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B ernhard Münzer hatte schon häufig in seinem Leben empfunden, welcher Segen für ein leidenschaftliches Herz eine alle Fibern des Gehirns anspannende Arbeit ist, aber noch nie so sehr, als in diesen beiden letzten Tagen. Wieder stand er einmal vor einem Räthsel seines rätselvollen Daseins, vor einer Sphinx, die ihn nur deshalb im Anfang mit so süßen Mienen angelächelt hatte, um ihn im nächsten Augenblick als widerlich verzerrte Teufelsfratze anzugrinsen. Das alte Gaukelspiel der Phantasie! wie oft hatte es ihn schon entzückt, entsetzt – genasführt! Wie genau kannte er die kunstvolle Verschürzung, die anmuthige Entwickelung, die jähe Katastrophe, und – das düstre Nachspiel! – nicht jene reueselige Zerknirschung, die weinend Buße und Besserung gelobt – sie kannte Münzer nicht, hatte sie nie gekannt! – wohl aber jenen finstern, grimmigen Zorn, mit welcher die gramesdüstren Augen von Milton's Satan den Wunderbau einer Welt durchmustern, die nur für ihn kein Kosmos ist. Nur für ihn? nein! auch für unzählige Andre, die so wenig, wie er selbst, jemals zur Freude, zur Ruhe und zum Frieden kommen! – und wenn auch nur für ihn! ist er denn nicht ein Theil des Alls – ein unendlich winziger Theil – ein Atom – gleichviel, so immer doch kein Nichts, so immer doch ein Etwas, das lebt und fühlt und denkt und leidet, unsäglich leidet unter diesem Zwiespalt eines tiefen klaren Geistes, der mit seiner ganzen stolzen Kraft nach Wahrheit, der ganzen Wahrheit und nach Betätigung der ganzen Wahrheit strebt und einem nicht minder tiefen, dunklen Herzen, das sich mit seiner ganzen nicht minder stolzen Kraft nach Befriedigung, der vollen, ganzen Befriedigung seiner ausschweifenden Wünsche sehnt. Wie hatte er gerungen, diesen Zwiespalt zu versöhnen! wie hatte er diesem höchsten Ziele die duftigsten Blüthen seiner Phantasie mitleidslos geopfert! wie hatte er mit zitternden Händen abgerissen das kostbare Herrenkleid, die edlen Glieder in die Lumpen des Sklaven gehüllt! und ohne Murren, ohne Klagen Sklavenarbeit im Dienste seines Ideals, im Dienste der Menschheit, einer freien, brüderlichen Menschheit verrichtet! Was hatte ihm das Alles genützt! Der Zwiespalt in seinem Innern war nicht versöhnt! er hatte noch immer nicht Mäßigung, nicht Demuth, nicht Geduld gelernt! und die freie, brüderliche Menschheit war und blieb ein grausamer, plumper, höhnischer Götze, der die Sklaven, welche die Schultern an den Rädern seines Wagens blutig gestemmt hatten, vor seinen Augen, ohne mit den Wimpern zu zucken, von den schlauen Priestern des Wahns in den Abgrund stürzen sah. Und mochte doch das Alles sein – wenn nur der Kämpfer seine Kraft in diesem Kampfe nicht immer mehr und mehr hätte ermatten fühlen; nicht hätte fühlen müssen, daß jenes größte Unglück, welches den Denker treffen kann, das Unglück: schließlich Widerwillen zu empfinden an der Vernunft, und abzustumpfen gegen den Reiz der Wahrheit, vielleicht doch das schmachvolle Ende sein würde. Aber nein und tausendmal nein! Deine Feinde, die nur auf Deine Schwäche lauern, – sie sollen dieses Triumphes sich nicht rühmen können! Keines Menschen Hand soll das mattere Klopfen Deines Herzens fühlen; keines Menschen Auge in Deinem Auge die stumme Klage lesen um das ersehnte, nie erreichte, längst verloren gegebene Glück!
