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22.

A ls Wolfgang am Mittag des zweiten Tages seiner Rückkehr von Rheinfelden aus einem tiefen, traumlosen, erquickenden Schlaf, in welchem die heraufdrohende Krankheit sich glücklich gebrochen hatte, erwachte, dauerte es eine geraume Zeit, bevor er sich besinnen konnte, wo er war, wie er hierher gekommen und weshalb seine Mutter, die an seinem Bette saß, mit hellen Freudenthränen in den lieben sanften dunklen Augen sich so zärtlich besorgt über ihn beugte.

»Ich bin wohl krank gewesen, Mutter?« sagte Wolfgang, die Liebkosungen und Küsse erwidernd.

»Recht krank!« erwiderte Margarethe; »zwei böse, böse Tage lang hast Du Dein armes Mütterchen geängstigt; aber nun ist es gut; wenn Du mit hellen Augen erwachtest, hat der Medicinalrath, der vor einer Stunde hier war, gesagt, wäre es gut; und Du bist mit hellen Augen erwacht, mein Liebling – aber nun mußt Du ruhig liegen, ganz ruhig, und darfst gar nicht sprechen und Dich aufregen, damit Du nicht wieder krank wirst, mein Herzensjunge!«

Wolfgang sank wieder auf sein Lager zurück. Die Mutter glättete sein Kissen und seine Decke, stand auf und ließ das Rouleau herunter, um die helle Mittagssonne auszuschließen, setzte sich dann wieder zu ihm an's Bett, nahm eine seiner Hände in ihre Hände und lächelte ihm freundlich zu mit jenem unsäglich liebevollen Blick, der nur aus einer Mutter Augen glänzen kann.

Wie er so, sich stumm des wiedergewonnenen Lebens freuend, halb wachend und halb träumend dalag, zog die Erinnerung der letzten Tage in hellen klaren Bildern durch seine sabbath-stille, tief erquickte Seele. Und im Vordergrund all' dieser Bilder bewegte sich die zierlich-schlanke Gestalt eines wunderschönen Mädchens, das sich bald mit neckischer Schalkheit zu ihm wendet, bald sich mit scheuem Zagen von ihm zu entfernen scheint und endlich liebeglühend und liebeheischend an seine Brust sinkt. Da zieht plötzlich eine dunkle Wolke herauf und löscht die hellen, sonnigen Bilder aus; das Mädchen, dessen knospender Busen nun eben noch heiß und heißer an seinem Herzen geklopft hatte, reißt sich aus seinen Armen, und verschwindet in dem Dunkel des Parks, der sich dann in den sandigen Weg längs des Stromufers verwandelt, auf welchem der kreischende Wagen des alten Köbes ihn langsam, langsam – als wollte die Fahrt kein Ende nehmen – heim trägt, heim zu seiner lieben, kranken Mutter, deren warme Hand jetzt in seiner Hand – die sich bei diesem Gedanken fester schließt – liegt. Dann sitzt er vor dem Bett der Mutter, wie sie jetzt vor seinem Bett sitzt und aus dem Schatten der Krankenstube tritt das Bild eines andern Mädchens hervor, eines Mädchens, das kaum weniger schön ist, als jenes dort im Park von Rheinfelden, eines Mädchens, dessen einfach-edle Erscheinung ihn anmuthet, wie ein Lied aus der Jugendzeit, – aus der Jugendzeit –

»Das ist doch sonderbar,« sagte Wolfgang, zur Mutter aufblickend.

»Was ist's, mein Herz?«

»Mir ist, als hätte ich Ottilien von jeher gekannt, als wäre Ottilie die Schwester, die ich mir immer gewünscht habe, wenn ich allein vor Deinem Bette spielte und die Sophakissen keine Rede und Antwort geben wollten.«

Margarethen's Augen glänzten, während sie sich tiefer über den lieben Sohn beugte:

