Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
A ber wie ängstlich auch Wolfgang's Träume sein mochten – angstvoller und schrecklicher waren die Gedanken, welche in dieser Nacht, wie die Spukgestalten in einem Hexentanz, durch den wachen Geist des unglücklichen Mannes wirbelten, der heute den letzten Rest seiner Ehre auf eine Karte gesetzt hatte und jeden Augenblick das Spiel zu verlieren fürchten mußte. Der leiseste Laut, der sich im Hause regte, machte ihn zusammenfahren; das Ticken der alten Wanduhr auf dem Vorplatze, an das er seit zwanzig Jahren gewöhnt war, quälte ihn so, daß er auf den Zehen hinschlich und das Pendel zum Stehen brachte; und als er sich wieder in sein Zimmer eingeschlossen hatte, war es so still, so still und das Blut in seinen Ohren klang und sauste so laut, so laut – und da schlich er zum zweiten Mal hinaus und setzte das Uhrwerk wieder in Bewegung. Dann krächzte drüben in der alten Klostermauer ein Käuzchen und hörte nicht auf zu krächzen und zu kreischen, bis andere Käuzchen einstimmten und ganz deutlich riefen: Hier, hier, hier ist der Dieb! hier, hier! – Es war zum Wahnsinnig-werden!
Und nun kein Licht brennen dürfen! im Dunkeln, den schmerzenden Kopf in die Hände gestützt, sitzen oder leise auf dem Teppich des Fußbodens umherschleichen und beobachten müssen, wie die schmalen Streifen des Mondlichts, die durch die heruntergelassenen Vorhänge fielen, langsam, langsam weiter rückten. Es war eine Verdoppelung der Qual; aber sie mußte ertragen werden. Wenn die Sache herauskam und der Wächter constatirte: er habe die ganze Nacht im Zimmer des Herrn Stadtrath Licht gesehen! … warum hatte er Licht gebrannt? warum hatte er nicht geschlafen? – Meine Frau war krank, meine Herren; verlangen Sie, daß ein Mann schlafen soll, wenn seine geliebte Frau todtkrank darniederliegt? – Aber es ist von der Zeugin Ursula Klüngel, die damals bei Ihnen im Dienste stand und bei Ihrer Gattin gewacht hat, ausgesagt worden, daß Sie Ihr Zimmer nicht verlassen, zum mindesten das Zimmer Ihrer Gattin nicht betreten haben. Was können Sie darauf erwidern, Angeklagter? Und wie wollen Sie es erklären, daß man Ihr Bett am andern Morgen nicht berührt fand? Sprechen Sie, Angeklagter! – »Ich muß zu Bett,« murmelte der Stadtrath, als er, mitten im Zimmer stehend, aus diesem furchtbaren Verhör wieder zu sich kam und sich den Angstschweiß von der Stirn wischte; – »ich muß zu Bett gehen; es wäre ein Judicium mehr.«
Er schlich in seine Schlafstube, die in der Front des Hauses an sein Arbeitszimmer stieß, legte sich zu Bett und drückte seine fiebernden Schläfen in die Kissen. Und jetzt! war das nicht der Schritt einer Patrouille, welche die einsame Straße heraufkam! so lange er hier wohnte – seit zwanzig Jahren – war keine Patrouille durch diese Straße gekommen! was hatte sie hier zu thun, wenn nicht, ihn zu suchen? … Ein paar Polizeibeamte marschirten mit … in gleichem Tritt … um ihn sicher zu machen; aber so leicht überlistet man mich nicht; so leicht fängt man mich nicht!
Mit einem Satze war der Stadtrath aus dem Bette bis an die Stelle der Wand, wo seine Pistolen hingen – der Hahn knackte – »beim ersten Klopfen gegen die Hausthür oder die Fenster! ein Blitz, ein Knall – dann ist's vorbei!« –
Aber die Patrouille marschirte im gleichmäßigen Schritt vorüber und ihr Fußtritt verhallte am andern Ende der Straße. Der Stadtrath holte tief Athem, hing die Pistole wieder an den Nagel und schlich sich wieder in's Bett. Seine Zähne klapperten, ein wildes Fieber schüttelte seine Glieder; er zog die Decke hoch herauf, nichts mehr zu sehen und zu hören – und da kam der barmherzige Schlaf und erlöste den Unglücklichen von seinen Folterqualen.
Aber schon mit dem frühen Morgen erwachte er, und jetzt, während im Hause und in der Stadt noch Alles still war, und die Morgenröthe die nächtigen Gespenster bannte, konnte er mit verhältnißmäßiger Ruhe seine Situation überdenken.
Alles in Allem lagen die Karten nicht so schlimm, daß sie nicht noch schlimmer hätten liegen können. Es war eben wahrscheinlich, daß der indolente Bürgermeister mit der Kasse irgend etwas anderes vornehmen würde, als dieselbe an die alte Stelle in der Schatzkammer schaffen lassen, und an eine Kassenvisitation war in diesen aufgeregten Zeiten nicht zu denken, um so weniger, als auch vor wenigen Tagen der einstimmige Beschluß gefaßt war, vorläufig keine Stadtkassenscheine weiter zu emittiren. Sodann war es so gut wie gewiß, daß man ihn, der sich gestern so verdient um die Stadt gemacht hatte, dem man eine Anerkennung durchaus schuldig war, mit der Verwaltung gerade dieser Gelder betrauen würde. Der Oberbürgermeister hatte noch, während sie sich gestern Abend durch die langen Korridore in die Schatzkammer begaben, davon gesprochen; der Stadtrath Heydtmann u. Comp. pflegte in Fragen dieser Art den Ausschlag zu geben, und Heydtmann u. Comp. war seit gestern, wo die Maschinenbauer hauptsächlich in Folge seiner (des Stadtraths) Ansprache mit der Revolution so zu sagen gebrochen hatten, sein enthusiastischer Verehrer geworden. Hatte er aber erst die Verwaltung dieser Kasse in seinen Händen, dann ließ sich die entlehnte Summe nach und nach, oder, wenn das Glück günstig war und eine gewisse Speculation, die er schon lange im Sinne gehabt hatte, glückte, auf einmal ersetzen und dann war er ja aller Sorgen überhoben. Worauf es also jetzt hauptsächlich ankam, war: in den Augen der Welt, vor allem seiner Collegen vom Magistrate, den Schein der Solidität in jeder Beziehung aufrecht zu erhalten, diesen Schein durch eine möglichst eclatante Aussöhnung mit seiner Familie noch glänzender zu machen und so den Beweis zu liefern, daß er, als Abkömmling einer so alten, vornehmen Familie, und als wohlhabender Mann, jetzt in dieser Zeit der Verwirrung und der Noth, nicht zu jenen Leuten gehöre, die sich Hals über Kopf in die Bewegung stürzen, weil sie weder einen Namen noch ein Vermögen zu verlieren haben.