Keines Menschen Hand? und auch die Hand nicht, die Du einst in Deine Hand zum Bunde für das Leben legtest? Keines Menschen Auge? und auch das Auge nicht, das an Deinen Blicken mit unendlicher und darum auch allwissender Liebe hängt? das jede Wolke, die über Deine Stirn zieht, im ersten leichtesten Aufdämmern erkennt und mit heimlichen Thränen begleitet? – auch Deines Weibes Auge nicht?
Du hoffst es; es würde Dich noch elender machen, wenn Du es nicht hoffen dürftest. Und wer sagt Dir, daß Du es hoffen darfst? der schmerzliche Zug etwa, der so oft um ihren Mund zuckt, den Mund, der vielleicht nicht von geistreicher Rede überfließt, der aber noch stets die Wahrheit sprach, und von dem Du nie ein bittres, kränkendes Wort vernahmst, – nie! aber dafür wie manchen treuen Rath, wie manchen herzlichen Trost! und von dem Du noch viel, sehr viel mehr Gutes und Liebes würdest vernommen haben, wenn Du das Siegel zu lösen verstanden hättest, das gerade in den Augenblicken tiefinnerster Erregung wie von neidischen Dämonen auf seine Lippen gedrückt wurde. Nein Münzer, Du darfst nicht hoffen, daß Du Dich vor Deinem Weibe mit Deinem kummerbelasteten, schmerzzerrissenen Herzen verstecken kannst!
Und dennoch hoffst Du es! Wo blieb der Scharfsinn Deines Geistes, Münzer? wo das zarte Gefühl Deines Herzens? Bist Du nur scharfsichtig für Andre? nur feinfühlend für Deinen Nächsten? – –
Fort, fort ihr Spukgestalten! Arbeit, heilige, menschenerlösende, gramzerstreuende Arbeit, steh' du mir bei! Du, die mich beschirmt hat in meiner öden, freudlosen Jugend! die Du mich oft schon mit Deinen Götterhänden gerissen hast aus den Krallen der Verzweiflung und des Wahnsinns! Göttin, Du in dem härenen, staubbefleckten Gewande, Du mit dem strengen festgeschlossenen Munde und der düstern Faltenstirn! Du, der ich mich geweiht habe, als ich noch ein schwacher Knabe war, hilf Du mir fürder die schwere Bürde des Lebens ungebrochen tragen bis an's Ende!
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»Willst Du schon wieder fort, Bernhard?« sagte Clärchen, als Münzer, nachdem er am Nachmittage einige Stunden geschrieben hatte, die Feder auf den Tisch warf, seine Papiere zusammenpackte und aufstand; »Du pflegst am Dienstag nicht so früh zu gehen.«
»Ich muß,« sagte Münzer zerstreut; »es ist eben eine heiße Zeit für uns.«
»Armer Bernhard,« sagte Clärchen, zu ihrem Gatten tretend, und ihm die Hand auf den Arm legend; »Du mußt Dich so quälen!«
»Quälst Du Dich denn nicht?« erwiderte Münzer, der wieder anfing, zwischen seinen Papieren zu kramen; »aber laß mich, Clärchen; Du weißt: im Momente des Fortgehens bin ich ungern gestört; ich vergesse sonst regelmäßig das Wichtigste.«
Clärchen trat bescheiden zurück, bis Münzer sich zu ihr wenden würde. Aber er wandte sich nicht zu ihr, sondern schritt von seinem Schreibtisch nach dem Stuhl an der Thür, auf den er seinen Hut zu stellen pflegte. Als er die Hand auf den Griff legte, sagte Clärchen sanft:
»Du hast etwas Unwichtiges vergessen, Bernhard!«
»Was ist's?«
»Mir Adieu zu sagen.«
»Adieu, Clärchen!«
Münzer streckte seiner Gattin lächelnd die Hand entgegen. Clärchen flog in seine Arme und legte ihren Kopf an seine Brust; aber sogleich riß sie sich wieder los und wie sie sich von Münzer ab zum Fenster wandte, sah er, daß ihr die Thränen in den Augen standen.
