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S ie fanden Margareth nicht in ihrem Zimmer; Ursel sagte, sie glaube, die gnädige Frau sei im Garten.
Der große Garten hinter dem Hause erstreckte sich weit zwischen den Hintergebäuden der Nachbarhäuser bis an die Stadtmauer. Haus und Garten gehörten – wie beinahe die ganze Straße – dem benachbarten Kloster, und der Stadtrath konnte sich über seine Miethsherren in keiner Weise beklagen. Sie nahmen einen sehr mäßigen Zins, hatten ihn im Laufe von zwanzig Jahren um keinen Heller gesteigert und bekümmerten sich so wenig um ihre Miether, daß der Stadtrath gelegentlich, ohne Widerspruch fürchten zu müssen, von »seinem Hause« sprechen konnte. Aber auch Wolfgang, dessen früheste Erinnerungen sich mit diesem Hause verknüpften, kam nie der Gedanke, daß Andere in diesen Räumen schalten und walten könnten, und was Margareth anbetrifft, so hatte sie Wolfgang noch vor Kurzem versichert, sie wüßte nicht, wie sie weiter leben solle, wenn sie einmal gezwungen wäre, von ihren Garten sich zu trennen. In der That war der Garten ihr Lieblingsaufenthalt, wo sie während der guten Jahreszeit fast alle Stunden, in welchen das Wetter es erlaubte, zubrachte. Schon am frühesten Morgen – und dann am häufigsten – konnte man sie im Sommer zwischen den Blumenbeeten und in den schattigen Gängen langsamen Schrittes und die Hände leicht unter dem Busen gekreuzt auf- und abwandern sehen. Das waren Margarethens glücklichste Stunden. Die weiche balsamische Gartenluft war die rechte Atmosphäre für ihr weiches, liebevolles, liebebedürftiges Herz. Hier konnte sie ungestört ihren Phantasien nachhängen, konnte sich von dieser rauhen, harten, mitleidslosen Welt wegträumen, weit, weit weg in bessere Regionen, wo es sich nicht immer nur um Mein und Dein handelt, wo Menschen lieben dürfen und geliebt werden, ohne zu fragen, wie ihr Soll und Haben dabei steht. Und niemals flüchtete Margareth lieber in das grüne, schattige Revier, als wenn sie einen Kummer hatte, der sich in den kühlen, engen Stuben drückend schwer und schwerer auf ihr Herz legte. Hier, zwischen ihren Rosen und Nelken, athmete sie leichter, hier löste sich der dumpfe Schmerz in Wehmuth auf, hier konnte sie Thränen finden und mit den Thränen jene stille demüthige Resignation – das letzte Zufluchtsmittel von Natur schwacher oder durch ein hartes Schicksal in ihrer Kraft gebrochener Naturen.