Eine Hauptschwierigkeit blieb allerdings noch immer die, wie er, ohne Verdacht zu erregen, eine so große Summe neuer Kassenscheine in Cours bringen könne. Er hatte heute zehntausend Thaler auf fällige Wechsel zu bezahlen und genau zehntausend Thaler in fünfhundert und hundert Thaler-Obligationen hatte er gestern, als er, ohne sie zu zählen, die Packete in seine Rocktasche schob, aus der Kasse genommen; aber sein eigener Kassenbestand betrug Alles in Allem nur fünfhundert Thaler. Diese Fünfhundert unter die Tausende gemischt nahmen sich – er hatte bei verschlossenen Thüren, so wie er erwacht war, das Experiment wiederholt angestellt – noch immer sehr verdächtig aus, um so mehr, als es nur drei Wechsel waren, um die es sich handelte.
Ein Zufall, der so günstig war, daß der Stadtrats zuerst einen Hinterhalt darin vermuthete, kam ihm zu Hülfe. Der alte geizige Materialwaarenhändler Pitter an der Straßenecke, mit dem er schon manchmal in Geschäftsverbindung gestanden hatte, kam gegen neun Uhr und erlaubte sich, bei dem Herrn Stadtrath anzufragen, ob er ihm nicht eine Gefälligkeit erweisen könne, die zu erwidern, so weit es in seiner Macht stehe, er jeder Zeit bereit sei. Er habe sechstausend fünfhundert Thaler wegzuschicken und nur Gold und Silber im Hause; ob ihm der Stadtrath nicht Papiergeld dafür geben wolle? am liebsten städtische Obligationen, mit denen er noch zufällig an dem Orte, wohin er das Geld zu senden habe, ein kleines Profitchen machen könne? Der Stadtrath erwiderte: er habe freilich einige Obligationen im Hause, da den Herren vom Magistrate ein Theil ihres Gehaltes immer in diesen Papieren ausgezahlt wäre, natürlich aber nicht so viel, als Herr Pitter verlange; indessen möge Herr Pitter in einer Stunde wieder kommen; bis dahin hoffe er von einigen Geschäftsfreunden, die, wie er wisse, in Besitz städtischer Obligationen seien, die gewünschte Summe herbeizuschaffen.
So kam der Stadtrath zu einem Gelde, das er unbedenklich ausgeben konnte, und dabei waren noch die verrätherischen Scheine voraussichtlich auf längere Zeit von dem hiesigen Geldmarkte entfernt und die Gefahr bedeutend geringer geworden!
Nun endlich fand Herr von Hohenstein den Muth, zu seiner Gattin hinaufzugehen. Er war höchlichst überrascht, sie nicht mehr im Bette zu finden. Margarethe hatte es schon vor mehreren Stunden verlassen, da sie sich – wie es nach dergleichen Anfällen zu geschehen pflegte – heute Morgen vollkommen wohl fühlte und die Zeit nicht erwarten konnte, wo sie mit ihrem Wolfgang ein Stündchen plaudern könnte. Aber Wolfgang hatte auf ihr freundliches: »guten Morgen, du Langschläfer!« das sie ihm durch die halb geöffnete Thür hineinrief, nicht geantwortet und als sie, um ihn mit einem Kusse zu wecken, an sein Bett geschlichen war, hatte sie ihn mit fieberhaft gerötheten Wangen und halbgeschlossenen Augen in einem krankhaft lethargischen Schlaf gefunden. Sie hatte seitdem des Sohnes Bett nur verlassen, um die Mädchen nach dem Arzt zu schicken, und so fand sie der Stadtrath.
»Es wird nichts zu bedeuten haben«, sagte er, »ein wenig Ueberwindung nach den Strapazen des gestrigen Tages; hast Du nach dem Medicinalrath geschickt? ängstige Dich nur nicht; wir Hohensteins haben eine zähe Natur.«
Er hatte dem Kranken nach dem Puls gefühlt und dann das Zimmer wieder verlassen. Seine bis zum tiefsten Grunde erschöpfte Seele war nicht mehr im Stande, neue Eindrücke aufzunehmen. Dennoch hatte er seinen Sohn – sein einziges Kind – in seiner Art immer sehr geliebt. Es fiel ihm ein, daß der Alte auf Rheinfelden es als einen Beweis von Hochachtung ansehen würde, wenn er ihm dies neue Unglück meldete. So schrieb er ein paar Zeilen an den General, in welchen er sich über die Ungerechtigkeit eines Schicksals, das ihn mit Leid zu verfolgen nicht müde werde, bitter beklagte.
Die Wechsel waren bezahlt; die Leute, die sie eincassirt hatten, hatten den Stadtrath becomplimentirt, daß er in dieser Zeit, wo die klingende Münze sich überall verkrieche, so viel Gold und Silber in seiner Kasse habe.
Und nun mußte der Stadtrath den furchtbaren Entschluß fassen, sich in die Magistratssitzung zu begeben, welche von dem Rathsdiener Wenzel auf elf Uhr angesagt worden war. Der Stadtrath fühlte sich so matt, so gebrochen! – wenn er sich krank melden ließe? – es war ja doch die pure Wahrheit; aber wie durfte er heute krank sein? wie durfte er heute nur krank aussehen?