Münzer schien einen Augenblick zu schwanken, ob er gehen solle oder bleiben; dann legte er den Hut und die Papiere auf den Stuhl, trat an Clärchen heran und sagte:
»Warum weinst Du, Clärchen?«
Clärchen wandte sich halb um und versuchte zu lächeln:
»Das kommt wohl so;« sagte sie.
»Du bist unglücklich, Clärchen.«
»Ich bin's, wenn Du es bist und – Du bist es.«
Münzer's Stirn verdüsterte sich.
»Das alte Lied,« sagte er.
»Das alte Lied!« wiederholte Clärchen; »das alte Lied, zu dem der Text nicht ausgeht.«
»Weil Du immer neue Strophen dazu dichtest.«
»Ich bin kein Dichter, Bernhard! Ich dichte Deine Sorgen, Deinen Kummer, Deine schlaflosen Nächte nicht. Das Alles ist wirklich.«
»Und was kannst Du dafür?«
»Sehr viel! Du hättest nicht heirathen sollen. Du mußtest frei sein. Du hast mehr zu thun, als für Frau und Kinder zu sorgen. Du würdest vielleicht auch so nicht glücklich sein, aber doch nicht so unglücklich.«
Clärchen sagte das so still, so in sich gefaßt – es war Münzer, als ob seine Seele hüllenlos vor dem ruhigen, klaren Auge seines Weibes läge. Er wollte und konnte nicht lügen; er konnte nichts sagen, als:
»Und werden wir nun dadurch glücklicher?«
»Ich weiß es nicht, Bernhard; aber Du selbst hast mich gelehrt, daß kein Geheimniß zwischen uns sein dürfe. Es wäre besser geworden, wenn ich das früher begriffen hätte. Oder begriffen hab' ich's auch wohl, aber – Du kennst mich ja, daß ich nicht immer sprechen kann, wie ich möchte.«
»Es wäre besser geworden,« sagte Münzer mit dumpfer Stimme; »ja wohl, Clärchen; aber vielleicht hast Du nicht allein Schuld; vielleicht hätte auch ich noch offener sein können. Laß uns in Zukunft verständiger sein. Wir meinen es ja Beide gut, und laß uns unsre Herzen nicht noch schwerer machen; dafür sorgt die Zeit wahrlich zur Genüge. Adieu, Clärchen; es kann noch Alles besser werden.«
Er zog seine Gattin an seine Brust und küßte sie. Dann ging er, ohne sich noch einmal nach ihr umzusehen, aus dem Zimmer.
Clärchen schwankte, einer Ohnmacht nahe, nach dem bescheidenen Sopha und ließ, ihr Gesicht in den Händen verbergend, der mühsam zurückgehaltenen Thränenfluth freien Lauf. Wer sie so weinen sah, wer ihren ganzen Körper von der Leidenschaftlichkeit ihres Schmerzes zittern und beben sah – er würde voll Erstaunen gefragt haben, ob dies das stille, ruhige Clärchen sei, deren gelassenes Temperament im Kreise der Bekannten sprüchwörtlich war.
Nach einiger Zeit riß sie sich gewaltsam empor, trocknete mit einer Miene mehr des Zornes als des Schmerzes ihre Thränen und starrte, den Kopf in die Hand stützend, düster vor sich nieder.
»Es kann noch Alles besser werden,« murmelte sie; »und in welchem Ton er das sagte! er glaubt ja selber nicht daran. Was brauchte besser zu werden, wenn er mich liebte? wie kann es besser werden, wenn er mich nicht liebt? Und er liebt mich nicht; hat mich nie geliebt, so, wie er lieben kann. Er liebt auch seine Kinder nicht. Wir sind ihm eine Last, die er trägt, weil er muß, weil er zu stolz ist, um einzugestehen, daß seine Heirath ein Fehler war. Aber ich bin nicht minder stolz; es sind meine Kinder, wie es seine sind; wir wollen ihm nicht länger zur Last fallen. Er soll wieder frei werden, wie er es vorher war; er soll in seinen Plänen, in seinen Arbeiten nicht länger gehemmt werden; er soll seine Kraft nicht länger an uns verschwenden. Wir wollen ihm aus dem Wege gehen – weit, weit, daß ihm selbst die Erinnerung an uns nicht drückend bleibt, daß er es ganz vergißt, wie wir ihm einst gehörten« …
Und wieder rollten bei diesem schmerzlichsten Gedanken, den eines Weibes Seele denken kann, die Thränen über Clärchen's Wangen.