Margareth war in solchen Stunden wie ein verwundeter Vogel, der sich scheu in die Ackerfurche und unter die Halme schmiegt und sich, wenn es sein muß, still zu Tode blutet. Seit gestern hatte sie dies todtmüde Gefühl einer unheilbaren Verwundung nicht mehr verlassen. Wolfgang's Liebe zu Camilla war ihr ein unumstößlicher Beweis, daß auch in ihres Sohnes Herzen, das sie so genau zu kennen, so ganz zu besitzen glaubte, ein Etwas lebe, das sie nicht begreifen, mit dem sie nicht sympathisiren konnte; und in dem Plane, ihn in eine militairische Laufbahn zu drängen, sah sie die Vollendung des Triumphes, den jene stolzen unheimlichen Hohensteins über sie, die arme Buchdruckertochter, feierten. Dem Hochmuth dieser Familie hatte sie die eigene Ruhe, das Glück eines stillen, friedlichen Lebens geopfert; jetzt sollte auch der Sohn, ihr einziger heißgeliebter Sohn von ihr gerissen werden, um dieser Familie, den selbstsüchtigen Interessen dieser hochmüthigen Menschen zu dienen. Hatte ihr nicht Peter vor Jahren schon vorausgesagt, daß es so kommen würde? daß der Adel wie eine Flamme sei, die nur vom Raube lebe? und daß sie weder sich noch ihre Kinder aus dieser Flamme würde retten können? Damals, als der Lieutenant Arthur von Hohenstein ihr auf den Knien schwur, daß er sie mehr als Rang und Stand und Reichthum, mehr als sein Leben liebe, hatte sie der mahnenden Stimme des Bruders ihr Ohr verschlossen; seitdem aber war ihr von Jahr zu Jahr die herbe Wahrheit jener Worte klarer und klarer geworden, und seit gestern wußte sie, daß die Prophezeiung buchstäblich in Erfüllung gegangen sei. War es ihr doch, als ob sich seit gestern zwischen ihr und dem geliebten Sohne eine Scheidewand aufgethürmt habe; als ob sie jetzt ganz allein stehe in der Welt, ein Fremdling in dem Hause ihres Gatten, ein Fremdling in dem alten Hause in der Ufergasse. Nein, nicht dort ein Fremdling! Ihr Bruder Peter würde sie nie verleugnen, ihre Schwester Bella würde sie in ihrer Heftigkeit wohl einmal hart anlassen, aber zu jeder Zeit bereit sein, den letzten Bissen mit ihr zu theilen, wie in der alten, längst vergangenen Zeit; und jetzt war ja auch noch das holde Mädchen da, das ihr in den wenigen Stunden so lieb geworden war. Aber sie durfte ja ihre Verwandten nicht lieben; sie durfte ja keine Verwandte haben, sie durfte ja nicht durch Familiensentimentalität die Pläne ihres Gatten verwirren!…
»Ehem, hem!«
Margareth blickte erschrocken an der hohen, mit Weinspalieren bekleideten Gartenmauer empor, aber sie mußte in all' ihrem Schmerze lächeln, als sie gerade über sich den alten Köbes sah, der sich mit beiden Armen auf den obersten Rand lehnte, und wie es schien, starr in den blauen Himmel nach den langsam ziehenden weißen Wolken blickte. Margareth und Köbes waren sehr gute Freunde; es war auch nicht das erste Mal, daß Nachbar Köbes in dieser Weise das Interesse, welches er an der schönen stillen Frau nahm, bethätigte.
»Guten Morgen, Nachbar,« sagte Margarethe.
Köbes schaute noch einmal, die Augen mit der flachen Hand bedeckend, nach den Wolken aus, als ob die Stimme, die er gehört, von dorther gekommen sein müsse, und dann erst in den Garten und auf Margareth hinab.
»Geht's gut?« sagte Köbes.
»Ganz gut,« erwiderte Margareth.
»Der Junge?«
»Auch gut.«
Köbes schüttelte den Kopf, als ob er diese Behauptung ernstlich bezweifle.
»Falsch angespannt;« sagte er.
Margareth blickte fragend zu dem wunderlichen alten Mann hinauf.
Köbes deutete mit dem Daumen der rechten Hand über die linke Schulter in eine Richtung, in welcher wahrscheinlich Rheinfelden lag und sagte:
»Hohensteins sind Hohensteins.«
Darauf verschwand er von der Mauer mit einer Geschwindigkeit, welche die Sprossen der Leiter, auf der er gestanden hatte, knacken machte.
Margareth wußte nicht recht, was der alte Freund mit seiner letzten geheimnißvollen Aeußerung gemeint haben möchte, aber die Ursache seines plötzlichen Verschwindens wurde ihr klar, als sie sich umwandte und ihren Gatten Arm im Arm mit ihrem Sohne den Weg an der Mauer heraufkommen sah. Arm in Arm! so hatte sie die Beiden noch nie gesehen; der Anblick gab ihr einen Stich in's Herz; ihr Gatte hatte jetzt ihre Stelle eingenommen; sie war vertrieben aus dem Heiligthum ihrer Liebe; sie war nichts mehr.