Er blickte in den Spiegel und erschrak über sein bleiches, verfallenes Gesicht. So konnte er unmöglich erscheinen. Es fiel ihm ein, daß er in früheren Jahren – wo man ihn »den schönen Hohenstein« nannte – sich manchmal nach durchschwärmten Nächten geschminkt habe. Unter seinen alten Toilettesachen mußten die Requisiten sich noch vorfinden. Er suchte; er fand das mit Silber ausgelegte Ebenholzkästchen; es war noch Alles wohl erhalten; und mit zitternden Händen bemalte er seine bleichen Wangen. Er hatte die Kunst noch nicht verlernt. Er überzeugte sich, daß der geheuchelte Schein von Gesundheit und Frische vollkommen war.
Er trat auf die Straße. Die Morgensonne schien so freundlich über die grauen Dächer des Klosters durch die mächtigen Kronen der alten Bäume auf die Straße, und in den Bäumen sangen die Vögel so lieblich – es war ein wonniger Morgen. Aber der Stadtrath fühlte nichts davon. Sonst war er immer auf seiner Seite der Straße – der Sonnenseite – gegangen, weil die Wärme ihm wohl that; – heute ging er auf der andern Seite, im Schatten der langen Klostermauer. Aber in der nächsten Straße mußte er aus dem Schatten heraus, hinein in das Treiben und das Gewühl einer der Hauptschlagadern der volkreichen, viel geschäftigen Stadt. Er war es gewohnt, daß viele Leute ihn grüßten, und er hatte stets etwas darin gesucht, von möglichst Vielen begrüßt zu werden; – heute war es, als ob alle Menschen, die er kannte, das Wort gegeben hätten, ihm auf der Straße zu begegnen. Jeder dritte Mensch zog den Hut vor ihm ab und starrte ihm in die Augen und in das Gesicht; Einer oder der Andre – er bemerkte es wohl – wandte sich sogar nach ihm um. Und da kam auch der Medicinalrath Schnepper, der jedenfalls zu seinem Sohne wollte; er konnte ihm nicht ausweichen und doch hatte der kleine verwachsene Mann so zwinkernde scharfe Augen!
»Morgen, morgen, lieber Stadtrath! bin im Begriff, zu Ihnen zu gehen. Hoffe, die Sache wird nichts zu bedeuten haben. Aber wie charmant sie aussehen! werden wahrhaftig mit jedem Tage jünger. Prieschen, he? – heute Abend im Verein? Müssen sprechen, Stadträthchen, müssen sprechen! sind jetzt der Mann des Tages. Addio!«
Der Stadtrath ging mit festerem Schritt weiter; wenn der Medicinalrath Schnepper ihm nichts ansah, so war er nach der Seite hin sicher.
Auch die Sitzung nahm den günstigsten Verlauf. Die Rathsdiener hatten ihn bei seinem Eintritt in das Gebäude nicht mit zweideutigem Lächeln angeblinzelt, sondern hatten ihn ehrfurchtsvoll gegrüßt und die Thür zum Sitzungssaal geöffnet; der Oberbürgermeister hatte nicht im Verlauf der Sitzung die Thüren schließen lassen, war nicht aufgestanden, und hatte nicht, auf ihn deutend, gesagt: Ich habe die traurige Pflicht, meine Herren … sondern hatte ihn, wie alle Uebrigen, mit großer Cordialität bewillkommnet, sich teilnehmend nach dem Befinden seiner Gattin, nach seinem eigenen Befinden erkundigt, und mit Emphase gesagt: »ich freue mich Ihres unvergleichlich wackern Aussehens, lieber College, wie eines errungenen Sieges; Sie sind uns jetzt ein wahrer Segen. Möge Sie der Himmel bei Kräften erhalten! wir werden noch oft an diese Kräfte zu appelliren genöthigt sein.« Dann hatte er ihn bei Seite genommen und ihm zugeflüstert: »Alles wieder an Ort und Stelle! Sprechen wir so wenig als möglich darüber, damit das Ding nicht unter die Leute kommt. Krause hat sich schon wieder krank melden lassen; Sie werden sich entschließen müssen, Krause's Ressort zu übernehmen. Zu thun ist ja ohnehin jetzt nicht viel; einer Revision bedarf's ja auch nicht; wir haben das Zeugs ja gestern erst revidirt; ha, ha, ha! Wollen die Sache ganz unter uns abmachen; Krause wird's zufrieden sein und die Andern erst recht. – Darf ich die Herren bitten Platz zu nehmen. Die Sitzung ist eröffnet.«
Es handelte sich darum, welche Maßregeln bei der gegenwärtigen Lage der Magistrat zum Schutz der Bürger und des Eigenthums zu ergreifen habe. Einige Wenige der Herren – unter ihnen der Stadtrath Advokat Kaltebolt – meinten, es gebe nur ein Mittel, die augenblicklichen Wirren zu schlichten, und das sei: dem Volke die gewünschte Bewaffnung zu gewähren. Man müsse den gemeinen Mann in das gemeine Interesse ziehen; ihn davon ausschließen, heiße: den Wühlern in die Hände arbeiten. Diese Ansicht fand indessen sehr wenig Beifall; aber von Niemanden wurde sie mit größerer Entschiedenheit zurückgewiesen, als von dem Stadtrath von Hohenstein. »Ich habe stets der Freiheit das Wort geredet,« rief er; »und ich thue es noch; aber, meine Herren, eine zügellose Freiheit ist keine Freiheit mehr; das ist die Anarchie, das ist die Auflösung aller Bande, das ist das Chaos. Wollen Sie das Chaos heraufbeschwören? Wer ist denn das Volk, von dem so viel geredet wird? um das es sich einzig und allein zu handeln scheint? Die Fürsten und ihre Diener sind es nicht; die Beamten des Staates, die Communalbehörden sind es nicht; das Heer ist es nicht; Alles, was Energie, Bildung hat, ist es nicht; die Besitzenden – die vor Allem! – sind es nicht; der solide