folgen. Dann bist Du wieder, was Du warst, ehe Du nach Rheinfelden gingst; ein armer Student, der keine besseren Chancen für das Leben hat, als der Sohn von jedem beliebigen Gevatter Schneider oder Handschuhmacher, der mit saurem Schweiß so viel erübrigt hat, um seinen Jungen auf die Universität schicken zu können.«
»Immer noch besser,« murmelte Wolfgang, »als ein Apostat seiner Ueberzeugungen werden.«
Der Stadtrath erhob sich von dem Sopha und sagte in ruhigem Ton, aber mit bleichen, vor Aufregung zitternden Lippen:
»Nun wohl! folge Deinen Ueberzeugungen! bringe Deinen Ueberzeugungen Dein eigenes Glück, das Glück des Mädchens, das Dich liebt und das Du zu lieben vorgiebst, zum Opfer. Und wenn Dir das noch nicht genug des Opfers ist, dann tröste Dich mit dem heroischen Gedanken, daß Du Deinen Vater vom schmählichen Verderben hättest retten können, und ihn, Deinen Ueberzeugungen zu Liebe, nicht gerettet hast.«
Er bedeckte sich das Gesicht mit den Händen und ging nach der Thür.
Wolfgang eilte ihm nach und vertrat ihm den Weg.
»Um Gotteswillen, Vater, was heißt das?«
»Laß mich!« sagte der Stadtrath; »was liegt Dir an dem Schicksal Deines Vaters!«
»Vater, ich beschwöre Dich: geh' nicht so von mir! vergiß, was ich gesagt habe! laß mich nicht mit dem gräßlichen Vorwurf auf dem Gewissen hier zurück! Sprich Dich ganz aus! Du kannst mir vertrauen; ich bin nicht der unbesonnene Knabe, für den Du mich nach meinen Reden halten magst. Ich bin kein Undankbarer, den das Schicksal seines Vaters gleichgültig läßt. Ich beschwöre Dich, Vater: sage mir, was Du auf dem Herzen hast!«
Wolfgang hatte den Vater nach dem Sopha gedrängt, und blickte ihn, sich zu ihm setzend, mit seinen treuen und klugen Augen angstvoll an.
»Ich danke Dir, mein Sohn, für Deine Theilnahme,« sagte der Stadtrats mit dumpfer und bewegter Stimme; »ich weiß, daß Du gut bist, und was ich vorhin sagte, das fuhr mir nur so heraus und ich bitte Dich deshalb um Verzeihung. Ich wollte mich, wenn es möglich war, aus dem Spiel lassen, um der Freiheit Deiner Entschließung keinen Zwang anzuthun, aber es hat nicht sein sollen. So muß es denn doch gesagt sein. Ich bin ruinirt, Wolfgang. Meine Angelegenheiten stehen so, daß, wenn ich nicht Unterstützung finde, ich den Gerichten meinen Banquerut anzeigen muß. Eine solche Schande aber kann ich und werde ich nicht überleben. Und doch sehe ich keinen Ausweg, als nur den einen: Aussöhnung mit dem Onkel auf Rheinfelden, dem Einzigen, der mir helfen kann und der dem Vater seines Erben, seines erklärten Günstlings, helfen wird. Wenn Du seinem dringenden Wunsche, den er gegen mich, gegen meine Brüder schriftlich in der bestimmtesten Weise geäußert hat, folgst, so kannst Du füglich die Hälfte seines Vermögens als Dein Eigenthum betrachten, und so kommt in Wahrheit mir die Rettung von dem, von welchem ich mich am liebsten gerettet sehe, von Dir, meinem lieben Sohn.«
Der Stadtrath hatte sich in eine Rührung hineingesprochen, die ihm die Thränen aus den Augen trieb. Er umarmte schluchzend seinen Sohn. Wolfgang war auf's tiefste bewegt.
»Lieber Vater,« sagte er leise und fest, »zähle auf mich; man kann schließlich in jeder Lage ein ehrlicher Mann sein und bleiben; aber ich wüßte keine Lage, in der mich das Bewußtsein, meinen Vater in seinem Unglück verlassen zu haben, nicht zur Verzweiflung treiben würde. Und nun noch Eins, lieber Vater, weiß die Mutter von Deiner Situation?«
»Nein, und sie darf es auch nicht wissen.«
»Das meine ich auch; sie hat jetzt so schon Kummer genug, und ich fürchte die Aussicht, mich dereinst mit Epauletten zu sehen, wird gerade nicht zu ihrer Beruhigung beitragen. Davon weiß sie doch?«
»Ja; ich sagte es ihr gestern schon.«
»Dachte ich's mir doch, daß sie irgend etwas auf dem Herzen habe, was sie mir nicht mittheilen konnte oder wollte! Deshalb hat sie sich den ganzen Morgen noch nicht bei mir sehen lassen. Wollen wir sie aufsuchen?«
»Mit Vergnügen, mein Herzensjunge,« sagte der Stadtrath; »ich sehe, Du bist à quatre épingles und kannst in jedem Salon erscheinen. Stütze Dich auf meinen Arm, und wäre es auch nur, der Mutter die Freude zu machen, uns Arm in Arm in ihr Zimmer treten zu sehen. Komm, mein Junge!«
Und der Stadtrath, als er den Arm des Sohnes mit freundlicher Aufmerksamkeit in den seinen legte, lächelte – eines Spielers Lächeln, der mit fieberhafter Angst das Rollen der Scheibe verfolgt hat, und nun die Nummer rufen hört, auf die er seine letzten Goldstücke setzte.