»Also auch Du hast das Gefühl,« sagte sie, »das mich nicht mehr verlassen hat, seitdem ich das herzige Kind gesehen? Mir ist seitdem immer, als hätte ich nun zwei Kinder. Sie ist auch gestern mit Tante Bella hier gewesen und war so bestürzt und so traurig, daß Du krank warst – das gute Kind, als ob sie nicht eigenen Kummer genug hätte! Sie hat mich so lieb getröstet: ›Morgen komme ich wieder‹ – hat sie gesagt – ›und dann mache ich Dir den Wolfgang gesund, und wenn er gesund ist, komme ich alle Tage, und sitze mit Dir hier im Fenster‹ – wir waren in meiner Stube – ›hier ist es so still und kühl und die hohen Bäume da drüben über der alten Mauer, die hab' ich nun gar zu gern.‹ Und die liebe sanfte Stimme, mit der sie das sagt, das klingt so lieblich wie sanfter Schwalbengesang.«

»Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit« – sagte Wolfgang träumerisch vor sich hin.

»Und weißt Du, liebes Herz,« fing die Mutter wieder an, indem sie zärtlich des Sohnes Hände streichelte, »daß Du in Deinen Phantasien fast nur von Ottilien gesprochen hast? daß Du lange Zwiegespräche mit ihr geführt hast?«

»Mit Ottilien?« fragte Wolfgang – und seine bleichen Wangen rötheten sich; »bist Du gewiß, daß ich mit Ottilien und von Ottilien gesprochen habe?«

»Ob ich gewiß bin!« sagte Margarethe lächelnd; »nun, ihren Namen hast Du wenigstens oft genug genannt.«

»Sonderbar, sonderbar,« murmelte Wolfgang.

»Was ist dabei so sonderbar, mein Herzensjunge?« fragte Margarethe; »aber da plaudern und plaudern wir und Du sollst ganz ruhig sein, hat der Medicinalrath gesagt. Ich bin eine schöne Krankenwärterin. So! jetzt still gelegen und nicht den Mund geöffnet!«

»Nein, nein,« erwiderte Wolfgang lebhaft; »laß uns plaudern; ich fühle mich vollkommen wohl und habe Dir so viel zu sagen.«

»Was ist's, lieb Herz?« sagte Margarethe.

Wolfgang streckte die Arme aus und zog die Mutter zu sich auf den Rand des Bettes, wie er es als Kind und Knabe gethan, wenn er ihr seine kindischen und knabenhaften Geheimnisse gläubig anvertraute, und ebenso gläubig wie damals, vertraute er nun der lieben Mutter sein letztes, großes Jünglings-Geheimniß, das Geheimniß seiner Liebe zu Camilla – stockend im Anfang und erröthend, und dann, als er erst einmal das große Wort ausgesprochen, lebhaft und beredt, wie es seine Art war, all' die kleinen Nebenumstände seines Liebes-Romans, all' die Hoffnungen, Zweifel, Bedenken, Alles, was in den letzten Tagen sein edles Herz erfüllt, seinen hellen Geist beschäftigt hatte.

»Nun habe ich Alles gebeichtet, lieb Mütterchen,« schloß der Jüngling; »jetzt aber sage Du mir, ob Du mit Deinem Jungen zufrieden bist, denn, bevor ich das sicher weiß, kann ich doch nicht so glücklich sein, wie ich es so gern sein möchte.«

Margarethe antwortete nicht gleich, weil es ihr bei dem Chaos widersprechendster Gefühle, welche während Wolfgang's langer Erzählung ihre Seele erfüllt hatten, in der That unmöglich war, seine schließliche Frage direct zu bejahen oder zu verneinen. Zuerst und vor Allem war es Eifersucht gewesen gegen die Glückliche, der sie nun das Herz, das sie bis dahin so ganz besessen, abtreten sollte. Wie schmerzlich dieser Gedanke für Margarethe sein mußte, das konnte Niemand ermessen, denn Niemand wußte, wie tief unglücklich sich die arme Frau in ihrer Ehe gefühlt, wie sie ihr Glück, ihren Trost, ihr Alles, Alles nur in diesem einen heißgeliebten Sohn gesucht und gefunden hatte. Sie hatte seine Liebe in sich gesogen, wie eine sommerliche Pflanze, die in einer kalten dumpfigen Stube verkümmert, das Licht und die Wärme allzukurzer sonniger Augenblicke gierig trinkt; nun sollte auch das ihr genommen werden, das Letzte, Beste, Einzige! genommen, ja! – Margarethe hatte immer, wo sie geliebt, mit voller Seele, mit ganzem Herzen geliebt und Wolfgang war das Kind ihres Herzens. Daß er ein Mann war und Männerherzen anders fühlen als das halb gebrochene Herz einer vereinsamten, geknickten Frau – daran dachte Margarethe natürlich nicht.