Wolfgang machte sich von dem Arme des Vaters los und eilte der Mutter entgegen, um sie mit der vollen Zärtlichkeit seines warmen, von dem Nachklang der Unterredung mit seinem Vater noch bebenden Herzens an seine Brust zu schließen.
Es bedurfte nur dieses einen vollen Sonnenblickes der Liebe, um die starre Hoffnungslosigkeit, die sich der armen Frau bemächtigt hatte, in Freudenthränen aufzulösen. Sie verbarg ihr Gesicht an ihres Sohnes Brust und schluchzte leise: »Behalte mich nur lieb, Wolfgang, dann mag geschehen, was da will.«
Der Stadtrath trat herzu.
»Guten Morgen, Gretchen,« sagte er, ihre Hand ergreifend und sie mit der ihm eigenen ritterlichen Anmuth an die Lippen führend; »das hättest Du wohl nicht geglaubt, daß wir Beide Dich hier überraschen würden? Aber ängstige Dich nur nicht des Wolfgangs wegen. Ich sagte Dir ja: wir Hohensteins haben eine zähe Natur. Gestern halb todt, und heute wie ein Fisch gesund. Ist's nicht eine Freude zu sehen, wie schnell sich der Junge erholt hat!«
»Aber wollen wir nicht lieber hineingehen?« fragte Margareth mit einem freundlichen Lächeln die Galanterie ihres Gatten erwidernd; »ich fürchte, es dürfte dem Wolfgang doch zu viel werden.«
»Durchaus nicht. Mütterchen,« jagte Wolfgang; »im Gegentheil, der schöne warme Sonnenschein, dies Singen der Vögel, diese milde weiche Luft – das Alles thut mir unendlich wohl. Wir wollen, wenn es Dir recht ist, hier noch ein wenig auf- und abgehen. Dein Eden hat sich ja, seitdem ich es zuletzt gesehen, so herrlich verändert! Damals sah es noch ziemlich dürftig aus; jetzt grünt und blüht ja Alles, daß es im Park von Rheinfelden nicht schöner ist.«
»Ha, ha, ha!« lachte der Stadtrath; »im Park von Rheinfelden! – Deinem Eden! damit darf sich freilich Nichts vergleichen. Aber Du hast Recht: der alte Park ist wundervoll, ächt aristokratisch, trotz seiner Verwilderung. Es wird Dir da auch schon gefallen, Gretchen, wenn aus den Fenstern zwischen den Stuckschnörkeln nicht mehr der alte Grisbart herausschaut, und Wolfgang und Camilla das Regiment im Schlosse führen. Brauchst mich nicht so ängstlich anzusehen, Gretchen! Wolfgang und ich haben uns vollkommen ausgesprochen. Seine Wahl hat meinen vollen Beifall, und die Zustimmung aller seiner Verwandten – was braucht's da der Geheimnisse, wie damals, als ich auf Freiersfüßen ging. Ha, ha, ha! ja, Gretchen, das war freilich ganz etwas Anderes, romantischer allerdings, aber doch auch verteufelt unbequem. Hier ist Alles plan und klar; hier weiß Jeder, was er will und soll; es ist im Grunde die einfachste Sache von der Welt. Und auch über den Punkt, der Dir so bedenklich schien, Gretchen, habe ich mit dem Wolfgang gesprochen. Wolfgang ist ein braver Junge, der zu seinem Vater hält und seine eigenen Liebhabereien zu vergessen im Stande ist, wenn es sich um das Wohl und Wehe seiner Familie handelt. Deine Bereitwilligkeit soll Dich nicht gereuen, mein Junge! Es lebt sich wahrhaftig nicht so schlecht als Officier, notabene, wenn man einen so kräftigen Rückhalt hat, als Du ohne Zweifel an dem Alten haben wirst und ebenso an dem Präsidenten, dessen ganz specielles Interesse ja ist, Dich in jeder Weise zu poussiren. Und was Deine Liebhabereien betrifft, Deine Bücher, Dein Klavier – du lieber Himmel: wer hat denn so viel Zeit, sich mit dergleichen abzugeben, als ein Officier und – Goethe oder Schiller – ich weiß es wirklich nicht gleich, – aber Einer von den Beiden sagt einmal: Es hat in der heutigen Gesellschaft Niemand eine so günstige Position, wie ein gebildeter Officier – oder ungefähr so. Aber, mein Himmel, ich glaube gar: wir bekommen da ganz unerwartet den reizendsten Besuch. Wahrhaftig: meine Schwägerin und die Mädchen!«