Handwerker, den das Cravalliren in seiner Arbeit stört, ist es ebenfalls nicht. Wer ist es denn? einige wenige überspannte Köpfe, die um des Lebens und Sterbens willen nicht wissen, was sie eigentlich wollen; Menschen, die ihren Beruf verfehlt haben, oder deren Beruf es ist, keinen zu haben, zum mindesten keinen soliden; Ehrgeizige, die im Trüben fischen; Banquerotteure, die dem Schuldthurm entgehen wollen – und hinter ihnen her eine wüste Schaar, von der jeder Einzelne für Sie ein Gegenstand der Verachtung ist und vor der Sie nun, eben weil es eine Schaar, eine Masse ist, in Ehrfurcht den Hut abziehen. Sehen Sie nach Frankreich und Sie werden schaudernd erkennen, wohin es führt, wenn man das Volk mit dem Pöbel verwechselt; wollen Sie französische Zustände über uns bringen? Sehen Sie nach Baden und Sie werden begreifen, daß die Wühler bei uns dasselbe erstreben, was sie in Frankreich erstreben, daß sie aber bei uns, Gott sei Dank, noch machtlos sind und machtlos bleiben werden, wenn wir nicht selbst mit freventlichem Leichtsinn die Macht aus den Händen geben.«
Die Rede des Herrn von Hohenstein war oft von Beifallsgemurmel begleitet gewesen; ein lautes Bravo belohnte ihn, als er, nachdem er die letzten Worte mit erhobener Stimme gesprochen, in nicht fingirter Erschöpfung in seinen Sessel zurücksank; man war allgemein der Ansicht, daß Pöbel Pöbel sei und bleibe und daß es ein Verrath am Vaterlande genannt werden müsse, wollte mau sich jetzt auf Transactionen mit socialistischen Schwärmern und ihrem Anhang einlassen. Nur der Advokat Kaltebolt – ein zäher Kopf und specieller Gegner des Stadtraths, in dessen Verhältnisse er gelegentlich nicht eben zur Achtung herausfordernde Einblicke gethan hatte – beharrte bei seiner Opposition. Er setzte in längerer Rede – wobei er sich durch die Mißfallsbezeugungen seiner Collegen nicht anfechten ließ – seine Ansichten auseinander, daß man nur die Wahl habe zwischen offener, ehrlicher Anerkennung der Revolution in allen ihren Consequenzen, oder einer wüsten Reaction, welche die vormärzlichen Zustände zurückführen und Deutschland auf Jahrzehnte zum Kinderspiel in Europa machen werde. Dann, mit den scharfen, brillebewaffneten Augen Herrn von Hohenstein fixirend, rief er: »Und wer sind sie, die Ihnen einen so verderblichen Rath zu geben wagen? Männer, die aus Regionen stammen, in die noch nie ein Strahl wahrer Humanität, wahrer Menschenliebe gefallen ist; die liberal gewesen sind, so lange mit dem Liberalismus Geschäfte zu machen waren und die mit dem Liberalismus Geschäfte gemacht haben, – sehr gute Geschäfte, meine Herren! und in dem Augenblicke, wo die Chancen weniger gut sind, sich nicht mehr besinnen können, daß sie jemals liberal waren, daß sie sich jemals mit dem Volke liirt haben, ja noch bis auf diesen Augenblick durch Bande, die sonst für sehr heilig geachtet werden, mit dem Volke verbunden sind.«
»Wenn diese Insinuationen auf mich gehen sollen, –« rief Herr von Hohenstein, aus dem Sessel auffahrend.
» Qui se sent morveux, qu'il se moûche!« meinte Herr Kaltebolt.
»Pfui, pfui,« rief der Stadtrath Heydtmann u. Co.
»Es ist unverantwortlich! man darf es nicht dulden! – das hat er wahrlich nicht um uns verdient!« – so tönten die Stimmen der aufgebrachten Väter durcheinander.
»Herr von Hohenstein hat das Wort!« rief der Oberbürgermeister, der schon seit einer Minute mit dem kleinen silbernen Glöckchen, das vor ihm auf dem Sessionstische stand, geläutet hatte.
»Ich habe nur wenig zu erwidern, meine Herren;« begann Herr von Hohenstein mit einer Stimme, die vor innerer Aufregung bebte, obgleich seine Miene und Haltung ruhig und vornehm waren, wie immer; »wenig; wenn Sie wollen, Nichts, denn auf Beleidigungen, wie man sie eben aus blauer Luft gegen mich geschleudert hat, giebt es keine Erwiderung, oder wenigstens doch nur eine solche, für die hier und jetzt nicht der Ort und nicht die Zeit sind.«
»Mit feudalen Velleïtäten schlägt man heut zu Tage keinen Gegner mehr;« sagte höhnisch lächelnd Herr Kaltebolt.
»Pfui, pfui!« rief Herr Stadtrath Heydtmann u. Co.
»Schändlich – nichtswürdig – abgeschmackt –« secundirten ein halbes Dutzend Andere.
»Meine Herren,« rief der Oberbürgermeister Dasch, mit Aufbietung der ganzen, nicht geringen Kraft seiner Lunge den Lärmen überschreiend; »ich bitte, ich beschwöre Sie: lassen wir uns in einem Augenblicke, wo wir, wenn je, virilibus unitis nach einem Ziele streben müssen, nicht zu solchen unseligen Zwistigkeiten hinreißen! Halten wir das Gemeinwohl höher als unsre Privatinteressen! opfern wir unsern Egoismus auf dem Altar des Vaterlandes! Ein tüchtiger Mann ist viel werth in so schlimmer Zeit, aber, meine Herren, zwei tüchtige Männer sind doppelt so viel werth. Als der oberste Beamte dieser unsrer guten Stadt, als Ihr langjähriger College und – ich darf mich ja wohl so nennen? – als Ihr Freund beschwöre ich Sie, werthe Herren und Freunde: stehen Sie nicht von diesem Tische auf, ohne sich vorher die Hand zur Versöhnung gereicht zu haben!«
»Bravo, bravo!« rief Herr Heydtmann u. Co.
