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W olfgang war, als er das Haus des Majors verließ, zu Muthe, wie einem Hypochonder, der in der sichern Voraussetzung, sich zu lebenslänglicher Krankheit verurtheilt zu hören, zu einem berühmten Arzte gegangen und nun darüber belehrt worden ist, daß er im Grunde genommen gar nicht so krank sei, ja sogar das gefürchtete Uebel bei richtiger Behandlung zur Befestigung seiner Gesundheit wesentlich beitragen werde. Was Herr von Degenfeld über die nothwendige und unausbleibliche Reform des Heerwesens und über den Zusammenhang und das Ineinandergreifen der verschiedenen Lebenssphären gesagt hatte, war wie eine Offenbarung für Wolfgang gewesen. Er hatte sich bis daher von der ächt deutschen Anschauung, daß der specielle Beruf mit dem Leben, so zu sagen, identisch sei, leiten lassen. Von diesem Standpunkte aus hatte er auch seine militairische Laufbahn beurtheilt und in derselben nur einen engen, mit widerwärtigen Hindernissen dicht besetzten und schließlich zu keinem Ziele führenden Pfad gesehen. Jetzt erschien sie ihm wie eine kurze Quergasse, die man durchschreiten muß, um zu der großen, breiten Straße zu gelangen, welche den Weltverkehr vermittelt. Er dachte an jene Helden des Alterthums, die zugleich Philosophen, Staatsmänner und Feldherren, an die großen Männer der Befreiungskriege: wie Blücher, Scharnhorst, Gneisenau, Wellington u. A., die Alle Soldaten im Sinne des Herrn von Degenfeld gewesen waren. »Der Major hat recht,« sprach Wolfgang bei sich, »man muß heut zu Tage in mehr als einem Sattel reiten können, wenn man den Anforderungen, welche unsere Zeit an uns stellt, gerecht werden will. Sonderbar, daß dir dieser so nahe liegende Gedanke nicht schon früher gekommen ist! er hätte dir manche kummervolle Stunde erspart. Aber jetzt willst du auch daran festhalten. Du willst dich durch das engherzige, geistlose Treiben solcher flachen Alltagsnaturen, wie dieser Willamowsky, dieser Brinkmann, wie deine hohlköpfigen Vettern, nicht über die großen Gesichtspunkte, von denen aus Männer, wie Degenfeld, ihren Beruf ansehen, täuschen lassen. Das Bewußtsein, einer größern Idee zu dienen, wird dir ein Talisman sein, der dich in Mitten dieser glänzenden Larven nicht auch zur Larve werden läßt. Freilich, dem Alten auf Rheinfelden darfst du von diesen ketzerischen Ideen nichts sagen; aber er braucht ja auch nicht zu wissen, in welchem Geiste ich seinen Wunsch erfülle, wenn ich ihn nur erfülle, wenn er mich am Sonntag nur in dem bunten Rock sieht, in welchem er seinen geliebten Joseph doch nun einmal durchaus sehen will.«
Der General hatte die Verlobten und auch die übrigen Verwandten auf den Sonntag zu sich entboten. Wolfgang freute sich sehr darauf, das alte Schloß und den verwilderten Park wieder zu betreten, die ihm durch Alles, was er dort erlebt, so merkwürdig und so lieb geworden waren. Auch Camilla hatte sich viel von der Fahrt versprochen, mehr noch die Präsidentin, die sich bereits mit großen, aber etwas unbestimmten Verschönerungsprojecten trug, und hoffte, daß dieselben an Ort und Stelle Angesichts der zu verschönernden Objecte zur Reife kommen sollten. Niemand aber hatte dem Besuche ungeduldiger entgegengesehen als der Stadtrath; Niemand hatte aber auch größere Ursache, eine abermalige Zusammenkunft mit dem Alten zu wünschen. Noch waren in der famosen Taille alle Karten für ihn geschlagen. Sein Verbrechen war nicht entdeckt worden, und es war vorläufig auch gar nicht wahrscheinlich, daß es so bald entdeckt werden würde. Die Verwaltung der Kasse, an der er zum Dieb geworden, war ihm jetzt definitiv übertragen; an eine Revision hatte bei der gewaltigen Aufregung, die in Folge des Wahlkampfes augenblicklich in der Stadt herrschte, Niemand gedacht. – Er war nicht nur mit seinen Verwandten ausgesöhnt, sondern hatte als Vater des präsumptiven Erben von Rheinfelden, des Verlobten der schönen Präsidententochter, eine Position in der Familie gewonnen, die zu erreichen er niemals hatte hoffen können. Der General hatte ihm auf den Brief, in welchem er ihm »gehorsamst« meldete, daß »seine Befehle bereits erfüllt,« Wolfgang mit Camilla verlobt und seit gestern in das neunundneunzigste Infanterieregiment eingetreten sei, zwar nicht direct geantwortet, aber die bald darauf erfolgende Einladung nach Rheinfelden und eine beträchtliche Anweisung auf des Generals Banquier in der Stadt schienen zu beweisen, daß der Alte mit der Ausführung seiner »Befehle« gerade nicht unzufrieden sei. – Ein Eisen, das so herrlich glühte, mußte geschmiedet werden. Tausend Thaler waren gut, aber zehntausend Thaler waren zehnmal besser, und weshalb sollte der brave, alte Herr, der in seinen greisen Tagen plötzlich so spendabel wurde, nicht zehn oder zwanzigtausend herausrücken, wenn man ihm die Sache nur vernünftig vorstellte!