Der Stadtrath war – trotzdem der ganz unerwartete Besuch genau zur verabredeten Stunde eintraf – freudig überrascht; Margareth fing an zu zittern und Wolfgang hatte sichtbar genug die bescheidene Festigkeit, durch die sein Auftreten vor dem vieler junger Männer seines Alters sich sonst vortheilhaftest auszeichnete, verloren. Desto sicherer schien die Präsidentin ihrer Sache zu sein. Schon von weitem gab sie durch Mienen und Gebehrden zu erkennen, daß sie Alles wisse, mit Allem einverstanden sei und jetzt komme, dies durch einen öffentlichen Act zu constatiren; ja sie eilte ihren Töchtern um mehrere Schritte voraus und schloß mit stürmischer Zärtlichkeit erst Margareth, dann den Stadtrath und endlich Wolfgang in ihre Arme – den letzteren mit den Worten: mein lieber, lieber Sohn! Camilla folgte mit bewunderungswürdigem Tact und zartestem Verständniß der Situation dem von der Mutter gegebenen Beispiel.
»Bravo, bravo!« sagte der Stadtrath; »die lieben Kinder! aber lassen wir das zärtliche Pärchen sich ungestört aussprechen. Sie werden sich eine Welt zu erzählen haben. Treten wir Andern unterdessen in diese Laube. Unser Pärchen wird schon ein anderes verschwiegenes Plätzchen ausfindig machen.«
Wolfgang und Camilla ließen sich diese Erlaubniß nicht zweimal geben. Schon im nächsten Augenblick waren sie allein und eilten Arm in Arm tiefer in den Garten, der mit seinen ehrwürdigen Bäumen, durch deren dichtes Laubdach kaum hier und da ein Strahl der Sonne drang, mit seinen hohen blühenden Büschen, in denen die Vögel zwitscherten, für Liebende, welche die Einsamkeit suchten, wie gemacht war. Wolfgang hatte über der Nähe des geliebten Mädchens alle Sorgen und Zweifel vergessen, die noch vor wenigen Minuten sein Herz bedrückt hatten; ja diese Sorgen und Zweifel trugen jetzt nur dazu bei, ihm das Bewußtsein, dies holde Geschöpf zu lieben, von ihr geliebt zu werden, doppelt köstlich zu machen. Und wahrlich! auch ein kälteres Herz als das Wolfgang's hätte von Camilla's traumhaft schöner Erscheinung hingerissen werden können. Sie war dem Jüngling noch nie so wunderbar, so unbegreiflich herrlich erschienen. Mit einem Entzücken, das sich mit jedem Augenblicke steigerte, hingen seine trunkenen Augen an diesem Wesen, an das die Natur mit launischer Zärtlichkeit all' ihre reizendsten Formen und Farben verschwenderisch ausgeströmt hatte. Welche Zärtlichkeit strahlte aus den lichtbraunen, von dunkelsten Wimpern überschatteten Augen! welcher Liebreiz spielte um diese feinen Lippen, um diese edlen, jetzt vom zartesten Roth durchhauchten Wangen! Wie rundlich und zierlich waren die Finger der kleinen, schmalen Hand, von der sie, als sie Seite an Seite auf einer Bank unter den schattigen Kastanien saßen, den Handschuh abstreifte! wie stimmte der Fuß, den sie jetzt, als Wolfgang so eifrig darauf blickte, so schnell unter das Gewand zurückzog, mit der schmalen, kleinen Hand! wie weich