»Ich bin gern bereit, zu vergessen, daß ich der Angegriffene bin!« sagte Herr von Hohenstein, mit würdevollem Lächeln seinem Gegner die Hand über den Tisch entgegenstreckend.
»Ich habe nur die Sache, um die es sich handelt, im Auge gehabt; an der Person – liegt mir wenig,« brummte Herr Kaltebolt, die dargebotene Hand an den Fingerspitzen ergreifend.
So war der Friede wiederhergestellt und bald darauf wurde die Sitzung geschlossen, nachdem mit großer Majorität der Beschluß gefaßt war, es lieber auf's Aeußerste ankommen zu lassen, als dem Verlangen Münzer's und Genossen nach allgemeiner Volksbewaffnung zu willfahren.
»Sie haben's ihm gut gegeben,« sagte der Stadtrath Heydtmann u. Co. zu Herrn von Hohenstein, als sie zusammen die Rathhaustreppe hinabgingen. »Ein höhnischer, spitzfindiger Kerl, ein Krakehler und Stänker und der es besonders auf Sie abgesehen zu haben scheint. Hüten Sie sich vor dem Menschen, mein werthester Herr von Hohenstein!«
»Pah, was kann er mir thun?« sagte der Stadtrath.
»Hm, hm!« sagte Herr Heydtmann u. Co., »der Bursche hat seine Hand überall im Spiel und heute ist Ultimo. Wenn Sie etwa was brauchten, Herr von Hohenstein – so ein paar Tausend Thälerchen haben Heydtmann u. Co. für ihre Freunde immer liegen.«
Den Stadtrath durchzuckte es wie ein elektrischer Schlag. Wenn ihm das Anerbieten ein paar Tage früher, wenn es ihm gestern – nur noch gestern gemacht wäre!
»Natürlich nur auf ein kurzes Ziel,« sagte der vorsichtige Fabrikant, den seine Großmuth gereute, nachdem er sie kaum ausgesprochen; »das Geld ist jetzt knapp und man muß auf Alles gefaßt sein.«
»Sie sind sehr gütig,« sagte Herr von Hohenstein; »aber ich bin glücklicherweise in der Lage, mir selbst ohne Anstrengung helfen zu können.«
»Brav! brav!« sagte Herr Heydtmann, sehr froh, daß man ihn nicht beim Worte genommen hatte; »aber ich muß hier abbiegen; – nichts für ungut, Herr von Hohenstein, nichts für ungut!«
»Wie wäre das möglich! – ein Freund, wie Sie!«
»Sehr obligirt, sehr obligirt!« Die Herren schüttelten sich die Hände und der Stadtrath setzte seinen Weg allein fort.
»Es hätte mir doch nichts geholfen,« murmelte er; »ich bin zu weit gegangen, als daß ich noch zurück könnte.«
Es war bereits Nachmittag, als der Stadtrath wieder in seiner Wohnung anlangte. Er begab sich sogleich in sein Zimmer, schellte nach dem Mädchen, fragte, wie es dem jungen Herrn gehe, und als Ursel berichtet: es ginge etwas besser, befahl er ihr, ihm etwas Brot und eine Flasche Wein zu bringen, auch der Frau Stadträthin nicht zu sagen, daß er nach Hause gekommen sei: er sei sehr angegriffen, könne nicht zu Mittag essen, sondern müsse einige Stunden schlafen; er sei für Niemand zu Hause, für Niemand, »hören Sie, Ursel!«
Der Stadtrath legte sich, in seinen Schlafrock gehüllt, auf das Sopha; aber der so sehnlich herbeigewünschte Schlaf wollte nicht kommen. Die folternde Angst, daß sein Verbrechen sofort entdeckt werden könne, war durch die Ereignisse des Morgens etwas geringer geworden; aber er mußte sich doch sagen, daß aufgeschoben nicht aufgehoben sei. Und wie sollte es nun weiter werden? Seine verhängnißvolle That hatte nur der augenblicklichen Verlegenheit abgeholfen; die Zehntausend waren durch seine Kasse, wie durch ein Sieb gelaufen, warum hatte er nicht zwanzig – nicht dreißig Tausend genommen? es war ja doch nun Alles Eines und eine größere Summe hätte er leichter wieder zusammengebracht als eine kleinere. Ueber die dumme Zaghaftigkeit! Doch das ließ sich vielleicht nachholen, wenn er wirklich zur Verwaltung dieser Kasse designirt werden sollte, wozu ja jetzt die beste Aussicht war. Aber bis dahin, bis dahin – was beginnen? Wenn er sich jetzt eine Blöße gab, so war Alles verloren; Heydtmann u. Co. war düpirt, so mußten es auch die Andern werden. Besonders Leute von dem Schlage des Herrn Kaltebolt. »Wie der Mensch mich in's Auge faßte! – und das höhnische Lächeln! – als wüßte er schon Alles und wollte es nur nicht sagen, um die Wonne zu haben, mich noch länger auf der Folter zu sehen! – Ich muß Geld haben; aber woher es nehmen? woher?«
Der Stadtrath ließ alle Personen, an die er sich möglicherweise wenden könnte, Revue passiren. Es waren wenig solide Leute darunter, meistens notorische Wucherer oder waghalsige Speculanten – einen Augenblick dachte er sogar an seinen Schwager Peter. Aber das ging aus tausend Gründen nicht. Wie konnte er Peter nach Allem, was zwischen ihnen vorgefallen war, unter die Augen treten? besonders jetzt, wo er sich mit solcher Entschiedenheit gegen die demokratischen Bestrebungen, denen Peter nicht seit gestern huldigte, ausgesprochen hatte? und dann wußte er sehr wohl, daß Peters Verhältnisse keineswegs glänzend waren. Die radicale Zeitung machte schlechte Geschäfte; in den Kreisen des Stadtraths war man allgemein der Meinung, daß sich dieselbe höchstens noch ein oder zwei Quartale halten könne, wenn sie nicht eine viel gemäßigtere Richtung einschlage, woran bei der bekannten Gesinnung des Verlegers und der Redacteure natürlich nicht zu denken sei. Dazu kam der Tod von Peter's Bruder Eugen – und der Stadtrath kannte die Verhältnisse der Schmitz'schen Familie hinreichend, um zu wissen, daß dieses Ereigniß eine neue Quelle von Verlegenheiten für Peter sein werde.