Da, am Sonntag Morgen, kam ein Brief von Rheinfelden, dessen Inhalt die sanguinischen Hoffnungen des Stadtraths bedeutend abkühlte. Der General schrieb: er sei krank, könne und wolle die Gesellschaft nicht sehen, der Teufel solle die Gicht holen, und der »Junge« solle in Teufels Namen, ohne seinem Großonkel die »kleine Hexe« vorgestellt zu haben, nach der Residenz reisen.
So hatte die Taille ihr Ende erreicht. Die schöne Gelegenheit war vorübergegangen; daß der starrköpfige Alte sich eines Anderen besinnen würde, war sehr unwahrscheinlich; überdies war der Termin von Wolfgang's Abreise festgesetzt und merkwürdigerweise bestand Wolfgang darauf, das der festgesetzte Termin streng eingehalten werde.
Diese Eilfertigkeit eines seit so kurzer Zeit Verlobten, von dem Orte seiner Liebe fortzukommen, schien Allen räthselhaft, und Wolfgang war nicht im Stande, dies Räthsel zu lösen, zum wenigsten nicht, ohne dabei Manches zur Sprache bringen zu müssen, was er sich selbst nur ungern gestand. Die Wahrheit aber war, daß der herrliche Talisman, den er aus der Unterredung mit Herrn von Degenfeld für alle Zukunft erobert zu haben glaubte, bereits in den nächsten Tagen seine Kraft nur sehr schwach geäußert hatte. Die Vorstellung auf der Parade, die Meldungen bei den Officieren, der unvermeidliche Verkehr mit den »Kameraden« – jungen Leuten, die ohne Ausnahme an Bildung tief unter ihm standen, – das Alles hatte die Stimmung des jüngsten Fähndrichs vom neunundneunzigsten Infanterieregiment so niedergedrückt, daß die Helden des Alterthums und die großen Männer der Neuzeit (die alle Soldaten und Staatsmänner zugleich gewesen!) an seinem Horizont verschwunden waren, und er nur Leute vor sich sah, die ein traurig Handwerk in traurig geistloser Weise trieben. Zwar hatte Herr von Degenfeld gelächelt, als er ihm bei einem zweiten und letzten Besuche mit dem Vertrauen, welches ihm der seltene Mann eingeflößt hatte, sein ganzes Herz ausschüttete, und gemeint: »dergleichen Stimmungen würden wohl noch öfter eintreten, bevor Uebung und Nachdenken hier wie überall den Meister machten;« und Wolfgang hatte sich zum zweiten Male fest vorgenommen, unbeirrt durch die hohlen Larven und Gespenster seinen Weg zu gehen, aber er fühlte doch, daß eine zeitweilige Entfernung aus diesen Kreisen, wo es so viele Zeugen des Kampfes gab, den er mit sich selbst zu kämpfen hatte, nothwendig sei, und er drang deshalb auf diese Entfernung.