und fein war dieser jungfräuliche Leib, um den Wolfgang mit traulicher Zärtlichkeit seinen Arm schlang! wie muthete ihn der sanfte Klang dieser Stimme an! Es waren nur wenige Worte, mit denen sie die leidenschaftlichen Ergüsse seiner Beredtsamkeit erwiderte, und einem unbefangenen Hörer würde es schwerlich entgangen sein, daß unter diesen wenigen Worten kein einziges war, welches auf ein reicheres geistiges Leben schließen ließ. Aber der Liebende denkt in jenen seligen Stunden, in welchen die Liebe, wie ein üppiger Frühlingstag, in seinem Herzen blüht und duftet und singt, an dergleichen Kleinigkeiten so wenig, wie das Kind daran denkt, daß die lebhaften Wechselreden, die es mit seiner Puppe führt, einzig und allein von ihm selbst geführt werden, und daß die Puppe, die geliebte, unartige, artige Puppe ein lebloses ledernes Ding ist, das nicht fühlt, nicht denkt und mit ihren dummen Porzellanaugen Ja und Nein blickt, wie das Kind es eben will …
Unterdessen waren von den Andern der Stadtrath und die Präsidentin nicht lange in der Laube geblieben. Der Präsidentin war eine kleine Spinne über die Hand gelaufen und Spinnen waren ihr ein Gräuel; der galante Stadtrath schlug der Schwägerin eine kleine Promenade vor; Aurelie erklärte, der Tante, die sich etwas abgespannt fühlte, in der Laube Gesellschaft leisten zu wollen. Die beiden Ersteren waren kaum fort, als Aurelie sich mit Lebhaftigkeit zu Margareth wandte und ihre Hände ergreifend, in leisem Tone sagte: »Ich liebe Sie sehr; Sie haben so gute treue Augen; vertrauen Sie mir!«
»Von Herzen!« sagte Margareth, nicht wenig verwundert, ja einigermaßen erschrocken über diese Anrede, und dennoch mit der Bereitwilligkeit des Furchtsamen und Verlassenen die Freundschaft, die ihr geboten wurde, dankbar annehmend.
»Ich bin ein wenig leichtfertig,« sagte Aurelie, noch näher an Margareth heranrückend und ihr mit den lebhaften Augen scharf in das Gesicht sehend, »wenigstens sagen es Alle, und ich glaube es auch. Das heißt: ich bin gern lustig und tanze für mein Leben gern; aber ich meine es gut, und wenn ich Jemand lieb habe, dann kann ich für ihn durch's Feuer gehen, wenn es sein muß.«
»Das ist brav!« sagte Margareth, die in diesem Punkte wenigstens mit ihrer neuen jungen Freundin sympathisirte; »Sie sind ein liebes gutes Kind.«
»Finden Sie?« sagte Aurelie; »meine Mutter versichert mich seit einiger Zeit täglich das Gegentheil.«
»O!« sagte Margareth.
»Ja, und weshalb?« fuhr Aurelie, immer eifriger und leiser sprechend, fort; »weil ich nicht so schmeicheln kann, wie Camilla und meine Meinung gern geradeheraus sage, wie heute Morgen. – Wenn der Wolfgang Camilla wirklich so übermenschlich lieb hat, so wird er ja schon von selber kommen, sagte ich; aber ihm so in's Haus laufen unter dem Vorwand, uns nach seinem Befinden zu erkundigen, das halte ich nicht für besonders tactvoll, sagte ich. Na, liebe Tante, ich will Ihnen offen gestehen: Ihr Wolfgang ist ja gewiß recht gut und er ist ja auch so weit recht hübsch; aber er ist mir zu gelehrt und zu gesetzt, enfin: mein Geschmack ist er nicht. Das thut aber nichts zur Sache. Ich gönne ihm von Herzen eine gute Frau und Camilla« –
Aurelie zuckte die runden weißen Schultern (auf denen die Mantille durchaus nicht haften wollte) und schürzte die rothen küßlichen Lippen.