Aber diese Eifersucht war nur die erste unwillkürliche Regung ihrer Seele, dem leisen, schmerzlichen Klingen einer Harfe vergleichbar, an die man plötzlich unsanft gerührt hat. Dann überkam sie die tiefgewurzelte, langgenährte, beinahe, abergläubische Furcht vor jener Familie, mit der sie gerade so gern in Verbindung getreten war, wie ein Lamm in den Käfig der Wölfe geht; von jener stolzen, harten, grausamen Familie, die ihren Gemahl den Kelch der Verachtung und Demüthigung bis auf den letzten bittern Tropfen hatte trinken lassen, die durch diese ihre feindliche, abwehrende Haltung in ihren Augen mehr als alles Andre dazu beigetragen hatte, ihren Gatten von ihr zu entfremden; vor jener Familie, die sie als die Verkörperung aller jener Eigenschaften ihres Gatten ansah, mit denen sie sich schon im Anfang als junges, zärtlich liebendes Weib nie hatte befreunden können und die ihr, wie sich dieselben mit jedem Jahre deutlicher ausprägten, mit jedem Jahre unheimlicher geworden waren. Und aus dieser Familie wollte ihr Sohn, ihr treuer, offener, geradsinniger, warmherziger Sohn das Weib seines Herzens nehmen! Thu's nicht, thu's nicht! – schrie eine Stimme in ihrem Herzen.

Und dann – mußte diese Verbindung nicht das schwache Band, welches sie an ihre eigne – die Schmitz'sche Familie – knüpfte, vollends zerreißen? würde ihr Bruder Peter – der so tief beleidigte, so scheu gemiedene und doch noch immer so innig geliebte – nicht mit doppeltem Recht behaupten können, was er ihr einst mit Thränen in den Augen geklagt: daß sie sich äußerlich und innerlich von ihm und ihren andern Blutsverwandten losgesagt habe? – Und gerade jetzt hatte sie sich mit dem Gedanken getragen, durch die Liebe, die sie der verwaisten Nichte beweisen wollte, ihren Geschwistern zu zeigen, daß sie noch mit ihnen in Liebe und Treue verbunden sei!

Aber auf der andern Seite! wurde nicht so der Fluch von ihr genommen, unter dem sie so schwer gelitten: daß sie, und sie allein, ihren Gatten mit seiner Familie entzweit, ihn aus seiner Laufbahn gerissen, ihn zu dem unglücklichen Manne gemacht hatte, der zu sein, er sich so oft und so bitter beklagte? Mußte sie dagegen mit ihren Interessen nicht zurückstehen? und nun gar, wenn Wolfgang so wirklich das Glück fände, das sie dem geliebten Kinde aus tiefstem Herzensgrunde wünschte? – Konnte, durfte sie nur einen Augenblick zweifeln, was ihr in diesem Falle zu thun oblag?

Dennoch war es ein sehr schmerzliches Lächeln, das um Margarethen's Lippen schwebte, als sie jetzt die Wimpern hob und Wolfgang mit einem zärtlichen Blick tief in die Augen schauend, leise sagte:

»Du lieber Junge, Du kannst nicht glücklich sein, ohne daß ich mit Dir zufrieden bin, und ich kann nicht zufrieden sein, ohne daß ich Dich glücklich weiß. So liebe Deine Camilla und sei glücklich; aber Wolf, behalte auch Deine arme Mutter noch ein wenig lieb!«

Die Thränen stürzten ihr bei diesen Worten aus den Augen und schluchzend verbarg sie ihr Gesicht an ihres Sohnes Brust.