Niemand war über diese »Halsstarrigkeit« unzufriedener, als die Präsidentin. Sie hatte Wolfgang während dieser kurzen Feit »ganz außerordentlich lieb« gewonnen, und an jedem Tage eine neue interessante Eigenschaft an ihm entdeckt. Es stellte sich nach einander heraus, daß Wolfgang in Gestalt, Bewegung, Gesichtszügen und Ausdruck den idealisirten Typus der Hohensteins darstelle, daß sein Conversationstalent wahrhaft überraschend und sein Klavierspiel vollkommen meisterhaft sei, daß seine Größe zu der Camilla's wunderbar passe und daß seine schlanke, elegante Figur erst in dem militairischen Rock zur vollen Geltung komme. Wolfgang's vorzüglichste Tugend war indessen in den Augen der Präsidentin offenbar die, daß sein Verhältniß zu Camilla so viele Gesellschaften und Excursionen möglich, ja nothwendig machte, und deshalb wollte sie »von einer so schnellen und gänzlich unmotivirten Trennung ein für allemal nichts wissen.« Camilla schloß sich natürlich hier, wie in den meisten Fällen, der Meinung der Mutter vollkommen an. Sie bat und schmeichelte, und, als das Bitten und Schmeicheln nicht helfen wollte, schmollte sie; und als das Schmollen nicht verfing, brach sie in Schluchzen aus – nicht in Thränen, denn Camilla weinte nie, – und als Wolfgang ihr mit freundlichem Ernst das Thörichte eines solchen Benehmens verwies, gerieth sie in großen Zorn und erklärte, daß, wenn Wolfgang so wenig Rücksicht auf ihre Wünsche nehme, sie auch keine Neigung fühle, sich seinen Wünschen zu fügen, und daß sie z. B. die reizende Partie in das Gebirge, welche Herr von Willamowsky für heute Nachmittag arrangirt habe, mitmachen werde, unbekümmert darum, ob Wolfgang morgen früh reise oder nicht.
»Ich habe kein Recht, Dir Vorschriften irgend welcher Art zu machen,« erwiderte Wolfgang, »findest Du ein größeres Vergnügen darin, mit Deinen Freunden und Freundinnen eine Partie zu machen, als mit mir noch einige Stunden zusammen zu sein, so thue es immerhin. Du mußt ja am besten wissen, wie viel Dir meine Gesellschaft werth ist.«
»Aber, lieber Sohn,« sagte die Präsidentin von ihrem Fauteuil aus, »ich dächte, Camilla hätte ein größeres Recht, so zu sprechen. Kann Ihnen denn Camilla's Nähe kostbar sein, wenn Sie sich ohne Grund so schnell aus derselben entfernen. – Ruhig, Joli!«
»Ich habe Ihnen die Gründe, die ich habe, meine Abreise nicht länger als bis morgen früh hinauszuschieben, wiederholt auseinandergesetzt. Es thut mir leid, gnädige Frau, wenn es mir nicht gelungen ist, Sie von der Stichhaltigkeit dieser Gründe zu überzeugen. Aber –«
»Aber, so könntest Du doch wenigstens noch heute Nachmittag mitkommen;« warf Camilla dazwischen.
»Verzeihe, liebe Camilla, das ist wohl nicht möglich. Ich habe noch Manches zu besorgen, noch verschiedene Besuche zu machen; ich wünsche mit meiner Mutter noch einige Stunden beisammen zu sein. Du weißt, daß wir vor halb elf Uhr nicht zurück sein können. Und morgen früh um sieben geht der Zug.«
»Du bist eigensinnig;« sagte Camilla.
»Ich würde Dir diesen Vorwurf zurückgeben, wenn ich nicht überzeugt wäre, daß Du mir gern den Gefallen thust und heute Nachmittag zu Hause bleibst.«
»Da dürftest Du Dich doch irren.«
»Ich werde am Nachmittag um drei Uhr mich vom Gegentheil überzeugen.«
»Das Dampfschiff, mit dem wir fahren werden, geht schon um zwei.«
»Dann muß ich Dir schon jetzt Lebewohl sagen, Camilla!«
»Lebe wohl!«
»Aber Kinder;« rief die Präsidentin, sich aus ihrer bequemen Lage in die Höhe richtend, und Joli von ihrem Schooß auf den Teppich springen lassend; »müßt Ihr Euch denn immer zanken, ich wollte sagen: könnt Ihr Euch denn wirklich über eine solche Bagatelle veruneinigen! Geben Sie nach, lieber Wolfgang; ein Cavalier wie Sie, wird doch nicht gegen Damen so ungalant sein.«
»Wenn wir unser Thun und Lassen nach den Gesetzen der sogenannten Galanterie regeln wollen, gnädige Frau, so fürchte ich: würden sich die Damen schließlich am schlechtesten dabei stehen. Leben Sie wohl, gnädige Frau! leb wohl, Camilla.«
Wolfgang verbeugte sich und ging langsam nach der Thür, in der sichern Erwartung, daß Camilla ihm nicht erlauben werde, sich so zu entfernen. Aber Camilla blickte von ihrer Stickerei nicht auf, und die Präsidentin, die den Sinn seiner letzten Worte gar nicht verstanden hatte, rief: »Also präcis zwei Uhr, kommen Sie nicht zu spät!« Wolfgang blieb stehen und ein bitteres Wort schwebte auf seinen Lippen; aber er sprach es nicht aus, sondern verbeugte sich noch einmal und verließ das Zimmer.