»Kann er uns denn ganz vergessen? vergessen Alles, was wir zusammen erlebt und erlitten? kann er denn wirklich eine Andre finden, die ihn besser versteht, als ich? die ihn mehr lieben kann, als ich ihn geliebt habe und noch liebe? Nein und tausendmal nein! – Es ist ja nicht möglich, daß wir uns trennen können. Und wenn ich Alles seinethalben erdulden wollte – kann er denn ohne mich zufrieden sein? wird er nach mir nicht zurückverlangen, wenn es zu spät ist? wenn er einsieht, daß es kein Mensch so treu mit ihm gemeint hat, als ich? wenn er einsieht, daß die, welche im Glück sich an ihn drängten, im Unglück sich von ihm wenden? – Und wenn er dann meiner bedürfte – wenn er allein und verlassen und krank daläge und ich müßte mir sagen, daß mein Stolz schuld daran sei, daß er mich doch bei sich behalten und doch geliebt hätte, wenn ich weiser gewesen wäre und demüthiger – o, mein Gott, mein Gott, was soll ich thun – was soll ich thun?«
Und die unglückliche junge Frau streckte die hülflosen Arme zum mitleidslosen Himmel – einem Ertrinkenden gleich, der seine Kraft gebrochen fühlt und weiß, daß der finstre Abgrund ihn im nächsten Augenblicke verschlingen wird.
Da ertönten von nebenan fröhliche Kinderstimmen: »Mama! Mama! wo bist Du denn, Mama?«
Karl und Ella waren aus der Schute gekommen. Sie wollten ihr Vesperbrot haben.
Clärchen drückte das Taschentuch vor die Augen, damit die Kinder die Spuren der Thränen nicht bemerkten.
»Hier, Kinder!«
»Ah, da ist Mama!« rief Karl, der Mutter entgegenlaufend; »ich bin so hungrig! ich bin dem Papa begegnet; er sah mich anfangs nicht; da bin ich an ihn herangeschlichen und hab' ihn ordentlich erschreckt.«
»Das war nicht recht, Karl.«
»O, Papa war gar nicht bös; er fragte: ob ich heraufgekommen wäre und da sagte ich: ja, eine ganze Bank, und da sagte er: das wäre schön und ich solle Dich grüßen und da hat er mir einen Kuß gegeben – aber Mama, ich bin so hungrig!«
»Gleich, Kind, gleich!«
»Aber Du weinst ja, Mama!«
»Du bist nicht klug! es ist mir was in's Auge geflogen, kommt.«
»Ja, Mama, ich bin auch wem begegnet!« sagte Ella; »Onkel Peter! und Onkel Peter sagte: er wolle Dich heute Abend mit Tante Bella und der neuen Tante zum Spazierengehen abholen. Können wir nicht mit?«
»Wenn Ihr Eure Arbeiten fertig habt und es nicht zu spät wird.« …
Während Clärchen in der Sorge für ihre Kleinen den tödtlichen Schmerz um ihr verlorenes Eden, der sie noch nie so mitleidslos grausam gepackt hatte, wie heute, zu betäuben suchte, schleppte sich ihr Gatte durch die sonnebeschienenen engen und winkligen Gassen den tausendmal durchschrittenen Weg nach der Redaction. Die Begegnung mit seinem Knaben hatte ihn wieder an das erinnert, was er so gern vergessen hätte, vergessen mußte, wenn er sein Tagewerk mit gewohnter Sorgsamkeit vollenden wollte. Als der Kleine mit seinem fröhlichen unschuldigen Gesicht zu ihm emporgeschaut hatte, war es ihm aufgefallen, daß er sich zu ein paar freundlichen Worten förmlich hatte zwingen müssen. Er hatte nichts dabei empfunden; es war ihm gewesen, als ob die Saiten seines Herzens zerrissen wären und keinen Ton mehr gäben.