»Ist nicht gut? nicht wahr: sie ist nicht gut?« sagte Margareth angstvoll.
»Wie man's nehmen will,« erwiderte Aurelie, die Mantille in die Höhe ziehend; »ich zanke mich oft mit ihr. Nun das kann wohl vorkommen, es wäre ja auch langweilig, wenn man immer derselben Meinung wäre, aber, wenn ich dann sage: Camilla, wir wollen uns wieder vertragen, so schweigt sie, oder sagt auch ja! aber im Herzen vergiebt sie mir nicht. Und dann ist sie versteckt, so daß eigentlich Niemand weiß, was sie im Schilde führt, ich glaube, selbst nicht einmal die Mama.«
»O, mein Gott, mein Gott!« seufzte Margareth aus der Tiefe ihres geängstigten Herzens.
»Was haben Sie, liebe Tante?« fragte Aurelie.
»Und das soll die Frau meines Wolfgang werden!« Nagte Margareth.
»Ja so!« sagte Aurelie; »nun das ist ja im Grunde so schlimm nicht; es läßt sich schon mit ihr fertig werden; aber freilich muß man sie kennen, wie ich sie kenne. Und das war auch der Grund, weshalb ich Ihnen das Alles gesagt habe, damit Sie wissen, woran Sie sind; und Sie können das ja Ihrem Wolfgang so nach und nach beibringen; dann wird er mit ihr auskommen. Und was das übrige Auskommen betrifft, dafür wird wohl der Großonkel sorgen. Camilla und Wolfgang sind ja seine Lieblinge; wir andern laufen nur so nebenher. Es ist himmelschreiend, auf Ehre! wie Vetter Kuno gestern Abend sagte, aber was nicht zu ändern ist, darüber soll man sich nicht ärgern, denn Aerger macht gelb und häßlich, wie ich Vetter Kuno erwiderte. Quand on parle du loup – da kommt die ganze militairische Gesellschaft; das wird ja ein wahres Familienfest! Aengstigen Sie sich nur nicht, liebes Tantchen, ich halte zu Ihnen.«
Der Stadtrath und die Präsidentin hatten die Kommenden von einem andern Punkte des Gartens schon früher bemerkt und traten ihnen jetzt in dem Heckengange entgegen. Die Brüder reichten sich die Hände, die Schwägerinnen umarmten sich; der Lieutenant und der Fähndrich verbeugten sich – die Hacken zusammen und die rechte Hand am Mützenschirm – einmal über das andere. So näherten sie sich der Laube, und kaum hatte sich Margareth im Eingange derselben gezeigt, als die Obristin – genau so, wie vorhin die Präsidentin – den Uebrigen vorauseilte, die »liebe, liebe Schwägerin« mit einer überfließenden Zärtlichkeit zu umarmen. »Ich hatte mir gestern schon erlaubt, bei Ihnen vorzusprechen, liebe Margareth; aber Sie konnten sich nicht vom Krankenlager Ihres Wolfgang trennen. Gestern Abend sagte uns Ihr lieber Mann, daß der Wolfgang wieder ganz wohl sei und da konnten wir uns denn die Freude nicht versagen, Ihnen zu dem freudigen Ereigniß, an dem wir Alle so innigen Antheil nehmen, unsern herzlichen Glückwunsch darzubringen.«
Und Selma wiederholte ihre Umarmung mit einem Aufwand von Rührung, der Aurelien zwang, ihr Taschentuch vor der Mund zu halten, um einen unzeitigen Husten nicht zu laut werden zu lassen.