»Sei nur heute Nachmittag recht liebenswürdig gegen ihn,« sagte die Präsidentin, von einer so angreifenden Scene erschöpft in ihren Fauteuil zurücksinkend.
»Aber, Mama, glaubst Du denn wirklich, daß er kommen wird?« fragte Camilla.
»Ob er kommen wird? mais cela va sans dire.«
» Nous verrons,« erwiderte Camilla, die Perlen auf ihrer Stickerei zählend.
Wolfgang kam; aber nicht um zwei, sondern um drei. Der Kammerdiener Jean, der ihn empfing, wunderte sich unendlich, Herrn von Hohenstein zu sehen. Ob Herr von Hohenstein denn nicht von der Partie sei? Die gnädige Frau mit den beiden gnädigen Fräulein Töchtern hätten bereits um halb zwei Uhr in Gesellschaft des Herrn Barons von Willamowsky, des Herrn Assessors von Wyse und des Herrn Kettenberg das Haus verlassen. Der Herr Präsident seien aus der Wahlversammlung noch nicht zurück; hätten aber versprochen, mit dem um vier Uhr gehenden Dampfschiff nachzukommen, im Fall die Wahl bis dahin beendet sei. Ob sich Herr von Hohenstein dem Herrn Präsidenten nicht anschließen wolle?
Wolfgang sagte, »er wolle sehen – vielleicht – er hoffe, bis dahin mit seinen Geschäften fertig zu sein,« und ging.
Seine erste Regung war gewesen, ein paar Visitenkarten mit »um Abschied zu nehmen« da zu lassen; aber der Gedanke, daß der schlaue, widerlich schwatzhafte Mensch dann sogleich den Zusammenhang errathen und sich in der Küchenregion über ihn und Camilla lustig machen könnte, hatte ihn davon abgehalten. Nicht nachgeben! – das stand bei ihm fest; aber sein Herz war tief traurig. Dazu also hatte es kommen müssen! So wenig also verstand ihn Camilla! So viel also hatte sie von dem Leichtsinn der Menschen, unter denen sie aufgewachsen, in sich aufgenommen! Denn auf den Einfluß ihrer frivolen Umgebung, besonders ihrer indolenten, genußsüchtigen Mutter schob Wolfgang natürlich den größten Theil der Schuld. Daß die Mutter sich durch die kluge willensstarke junge Dame sehr viel öfter in ihren Handlungen bestimmen ließ, als diese sich von jener; daß es Camilla heute nur ein Wort gekostet hätte, um die Mutter zum Bleiben zu bewegen, und daß sie dieses Wort mit kaltblütiger Ueberlegung nicht gesprochen hatte, einmal, um zu sehen, wie weit ihre Herrschaft über Wolfgang sich erstreckte, und das andere Mal, um den Spöttereien Willamowsky's, von Wyse's und ihrer übrigen Verehrer die Spitze abzubrechen – daran dachte Wolfgang nicht.
Langsamen Schrittes ging er wieder nach Hause. Er überlegte, ob er Camilla schreiben solle? und was er ihr dann schreiben solle? oder ob es besser sei, gar nichts dergleichen zu thun und die Thatsachen selbst sprechen zu lassen? Er konnte zu keinem Entschlusse kommen.
Auf seinem Zimmer fand er die Sachen vollständig gepackt; die Mutter und Ursel waren fleißig am Werk gewesen. Er ging in den Garten hinab, so schwer es ihm auch wurde, der Mutter, vor der er nie ein Geheimniß gehabt, jetzt entgegen zu treten mit einer Anklage gegen seine Braut im Herzen und auf den Lippen. Denn das einfache Wort, daß Camilla mit den Ihrigen die projectirte Spazierfahrt nun doch gemacht habe, war ja Anklage genug.