»So ist es recht,« murmelte er vor sich hin, während er, ohne die Augen von dem Straßenpflaster zu erheben, langsam weiterschritt; »des Menschen Sohn darf nicht haben, wohin er sein Haupt lege. – Sei ruhig, Clärchen, wenn ich Dich nicht lieben kann, wie Du geliebt zu sein wünschst, geliebt zu werden verdienst, – so ist es wahrlich nicht, weil ich eine Andere liebte. Das schöne Weib vorgestern Abend blickte mich an mit triumphstrahlenden Augen, die deutlich sagten: wie Du Dich sträubst, Du bist ja doch mein eigen! Du triumphirtest zu früh, schönes Weib! Es ist ja doch nur der alte Traum – und auch die Traumesbande streife ich ab, wie ich sie abgestreift habe die anderen Bande, die der Mensch sich schuf in seines Sinnes Thorheit. Wie heißt es doch, das grause Wort von dem Haß, den wir der Welt schwören müssen, bevor wir dem Heiland folgen können, der die Welt befreit? Ich will dem Rufe folgen, der an mich ergangen ist, will ihm folgen, ohne nach rechts und links zu sehen: es ist mein Schicksal; ich kann nicht anders.«
So, in dumpfem Grübeln, das ihm keinen Trost und keine Klarheit brachte und bringen konnte, verloren, erreichte Münzer endlich das alte Haus in der Ufergasse. Er athmete tief auf, als er über die Schwelle schritt. Wie eine schwere Last fiel es von seiner Seele. Hier war die Arbeit, die mitleidslose, barmherzige Arbeit; vor ihrem strengen klaren Auge wichen die Eumeniden, die sich an seine Fersen hefteten.
In dem Redactionszimmer fand er den Dr. Holm noch ganz aufgeregt von den Ereignissen des Nachmittags. Der eisenköpfige Cajus hatte nicht geruht, bis er von Tante Bella die Erlaubniß, in seine Wohnung gebracht werden zu dürfen, ertrotzt hatte. Tante Bella hatte nachgegeben, aber erst, nachdem der Arzt erklärt: er glaube, es werde zur Beruhigung des Leidenden beitragen, wenn man seinen Wunsch erfülle. So war denn Cajus, vor einer Stunde in Begleitung Tante Bella's, die sich das nicht nehmen ließ, und des Arztes in einer Droschke abgefahren. Peter Schmitz war schon den ganzen Nachmittag in Geschäften aus; Dr. Holm war seelenfroh, daß endlich Jemand kam, der ihm bei der Arbeit helfen und dem er sein Herz ausschütten konnte. Er war in durchaus mittheilsamer Stimmung, aber Münzer war noch stiller und verschlossener als sonst, und Holm ließ ihn gewähren, nachdem einige Versuche, über der Arbeit ein Gespräch anzuknüpfen, vergeblich gewesen waren. Als aber gegen Abend die Arbeit gethan, die letzte Fahne corrigirt durch das Fensterchen in die Setzerstube gewandert, die Briefe beantwortet, die eingelaufenen Korrespondenzen, die nicht mehr in das Abendblatt konnten, für morgen zurecht gestrichen und gestutzt waren, und Münzer nach einem neuen Bogen langte und die Feder noch einmal in das Tintenfaß tauchte – da wurde es dem guten Dr. Holm denn doch zu arg, und seine Pfeife mit ungewöhnlicher Energie ausklopfend, sagte er:
»Hören Sie, Münzer, es ist schon ziemlich spät und ich glaube, für Ihre paar Thaler haben Sie heute gerade genug gearbeitet.«
»Ich arbeite nicht für Geld, lieber Holm,« sagte Münzer.