»Du hast noch etwas auf dem Herzen, Mutter,« sagte Wolfgang; »Du bist doch nicht ganz zufrieden mit mir! Sprich es aus, Mutter! Du hast ja immer behauptet, daß Du mir Alles sagen konntest! Bitte, bitte, lieb', lieb' Mütterchen, sag' mir Alles, was Du auf dem Herzen hast! Dein Herz muß heute so leicht sein, wie das meinige. Was hast Du?«

»Es ist nichts, gewiß nichts!« sagte Margarethe, sich wieder aufrichtend und ihre Thränen trocknend; »Du bist ja so gut und so klug; und wenn Du sagst, daß Camilla Dich liebt, so muß sie ja auch ein gutes Mädchen sein und Alles thun, um Deiner immer würdiger zu werden. Und der Vater wird sich gewiß recht freuen; er hat Dich ja auch so lieb und möchte so gern, daß Dir das Leben leichter würde, als es ihm geworden ist. Er war so froh über die guten Nachrichten, die Du uns aus Rheinfelden schriebst, daß der Großonkel so gut gegen Dich sei und die Tante und Alle. ›Der Junge wird's weiter bringen, als ich,‹ hat er mehr als ein Mal gesagt. Auch steht er jetzt mit Onkel Philipp und auch mit Onkel Guisbert auf dem besten Fuße; aber ich kann mir noch immer nicht denken, daß Deine Verwandten es wirklich ehrlich mit uns meinen und daß sie sich nicht wieder von uns zurückziehen, wenn sie Ernst machen sollen. Und wie würde das den Vater schmerzen? und was sollte dann aus Dir werden, mein armer Junge?«

»Da habe ich bessern Muth!« sagte Wolfgang heiter; »sie werden Ja und Amen sagen, verlasse Dich darauf! Der alte Griesgram von Großonkel zuerst von Allen« – und er erzählte nun ausführlich, wie ausnehmend gnädig der alte Herr während der ganzen Zeit und noch in den letzten Augenblicken gegen ihn gewesen sei, und daß er ihn mit den Worten entlassen habe: Habe was vor mit Dir, Junge; soll Dein Schade nicht sein, wenn Du folgsam bist. – »Nun, Mütterchen: eine Liebe ist der andern werth. Wenn unsere Verwandten, die so lange in Fehde mit uns gelebt haben, Frieden mit uns machen wollen, so sollen sie auch den Frieden theuer erkaufen und der Preis des Friedens ist Camilla und diesen Preis sollen, müssen und werden sie zahlen.«

Wolfgang war in der glücklichsten Stimmung und die Mutter war zu sehr gewohnt, sich glücklich zu fühlen, wenn sie den Sohn glücklich sah, als daß sie nicht auch jetzt in seine Heiterkeit hätte einstimmen sollen. Sie lächelte ihm freundlich zu, während er die herrlichsten Schlösser baute und endlich, von dem vielen Sprechen ermüdet, den Kopf auf die Seite wandte und die Hand der Mutter in der seinen haltend einschlief.

Margarethe saß noch eine Weile in der sonnigen Stille, in tiefbewegter Seele Alles überdenkend, was so eben gesprochen war. Dann stand sie leise auf, küßte den Schlafenden auf die Stirn und verließ geräuschlos das Zimmer. Es verlangte sie, ihren Gatten, der in diesen letzten Tagen so viel Sorge und Arbeit gehabt hatte, eine Botschaft zu bringen, von der sie wußte, daß sie für ihn eine frohe sein würde.

Der Stadtrath war eben im Begriff, sich (mit dem Brief des Alten in der Brusttasche) hinaufzubegeben und hatte sich schon nach der Thür gewandt, als leise an dieselbe geklopft wurde und auf sein Herein! seine Gattin in's Zimmer trat.

Margarethe eilte auf ihn zu und schlang die Arme um ihn.

»Ich habe Dich so lange nicht gesehen, Arthur!« sagte sie, wie zur Entschuldigung einer Zärtlichkeit, die allerdings in dieser freudlosen Ehe zu den Seltenheiten gehörte.

Herr von Hohenstein hatte die Liebkosungen seiner Gattin mit einer bei ihm sehr ungewöhnlichen Wärme erwidert. Er fühlte das lebhafte Bedürfniß, in dem verhängnißvollen Spiel, das ihm so günstige Karten in die Hand gegeben hatte, seine Gattin auf seiner Seite zu haben. Wußte er doch, wie groß ihr Einfluß auf Wolfgang war!