»Nur der Alte auf Rheinfelden könnte helfen!« murmelte der Stadtrath von dem Sopha aufspringend und, die kalten Hände auf die fieberheißen Schläfen gedrückt, im Zimmer auf- und abschreitend; aber er wird nicht helfen wollen. Zwar ist er sehr gütig gegen Wolfgang gewesen, aber von da, bis der Geizhals seine Geldkiste aufschließt, ist noch ein weiter Schritt. Und daß der Wolfgang nun auch gerade jetzt krank werden muß; so könnte man doch wenigstens erfahren, wie der Alte über mich denkt.«
Der Stadtrath hatte gestern Abend, als er den unseligen Griff that, der ihn zum Verbrecher machte, sich eingebildet: er thue, was er thue, nicht für sich, sondern für die Seinen, über die er die Schande eines leichtsinnigen Banqueruts nicht dürfe kommen lassen; und jetzt, nachdem die That geschehen war, verursachte ihm der Gedanke an seine Frau, an seinen Sohn Höllenpein, denn er wußte, daß sie das vermeintliche Opfer, das er ihnen gebracht, mit Abscheu von sich weisen, daß sie jedes Leid, daß sie den Tod einer solchen Rettung vorziehen würden. Heute Nacht hatte er bei dem Gedanken, seine Frau könne sterben, aufgeathmet – denn die Hälfte seiner Last wäre ja auf diese Weise von ihm genommen worden! und heute Morgen, als er seinen Sohn so bleich und krank vor sich liegen sah, hatte er wieder nichts Anderes empfunden, als daß ein Elender, wie er, keinen Sohn haben dürfe, daß ein Sohn, wie Wolfgang, einen Elenden nicht zum Vater haben könne und daß es besser für Wolfgang sei, er erwachte nicht wieder zum Leben.
Und doch war Wolfgang's gutes Verhältniß zu dem alten Mann in Rheinfelden jetzt seine einzige Hoffnung. Daß es dem Alten nur um Wolfgang zu thun war, lag auf der Hand; vielleicht, daß er dem Sohn gewährte, was er dem Vater rund abschlagen würde! Und nun mußte Wolfgang krank sein!
Der Stadtrath warf seinen Schlafrock ab – er ließ sich von den Seinen, wenn es irgend zu vermeiden war, nie im Negligé sehen – kleidete sich an und ging die Treppen hinauf in das Krankenzimmer. Er fand Ursel am Bett sitzen, die ihm flüsternd mittheilte, der junge Herr habe vorhin eine Stunde gewacht, es gehe viel besser und die gnädige Frau sei auf einen Augenblick hinuntergegangen, um Fräulein Bella Schmitz und das junge Fräulein Schmitz zu empfangen, die gestern schon den ganzen Abend bei der gnädigen Frau zugebracht hätten. – Der Stadtrath runzelte die Stirn; – das fehlte noch, daß seine Frau ihre Familienbeziehungen wieder hervorsuchte, jetzt, wo ihm Alles darauf ankam, seinen vollständigen Bruch mit der Demokratie, vor Allem mit den demokratischen Verwandten seiner Frau recht geflissentlich zur Schau zu tragen.
Er setzte sich an seines Sohnes Bett, nahm die heiße Hand des Kranken in seine Hand und ließ sie wieder fallen, weil es ihm war, als ob Wolfgang bei der Berührung zusammengezuckt hätte.
So saß er, in sich versunken, da, und dachte der Zeit, wo Wolfgang geboren war und wie er sich gefreut hatte, daß es ein Sohn sei und welche stolzen Hoffnungen er an diesen Sohn geknüpft hatte. Damals war er noch mit Peter Schmitz – äußerlich wenigstens – eng verbunden gewesen und er hatte sich gesagt: der Peter soll mir meinen Sohn reich machen helfen und dann wird er die Stellung in der Welt einnehmen können, die sein Vater so leichtsinnig verscherzt hat. – Was war von diesen Hoffnungen in Erfüllung gegangen? Er hatte seinen Schwager fallen lassen, um das heißersehnte Ziel schneller und leichter zu erreichen; aber er hatte sich grausam verrechnet. Sein Schwager war freilich nicht reich geworden; aber er war ein ehrlicher Mann geblieben; er selbst war ärmer, als je – und –
Der Stadtrath sprang auf; es war ihm, als ob er ersticken müsse. Er flüsterte Ursel zu: er habe dringende Geschäfte in der Stadt zu besorgen und werde wahrscheinlich sehr spät nach Hause kommen. Wenn es mit dem jungen Herrn nicht besser gehe, solle ihm Ursel keine angezündete Lampe, wie sonst, in sein Zimmer stellen und er werde dann heraufkommen, um bei seinem Sohne zu wachen.