»So? für was oder wen denn? für die Menschheit im Ganzen und Großen? lieber Münzer, die Menschheit im Ganzen und Großen wird auch wohl zurecht kommen, ohne daß wir uns bei lebendigem Leibe schinden und unsre Haut noch obendrein zu Markte tragen.«
»Ich weiß Holm, daß Niemand von einem solchen selbstmörderischen Attentat ferner sein kann, als Sie!«
»Ja, bei den Olympiern und ich rühme mich dessen. Der Mensch ward nicht geboren, frei zu sein, sagt der alte Göthorum, und wenn das, im Sinne des alten Herrn wenigstens, unleugbar richtig ist, so ist noch viel richtiger: daß er nicht geboren ward, ein Packesel zu sein.«
»Sie werden anzüglich, lieber Holm.«
» Tertium comparationis, oder, wie es im klassischen Latein heißt: tertiorum comparorum! Das Tertium ist, daß Sie sich mehr aufpacken, als Sie tragen können, trotz aller Ihrer Kraft, die wahrhaftig kein Mensch besser würdigen kann, als ich. Und angenommen auch, – obgleich ich es für mein Theil nur mit gewissen Reservationen annehme – es habe einen Sinn, sich für eine Idee zu opfern, so scheint mir doch, daß man dazu nur dann eine Berechtigung hat, wenn man, so zu sagen, vorher seine anderen Schulden bezahlt hat.«
»Ich habe keine Schulden, lieber Holm.«
»Ich wollte, Sie hätten welche und noch andere menschliche Gebrechen, durch die wir daran erinnert werden, daß wir unter den anderen Menschen nur Gleiche unter Gleichen sind. Ich bin ein so guter Demokrat, daß ich alle Aristokratie hasse, selbst die Aristokratie der Tugend, und ich verdenke es den Athenern gar nicht, daß sie den übergerechten Aristides ostracisirten. Was fiel dem Menschen ein, daß er durchaus besser sein wollte, als Paul und Peter? Aber um auf Sie zurückzukommen –«
»Dauert Ihre Rede noch lange?« fragte Münzer, die Feder wiederum in das Tintefaß tauchend.
»Je nachdem sie langsamer oder schneller die erwünschte Wirkung auf Sie ausübt,« erwiderte Holm, »also um auf Sie zurückzukommen, so haben Sie, wie Sie sagen, keine Schulden, die mancher brave Kerl hat; dafür erfreuen Sie sich aber einer liebreizenden Frau und holdseliger Kindlein, die so mancher brave Kerl entbehren muß. Dieser Frau, diesen Kindern sind Sie schuldig, sich ihnen frisch, frei und fröhlich zu erhalten und wie Sie dazu bei diesem übermäßigen Arbeiten und bei Ihrer Leidenschaftlichkeit auf die Dauer werden im Stande sein – das kann ich bei Zeus und allen Himmlischen nicht absehen, noch begreifen.«
»Sterben müssen wir Alle einmal,« sagte Münzer, dessen Ungeduld sichtbar wuchs.
»Also wollte es die Moira,« erwiderte Holm, eine Cigarre aus seiner Tasche nehmend und anzündend; »dafür können wir also nichts; aber daß wir uns und Anderen den Trank des Lebens nicht sauer machen, dafür können wir. Kommen Sie, Münzer! Schmitz's haben einen Spaziergang projectirt. Es scheint ihnen wahrhaftig allen Beiden Noth zu thun, denn Schmitz läßt seit gestern den Kopf bedeutend hängen, Tante Bella sieht aus wie eine Wetterwolke, und die kleine Ottilie muß ja hier ersticken in diesen alten dunklen Zimmern, sie, die nur eben kam aus der Heimath duftiger Tannen. D'rum, o Münzer, so kommt! und laßt die gräuliche Arbeit! Holet die Gattin, die holde, die Mutter lieblicher Kinder. Und die Kindelein selbst, denn also müssen wir werden, wollen wir kommen in's himmlische Reich, zum Vater, dem Alten.«
»Es geht nicht, Holm, ich kann nicht.«
»Saget den Grund mir an und meldet die lautere Wahrheit,« scandirte Holm, der bereits aufgestanden war, sich gereckt und gestreckt und endlich den breiträndrigen gelben Strohhut ergriffen hatte.