»Sehr lange nicht, Gretchen,« sagte er, während er, seinen Arm um ihren noch immer jugendlich schlanken Leib legend, sie nach dem Sopha führte und an ihrer Seite Platz nahm. »Es waren ein paar heiße Tage für mich; und für Dich auch, Du armes Kind! erst selbst krank, dann der Wolfgang krank! Aber es geht doch gut, nicht?«

»Besser wenigstens,« erwiderte Margarethe, in herzlicher Dankbarkeit für ihres Gatten Freundlichkeit seine Hand an ihre Lippen drückend; »ja, ich glaube, gut – wir haben eben ein langes, langes Gespräch mit einander gehabt.«

Margarethe lächelte und sah ihren Gatten halb ängstlich, halb schalkhaft an. Sie war es so wenig gewohnt, ihn zum Vertrauten zu haben! sie wußte sich nicht in diese Situation zu finden, trotzdem sie mit Bestimmtheit annahm, daß die Nachricht, welche sie ihm mittheilen wollte, ihn angenehm berühren würde.

»Ein langes Gespräch,« sagte der Stadtrath; »und worüber denn, wenn man unbescheiden genug sein darf, das zu fragen.«

Margarethe wurde roth und sah in ihrer Verlegenheit so hold verschämt und jungfräulich aus, als habe sie selbst ein Liebesgeständniß abzulegen.

»Du machst mich äußerst neugierig,« sagte der Stadtrath, »was ist's?«

»Ich habe Dir eine große Neuigkeit mitzutheilen, Arthur.«

»Ich Dir ebenfalls, liebes Gretchen; erwiderte er; »so fang' Du nur an, damit wir endlich einmal aus der Stelle kommen.«

Das war wieder der alte, herbe, lieblose Ton, der Gretchen schon so oft so unglücklich gemacht hatte. Es war ihr mit einem Male, als könne sie diesem Manne nicht sagen, was sie so eben gehört: das Herzensgeheimniß ihres Lieblings, ihres Abgotts. Und doch: er sah so angegriffen, so verfallen aus; er hatte gewiß wieder rechte Sorgen gehabt; bedurfte einer Freude gewiß recht sehr.

»Es ist nur dies, Arthur,« sagte Margarethe mit einer Entschlossenheit, die ihr alles Blut in die Wangen trieb; »Wolfgang hat in Rheinfelden noch größere Eroberungen gemacht, als wir gedacht haben und er uns geschrieben hat. Er steht nicht nur bei der Excellenz in großer Gunst, auch die Präsidentin hat ihn sehr ausgezeichnet und Camilla – nun, es muß doch heraus und Du wirst auch gewiß nicht ungehalten sein: Camilla liebt den Wolfgang …«

»Und Wolfgang?« fragte der Stadtrath hastig und vor Aufregung bleich; »und Wolfgang?«

»Er hat sie auch recht gern,« erwiderte Margarethe, die das Wort: »er liebt sie« nicht über die Lippen bringen konnte.

»Das ist eine Nachricht!« rief der Stadtrats indem er seine Gattin – diesmal ohne alle Affectation – umarmte. »Nun sollst Du aber auch meine Neuigkeit hören; sieh' hier: vom Alten – eigenhändig – mußt Dich an die Worte nicht stoßen – so ein alter Herr drückt sich manchmal wunderlich aus – nun, was sagst Du? ist das nicht ein Glück?«

»Ja, aber –« sagte Margarethe.

»Was aber! kein Aber!« rief der Stadtrath, der aufgestanden war und mit großen Schritten im Zimmer umherging. »Wenn der Alte Ja sagt, können die Andern nicht Nein sagen; ich kenne sie.«

»Aber Arthur«, sagte Margarethe schüchtern; »da in dem Brief steht doch noch mehr, noch Anderes. Wolfgang soll Soldat werden.«

»Wie Du redest!« rief der Stadtrath; »Soldat! Als ob es sich um Hinz oder Kunz handelte! Officier soll er werden, wie ich es gewesen bin und es noch sein könnte, wenn –«

Herr von Hohenstein verschluckte das Ende des Satzes, denn er sah, wie Margarethen die Thränen in die Augen traten und er fühlte sich doch noch nicht sicher genug, um sie ruhig weinen sehen zu können.