Jetzt war auch der Obrist mit den Söhnen herangetreten. Der Obrist hatte sein finsteres Gesicht in möglichst freundliche Falten gelegt, und trieb die Höflichkeit so weit, Margarethen die Hand zu küssen, welchem Beispiel die Herren Lieutenant Kuno und Fähndrich Odo auf der Stelle folgten.
»Ich komme, gnädige Frau,« sagte der Obrist, »um zu sehen, ob ich meinem Avantageur noch länger Revier geben kann; und meine Jungen hier wollen den Vetter Kamerad begrüßen. Aber wo steckt denn der Herr Sohn? Coupirtes Terrain – gut zum Tirailliren. Ha, ha!«
Der Obrist stieß ein kurzes, heiseres, unheimliches Lachen aus, wie es der Wolf in der Fabel gelacht haben mag, als er Rothkäppchen über die Waldwiese auf der Großmutter Hütte zuschreiten sah.
»Ich denke, wir lösen uns in eine Postenkette auf und suchen den Garten ab;« schnarrte der Lieutenant Kuno.
»Oder schlagen Vergatterung, ha, ha, ha!« quäkte der Fähndrich Odo.
»Die Herren sollen keine Gelegenheit haben, ihre Tactik in Anwendung zu bringen,« sagte der Stadtrath, »denn dort kommt unser Pärchen Arm in Arm.«
»Wo, wo?« rief die Obristin, mit ihrer Lorgnette nach allen Himmelsrichtungen spähend; »die Lieben! wahrhaftig, da kommen sie; ich muß ihnen entgegenfliegen.«
»Thut sie nicht, als ob sie die Hauptperson wäre!« flüsterte die Präsidentin dem Stadtrath zu.
»Lassen wir sie,« entgegnete dieser ebenso, »sie arbeitet uns ja doch nur in die Hände.«
Selma brachte Wolfgang und Camilla im Triumph herbeigeführt. Camilla nahm die Glückwünsche ihrer Verwandten mit züchtig niedergeschlagenen Augen entgegen, Wolfgang mit der offenen Zuvorkommenheit, die ihm heute mehr als je Bedürfniß war. Hatte er doch keine Ahnung davon, daß der Obrist, der ihm mit seinem finstern Lächeln auf die Schulter klopfte und Ihm zu der »Spadille« gratulirte, die er schon in wenigen Tagen an der Seite tragen werde, ihm diese »Spadille« mit Vergnügen durch die Brust gerannt hätte, wenn die Sache ihm ebenso leicht als wünschenswerth gewesen wäre; wußte er doch nicht, daß sein Vetter Kuno noch gestern Abend zu Herrn von Willamowsky gesagt hatte: wir wollen dem jungen Hahn schon die Sporen beschneiden, wenn wir ihn erst auf unserm Kasernenhof haben – ein Bonmot, welches der Baron mit einem herzlichen: der Teufel soll ihn holen! erwidert hatte; würde er doch die Versicherung, daß – mit Ausnahme seiner Mutter und etwa Aureliens – alle diese lächelnden, schwatzenden, von Wohlwollen und Liebe scheinbar so erfüllten Menschen in ihm nur ein verächtliches Mittel zur Erreichung ihrer Ziele, oder geradezu einen Gegenstand des Hasses sähen, für eine Versündigung an der Menschheit gehalten haben. Er glaubte, daß seine Verwandten es so ehrlich mit der Versöhnung meinten, wie er selbst es meinte, und daß, wenn sie der guten Sache ihren Stolz, ihre Eitelkeit zum Opfer gebracht hätten, sie dies mit derselben Rückhaltlosigkeit gethan haben würden, wie er selbst dem Wohle des Vaters seine eigenen Neigungen geopfert hatte. Daß der Großonkel ihn, mit Umgehung der Uebrigen, zum alleinigen Erben einsetzen könnte, hielt er für vollkommen unmöglich. Ihm war es genug, und er freute sich herzlich, daß der alte Herr von jetzt an keinen Unterschied zwischen den Söhnen seines Bruders machen zu wollen schien. Darüber hinaus gingen weder seine Wünsche, noch seine Hoffnungen. Dies Bewußtsein gab seinem Benehmen bei der heutigen unerwarteten Zusammenkunft eine Herzlichkeit, die das gerade Gegentheil von der kühlen, reservirten Haltung war, welche er vor wenigen Wochen auf Schloß Rheinfelden gegen seine Verwandten beobachten zu müssen glaubte, ihm aber nicht besser ausgelegt wurde, als diese. Wie sie ihn damals für einen Duckmäuser und verbissenen Plebejer erklärt hatten, so erschien er ihnen heute in dem ebenso wenig schmeichelhaften Licht eines unverschämten Parvenus, eines durch sein Glück trunkenen Emporkömmlings. Es war in ihren Augen keine Frage, daß Wolfgang ein widerwärtiger, aber kluger und gefährlicher, und deshalb doppelt hassenswerther Mensch sei.