»Ich muß heute Abend den armen Cajus besuchen, der, wie Sie wissen, an der Menschheit vollends verzweifeln würde, wenn ich, von dem er, wie es scheint, mehr hält, als von allen Andern, ihn verließe.«
»Cajus werde besucht, von Ihnen, wie auch von Andern, so zum Beispiel von mir, doch gar nicht hindert uns dieses.«
»Und vorher,« sagte Münzer, »muß ich, wie Sie vergessen zu haben scheinen, die sechste und letzte Epistel In Praesidentem schreiben. In acht Tagen ist Wahl, und da möchte ich denn doch vorher diesen edlen Marsyas vollends geschunden haben.«
Dr. Holm schlug sich vor die Stirn.
» In Praesidorum! ja wahrhaftig; das hatte ich ganz vergessen. Er ist hier gewesen.«
»Wer? der Präsident?«
»Ja, und verlangte eifrig nach Ihnen. Er hat Sie in Ihrem Hause aufgesucht oder aufsuchen wollen – ich weiß es nicht. Er bittet Sie, ihn, wenn es sein kann, heute noch zu besuchen.«
»Was will er denn von mir?« sagte Münzer.
»Die Götter mögen es wissen; ich habe ihn nicht gefragt,« sagte Holm, »die Geschichte mit Cajus kam dazwischen. Ich vermuthe: Wahlsachen; vielleicht will er uns ein Compromiß anbieten. Sie werden auf keinen Fall hingehen.«
»Weßhalb nicht? der Mann hat mir einen Besuch gemacht; die einfache Höflichkeit erfordert, daß ich diesen Besuch erwidere. Uebrigens glaube ich, daß es sich um die Zeitung handelt. Sie sind, Dank unserer Schlaffheit, jetzt wieder mächtig genug, uns nöthigenfalls mit Gewalt zu unterdrücken. Ich werde dem Manne sagen, daß ihnen das nicht viel helfen wird und daß für diesen Fall gesorgt ist. Es ist nicht wahr; aber er ist pfiffig genug, es zu glauben, und wir ersparen uns möglicherweise so viele Weitläufigkeiten. Und soll ich eine persönliche Zusammenkunft mit dem Manne scheuen, gerade jetzt, wo er täglich die Zielscheibe meiner Satyre ist – das wäre feig und würde von der ganzen Partei als Feigheit ausgelegt werden. Ich gehe.«
Mit jener Leidenschaftlichkeit, die Münzer's Entschließungen charakterisirte, war er aufgesprungen und hatte den Hut ergriffen. Holm schüttelte den Kopf.
»Münzer, ich wollte, Sie gingen mit uns und ließen den Präses. Kirschen pflücken sich schlecht mit großen Herren, und wer sich freventlich stürzt in Gefahr, der wird gar leichtlich geschädigt. – Im Ernst, Münzer, ich habe eine Ahnung, daß Ihnen der Weg gereuen wird. Gehen Sie nicht hin.«
»Ueber die ängstlichen Menschen!« rief Münzer; »Gefahren ringsum, überall, wohin man blickt. Und wären es doch nur Gefahren! Ich habe eine Sehnsucht, mich hinein zu stürzen. Ich brauche eine Aufregung; mir ist, als kämen wir nicht aus der Stelle, als ob die Revolution im März gestorben wäre und wir schmückten einen Leichnam, ohne es zu wissen. Die Zusammenkunft mit meinem Gegner wird mich erquicken. Ich werde ihm den sechsten Brief in's Gesicht sagen, so brauche ich ihn nicht zu schreiben. Das ist profit tout clair.«
Und Münzer eilte aus dem Zimmer, ohne auf seinen lahmen Gefährten zu warten.
»Ich glaube, der Münzer schnappt noch einmal über,« sagte Dr. Holm, während er sich mit außergewöhnlicher Vorsicht, – denn Cajus' Unfall hatte ihn lebhaft an die Gebrechlichkeit und Hinfälligkeit alles Menschlichen erinnert – über die knarrende Gallerie nach vorne in die Schmitz'schen Wohnzimmer begab, »wie kann nur ein sonst so gescheidter Mensch in anderen Punkten wieder so ganz verrückt sein.«