»Sei vernünftig, Gretchen!« sagte er, sich wieder zu ihr auf das Sopha setzend, »und mache mir nur jetzt keinen Strich durch die Rechnung! Du weißt, wie unendlich viel mir daran liegt, mich mit meiner Familie vollständig auszusöhnen; ich kann Dir nicht sagen, warum mir jetzt mehr als je daran liegt. Ja es liegt mir so viel daran, daß, wenn diese Aussöhnung nicht stattfindet, wenn Wolfgang unkindlich genug denken könnte, mich in meiner Noth zu verlassen – nun, nun, ich will Dich nicht unnöthig ängstigen, Kind! Halte nur zu mir! hilf mir den Wolfgang gewinnen, dann ist Alles gut, dann kann noch Alles gut werden.«

Herr von Hohenstein war in einer unbeschreiblichen Aufregung. Die alte Spielernatur regte sich mit Macht. War es denn nicht gerade, wie beim Pharao? Gestern Alles verloren! heute Alles wieder gewonnen! Das hatte er so oft durchgemacht! wie oft war er schon daran gewesen, sich eine Kugel durch den Kopf zu jagen! und war noch immer wieder so oder so aus der schlimmsten Verlegenheit herausgekommen! Warum sollte es diesmal anders sein, diesmal, wo, nach der schlimmen Taille von vorgestern Abend, heute Karte um Karte für ihn schlug!

»Ich werde sogleich zu Wolfgang hinaufgehen!« sagte er.

»Bitte, lieber Arthur, nicht jetzt;« sagte Margarethe; »Wolfgang war eben wieder eingeschlafen, als ich von ihm ging. Er ist doch noch sehr schwach. Ich fürchte, es könnte zu viel für ihn werden.«

»Wie Du willst, wie Du willst;« erwiderte der Stadtrath; »sprich Du vorher mit ihm! oder nein, laß es doch lieber. Ihr könntet Euch da Beide in eine Sentimentalität hineinreden und ich hätte dann doppelte Mühe. Ich muß jetzt ausgehen, Gretchen! Du brauchst mit dem Essen nicht auf mich zu warten; und noch Eines, Gretchen! ich höre, daß Deine Verwandten Dich gestern und heute besucht haben. Das muß aufhören; ich kann es nicht dulden. Jetzt, wo Aller Augen auf mich gerichtet sind und jeder meiner Schritte beobachtet wird, darf ich keine demokratischen Relationen mit der Ufergasse haben.«

»Aber, Arthur;« sagte Margarethe; »das ist doch hart. Mein Bruder ist seit acht Tagen todt und ich soll die Tochter meines Bruders nicht einmal sehen dürfen.«

»Ja so,« sagte Herr von Hohenstein; »entschuldige! ich hatte wirklich nicht daran gedacht. Aber gleich viel! Es handelt sich hier um wichtigere Dinge, als um ein bischen Familiensentimentalität. Adieu, Gretchen!«

Der Stadtrath hatte vor dem Spiegel sein Halstuch in Ordnung gebracht, seinen Hut abgebürstet und sah nach der Uhr.

»Hilf Himmel, schon halb zwölf; es ist die höchste Zeit, wenn ich den Obrist noch treffen will. Adieu, Gretchen!«

Er warf seiner Gattin eine Kußhand zu und eilte zur Thür hinaus.

Margarethe folgte ihm langsam. Sie schloß mechanisch die Stube zu, und hing den Schlüssel an die gewohnte Stelle und kehrte auf der Treppe noch einmal um, weil sie bereits nicht mehr wußte, ob sie abgeschlossen hatte oder nicht. Sie war von dem, was sie gehört, wie betäubt. Nur das Eine wußte sie, daß zwischen ihr und dem Vater ihres Sohnes die Kluft so groß geworden sei, daß die scheuen Liebesarme, die sie nach ihm ausstreckte, nicht mehr hinüberreichten, nimmermehr hinüberreichen würden; und nur das Eine fürchtete sie, daß diese Kluft sie auch noch von ihrem Sohne trennen könnte. Das war der schmerzlichste Gedanke für die arme Margarethe und wie sie so langsam, langsam die Treppen hinaufstieg, rannen ihr die Thränen Tropfen um Tropfen langsam über die bleichen – ach, einst so jugendfrischen, rosigen Wangen!



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