Die Präsidentin theilte diese Empfindungen allerdings nicht. Einmal lag der Vortheil bei der beabsichtigten Verbindung Wolfgang's und Camilla's zu augenscheinlich auf ihrer Seite, und dann hatte sie in ihrem trägen, verweichlichten Herzen noch einen Rest von Gutmüthigkeit, den sie gelegentlich als Stoff für sentimentale Rührungen verbrauchte. In eine solche hatte sie sich denn auch diesmal glücklich hineingeschwatzt, und sie wurde deshalb ernstlich böse, als Selma um das Vergnügen bat, die Gesellschaft, wie sie hier versammelt war – »ganz unter uns, Ihr Lieben« – zur Feier der Verlobung heute Abend in ihrem Hause bewirthen zu dürfen. »Ich glaube, liebe Selma,« sagte sie, indem sie sich dabei zu ihrer ganzen stattlichen Höhe aufrichtete, »ich habe als Mutter der Braut ein größeres Anrecht auf diese Ehre. Ueberdies hat Philipp, der heute Vormittag leider in die Session mußte, mir den ganz bestimmten Auftrag gegeben, euch Alle heute in unserm Salon zu vereinigen. Ich denke, liebe Selma, Du wirst bei einigem Nachdenken den Wunsch des Präsidenten gerecht und billig finden.«
Selma wollte etwas erwidern, das wahrscheinlich die Eintracht nicht eben erhöht haben würde, aber ein finsterer Blick ihres Gatten gebot ihr Schweigen. »Wir werden uns pünktlich einstellen, liebe Schwägerin,« sagte er, der Präsidentin die Hand küssend. »Sie müssen Selma das Interesse, das sie, als Mutter des Corps, an dem künftigen Officier ihres Regiments nimmt, nicht übel nehmen.«
»Wirst Du Dich kräftig genug fühlen, liebe Mutter?« fragte Wolfgang.
»Ich denke;« flüsterte Margareth.
»Und ich denke, daß wir endlich aufbrechen,« sagte Aurelie, die den Platz neben Margareth nicht verlassen hatte. »Die Tante hat ganz kalte Hände und ich sehe es ihren Augen an, daß sie sich nach Ruhe sehnt.«
Die Gesellschaft verließ den Garten. Als die Letzten zwischen den Büschen verschwunden waren, tauchten gerade oberhalb der Laube, wo sie gesessen hatten, Kopf und Arme des alten Köbes über die Mauer. Er machte eine Faust und murmelte etwas zwischen den Zähnen. Wenn der Fink, der wenige Schritte von ihm auf dem Rande der Mauer saß, und den alten verhuzzelten Mann verwundert mit den hellen Aeuglein ansah, Menschenrede verstanden hätte, so würde er die geheimnißvollen Worte vernommen haben: Hohensteins sind Hohensteins.