Er ging aus dem Hause und schlich in der schon dunkelnden Stadt herum, immer die einsamsten Gassen suchend, mehrere Stunden lang. Er hatte eigentlich vorgehabt, in das Weinhaus zu gehen, welches er zu besuchen pflegte; aber er fühlte, daß er der Anstrengung, unbefangen auszusehen und zu plaudern, nicht mehr gewachsen sei. Seine Kräfte waren fast gänzlich erschöpft; er schleppte sich nur mit der größten Mühe weiter; in einer ärmlichen Vorstadtkneipe ließ er sich ein Glas Wein geben. Das erquickte ihn wieder etwas. Er war im Begriff, noch um ein Glas zu bitten, als er bemerkte, wie ein paar Männer in Blousen, die in der Nähe an einem Tische saßen und aus Thonpfeifen dampften, auf ihn blickten und die Köpfe zusammensteckten. Er gab der Kellnerin ein Stück Geld, das erste, das ihm in die Hand kam, und entfernte sich schleunig.
Wieder irrte er durch die schon einsamer gewordenen Straßen. Er kam an dem großen Dom vorüber; – aus den hohen Fenstern einer der Seitenkapellen dämmerte Licht; er hörte Orgelton und Gesang. Er blieb einen Augenblick stehen und dachte, welch' eine Erquickung es für ihn sein würde, wenn er in einer dunkelsten Ecke in das Ohr eines Menschen, der zur Verschwiegenheit durch einen theuren Eid verpflichtet ist, das schreckliche Geheimniß beichten könnte, daß der Stadtrath Arthur von Hohenstein, Sohn des Oberpräsidenten von Hohenstein, früher Officier in der Armee, ein gemeiner Dieb sei …
»Sie haben es gut, diese Katholiken! und wenn sie einen Mord begangen haben, sie finden Jemand, dem sie es sagen können. Woher sie nur das Vertrauen nehmen? ich könnte keinem Menschen trauen, und wäre sein Mund durch die heiligsten Eide versiegelt; nur die Todten sind verschwiegen. Ich wollte, ich wäre todt.«
Er ging weiter und unwillkürlich lenkten sich seine Schritte nach dem Strom. Er ging auf die Brücke, bis er gleich weit von den beiden Ufern und den Lichtern, die sich hüben und drüben im Wasser spiegelten, entfernt war. Da lehnte er sich auf die Brüstung und schaute lange, lange hinab, wie die tiefen, dunklen Wasser vorüberschossen, leise, leise, dann und wann nur in Wirbeln aufkochend, rastlos, unwiderstehlich, unaufhaltsam, geheimnißvoll wie der Tod. Ja, das war die wahre Verschwiegenheit! und doch! plauderte der Strom das anvertraute Geheimniß nicht auch aus, wenn er die Leiche des Selbstmörders ein paar Meilen weiter unten irgendwo zwischen die Binsen an's Ufer schwemmt, damit die Fischer sie mit den Bootshaken herausziehen und ein paar Stunden später es wie ein Lauffeuer durch die Stadt geht: der Stadtrath von Hohenstein ist gefunden; er hat sich in den Strom gestürzt, um der Schande zu entgehen, aber der Strom hat ihn wieder ausgespien; der Strom hat ihn nicht behalten wollen …
Und der Stadtrath raffte sich wieder auf und wankte durch die jetzt fast menschenleeren Straßen nach seiner Wohnung zurück. Schon ganz in der Nähe derselben packte ihn eine furchtbare Angst: wenn er die Polizei schon bei sich zu Hause vorfände? – wenn sich, sobald er die Thür geöffnet, ein paar starke Männer über ihn stürzten und ihn knebelten? … Mit klopfendem Herzen und kaltem Schweiß auf seiner heißen Stirn schlich er näher und blickte, in den tiefen Schatten der Klostermauer sich drückend, nach seinem Hause hinüber. Es war Alles still, in seiner Stube brannte die Lampe ruhig; es bewegte sich kein Schatten an den heruntergelassenen weißen Rouleaux vorüber. Auch oben aus Wolfgang's Giebelstube dämmerte ein schwacher Lichtschein. Kein Laut regte sich; der Wächter rief auf dem benachbarten Klosterplatz die zwölfte Stunde ab.
Der Wächter sollte ihn nicht so spät noch auf der Straße finden; er trat rasch in's Haus und athmete tief auf, als er sich endlich in seinem Zimmer befand und die Thür, die nach dem Flur führte, fest verschlossen war.
Glücklicherweise hatte Ursel das Weißbrot und die angeschenkte Flasche Wein auf dem Tische vor dem Sopha stehen lassen. Der unglückliche Mann bedurfte der Labung; er hatte heute noch so gut wie nichts gegessen und getrunken. Aber selbst jetzt war es ihm unmöglich zu essen; nur den Wein trank er gierig. Dann, als er den Wächter an dem Eingang der Straße hörte, löschte er schnell die Lampe aus und ging im Dunkeln zu Bett. Er war so matt, daß ihm die Glieder fast den Dienst versagten und doch wollte kein Schlaf in seine Augen kommen. Sobald ihm die Sinne schwinden wollten, trat irgend ein Schreckbild vor seine Seele: der Advokat Kaltebolt, der ihm mit höhnischem Lachen eine Handvoll Kassenscheine hinhielt; der Oberbürgermeister Dasch, der die Augen verdrehte und die Arme zum Himmel streckte – und er saß wieder wach in seinem Bette und horchte auf das Knistern eines Mäuschens hinter den Tapeten, auf das Ticken der Wanduhr auf dem Flur, auf das leise Kreischen des Wetterhahns auf dem Thurm der Klosterkirche. Dann fiel es ihm ein, daß er seine Pistolen seit geraumer Zeit nicht nachgesehen habe und daß die Zündhütchen vielleicht feucht geworden seien. So stand er denn wieder auf, holte aus einem Schubfache seines Schreibtisches das runde Schächtelchen und ersetzte die alten Zündhütchen durch ein paar neue.
Die Gewißheit, sich in jedem Augenblick das Leben nehmen zu können und den Verfolgern nur als Leichnam in die Hände zu fallen, brachte ihm endlich gegen Morgen eine verhältnißmäßig größere Ruhe und mit der Ruhe den Schlaf, den barmherzig-unbarmherzigen Schlaf, der sich nicht herbeibeten und herbeifluchen läßt, und den am meisten flieht, der seiner am meisten bedarf.
Als der Stadtrath erwachte, ging es bereits auf Mittag. Er fühlte sich sehr gestärkt; auch empfand er das Bewußtsein seiner Schuld weniger lebhaft; er fing bereits an, sich an dieses Bewußtsein zu gewöhnen, wie der Mensch sich eben an Alles gewöhnt, was unvermeidlich ist. Mit peinlichster Sorgfalt machte er seine Toilette und verzehrte dann mit großem Appetit das Frühstück, das ihm Ursel auf sein Klingeln gebracht hatte, während er dabei die Zeitungen durchblätterte.
»Haben der Herr Stadtrath den Brief gefunden, den ich gestern Abend auf den Schreibtisch gelegt?« fragte Ursel, als sie das Geschirr abräumte.
»Nein; es wird wohl nicht wichtig sein.«
Der Stadtrath hatte das im gleichgültigsten Tone gesagt, aber er war bei dem Worte »Brief« zusammengezuckt, als hätte er auf eine Schlange getreten. Ein Brief ist ein verhängnißvolles Ding für Jemanden, der kein reines Gewissen hat. Der Stadtrath hielt sich die Zeitung dicht vor das Gesicht, bis Ursel aus der Thür war. Dann sprang er auf, und schritt eilig und mit klopfendem Herzen nach seinem Schreibtisch. Da lag der Brief, – ein Blick auf das grobe, in altfränkischer Weise zusammengefaltete und mit wunderlich steifen und geschnörkelten Buchstaben bemalte Papier sagte ihm, daß derselbe aus Rheinfelden vom alten General sei. Was wollte der Alte? sich nach dem Befinden seines Sohnes erkundigen, dessen Krankheit er ihm gestern Morgen gemeldet hatte? Das wäre eine große, bedeutsame Aufmerksamkeit – in diesem Augenblick, wo die Gunst des Alten von unberechenbarem Werthe war.
Mit zitternden Händen erbrach er den Brief, und las:
Lieber Neffe Arthur!
Die Nachricht von Deiner Frauen Genesung freut mir sehr dahingegen ich mit déplaisir erfahre daß Dein Sohn Wolfgang sich krank gemeldet hat was ich um so weniger goutire als ich an dem Jungen Antheil nehme und ihn protegiren will. Darumb ich auch gestern schon an Deinen Bruder Guisbert geschrieben und ihm aufgegeben habe den Wolfgang in seinem Regimente zu placiren wie ich denn auch andererseits eine Mariage zwischen Deinem Jungen und der jüngsten Tochter Deines Bruders Philipp souhaitire da die Grasaffen hübsch und kräftig sind und ihre Bälger der Familie Ehre machen werden wasmaßen ich heute noch an Deinen Bruder Philipp schreiben und ihm sagen werde was ich intentire worauf er wohl ohne Weigerung eingehen wird sintemalen er ein schlauer Fuchs ist der die sauern von den süßen Trauben prächtig unterscheiden kann.
Der ich bin
Dein wohlaffectionirter Onkel
Eberhard von Hohenstein auf Rheinfelden.
Während der Stadtrath nicht ohne Mühe diese Zeilen entzifferte, theilte sich das Zittern seiner Hände dem ganzen Körper mit; seine blassen Wangen rötheten sich, seine matten, eingesunkenen Augen begannen zu glänzen … Rettung! Rettung in dieser grimmen Noth! … zum wenigsten Aussicht, fast gewisse Aussicht auf Rettung! …
Der arme Mann schwankte – den Brief in seinen Händen haltend – nach einem Stuhl, und Thränen, die er seit seinen Kinderjahren nicht geweint hatte, brachen aus seinen Augen. In jener Rührseligkeit der gänzlichen Erschöpfung und Nervenschwäche gelobte er sich, von jetzt an, wenn er dem drohenden Verderben wirklich entrinnen sollte, ein guter Mensch zu werden, ein zärtlicher Gatte, ein liebender Vater, ein rechtlicher billiger Geschäftsmann.
Doch dauerte diese weiche Stimmung nicht lange. Die Welt ließ ihr Opfer so leichten Kaufes nicht los. Zum Frommsein hatte es noch immer Zeit, wenn nur erst die rechte Sicherheit vorhanden war und an der fehlte noch viel. Bis jetzt war Alles nur Hoffnung, Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit – und vielleicht auch nicht einmal das! Wenn nun Wolfgang sich weigerte, auf den Wunsch des Alten einzugehen! Wolfgang hatte nie die geringste Neigung für den Soldatenstand blicken lassen, hatte sich im Gegentheil während seiner Dienstzeit oft bitter über die unnöthigen Scheerereien und den Kleinkram des Gamaschendienstes beklagt. Und dann! Wolfgang war ein sehr selbstständiger Charakter, der sich nicht leicht durch den Schein blenden ließ; – sollte seine glänzende Cousine ihn nicht viel eher abgestoßen als angezogen haben? – Dem Stadtrath war es bei dem Besuch neulich in Rheinfelden fast so vorgekommen. Und dann des Jungen Liberalismus! seine oft ausgesprochene Antipathie gegen seine adeligen Verwandten und die unverkennbare Achtung, die er dem tüchtigen Wesen seines Onkels Peter Schmitz und seiner Tante Bella schenkte! Seine Freundschaft endlich zu Münzer, von dem er stets in Ausdrücken der Anerkennung und Hochschätzung sprach, die den Stadtrath nur schon zu oft bitter gekränkt hatten … Nein nein! es war noch nichts gewiß; Alles noch in einer peinlichen, unheimlichen Schwebe!
Der Stadtrath sprang von seinem Stuhl wieder empor und schritt im Zimmer auf und ab ohne den Muth zu finden, seiner Gattin, die er jetzt seit beinahe zwei Tagen nicht gesehen hatte, unter die Augen zu treten und mit Wolfgang zu sprechen, der, wie Ursel berichtet hatte, schon seit einer Stunde mit der gnädigen Frau ganz munter sich unterhalte.