Merkwürdigerweise nahm Margareth die Nachricht als Etwas, das sie mit Bestimmtheit erwartet hatte, entgegen. Sie sprach es freilich nicht aus, aber aus Allem, was sie, um ihren Sohn zu trösten, sagte, klang es heraus. Ja, wenn sie in den tiefsten Grund ihrer Seele geschaut hätte, so würde sie – vielleicht zu ihrem Schrecken – ein Gefühl des Triumphes entdeckt haben – des Triumphes, daß Wolfgang von der verlassen war, von der er – davon war Margareth überzeugt – heißer geliebt zu sein glaubte, als von seiner Mutter. Und nun in dem Bewußtsein, für heute wenigstens die Stelle in Wolfgang's Herzen wieder einzunehmen, aus der die Fremde sie verdrängt hatte, in dem Gefühl, daß er zu ihr zurückgekommen war aus einer Welt, die ihn nicht verstand und verstehen konnte, wie er als Knabe zu ihr flüchtete, wenn ihm in der Schule oder sonst irgend eine Unbilde widerfahren war, – in diesem stolzen Bewußtsein, erfüllt von diesem süßen Gefühle, fand sie die ganze alte Herzlichkeit wieder, die sich in den letzten Tagen scheu verborgen hatte; da konnte sie wieder plaudern, wie in den guten alten Tagen; ja, und auch scherzen, denn Margareth scherzte gern, wenn sie sich sicher wußte. Sie erzählte Wolfgang ihr mysteriöses Zwiegespräch mit dem alten Köbes neulich am Verlobungstage, und forderte Wolfgang auf, den Schlüssel zu finden zu den räthselhaften Worten: Hohensteins sind Hohensteins. »Was kann es heißen«, erwiderte Wolfgang lächelnd, »als: Hohensteins sind keine Schmitzs, oder noch deutlicher: sämmtliche Hohensteins der Welt sind, alle zusammengenommen, nicht werth den Riemen von dem Schuh einer gewissen Dame aus dem Hause Schmitz zu lösen, in die ich, der alte Lohnkutscher Köbes, so sterblich verliebt bin, wie nur je ein verhuzzelter alter Zauberer in eine schöne Königin, die Abends in ihrem Garten zwischen den Rosen und Lilien – in ihrer Schönheit viel herrlicher denn Rosen und Lilien – auf- und abwandelte, verliebt gewesen ist.«
Margareth lachte, dann wurde sie mit einem Male ernst und still. Wolfgang drang in sie, sich auszusprechen; aber es dauerte eine geraume Zeit, bis sie sich plötzlich mit der leise und hastig gesprochenen Frage zu ihm wandte:
»Bist Du – in der Ufergasse gewesen, um Abschied zu nehmen?«
»Nein,« sagte Wolfgang; »aber ich habe mir vorgenommen, heute gegen Abend hinzugehen, wann ich hoffen darf, den Onkel zu treffen. Ich wäre schon früher zu ihnen gegangen, ebenso wie zu Münzer – aber – aufrichtig, Mutter, ich kann mir nicht denken, daß Schmitz's, oder auch Münzer, über meine Verlobung und meine Umsattelung, wie wir auf der Universität sagen, besonders entzückt sein werden, und Du weißt: die Menschen nehmen es immer als eine persönliche Beleidigung auf, wenn man sein Leben nicht genau so einrichtet, wie sie es für zweckmäßig halten, ohne daß sie je darnach fragen, ob es uns auch nur möglich ist, ihren Wünschen nachzukommen.«
»Das ist wohl wahr;« seufzte Margareth.
»Indessen,« fuhr Wolfgang fort, »ich wäre, wie gesagt, ohne Deine Mahnung gegangen, so wenig erquicklich auch das Zusammentreffen mit Onkel Peter oder Tante Bella werden wird; ich wäre gegangen und hätte ich es auch nur meines hübschen kleinen Mühmchens wegen thun sollen. Sage mir, Mutter, weshalb ist Ottilie in all' dieser Zeit nicht wieder hier gewesen? Sie hatte Dir doch versprochen, mich gesund zu machen und dann alle Tage zu kommen? Hat sie es übel genommen, daß ich ohne ihre Hülfe gesund geworden bin? oder ist es auch nur eine der vielen Capricen der guten Tante Bella? oder einfach eine Strafe meiner Verlobung mit Camilla? ich glaube, das letztere ist das Wahrscheinlichere.«
Margareth kämpfte mit sich, ob sie die Wahrheit sagen solle oder nicht; aber der beleidigte Familienstolz gewann die Oberhand, und indem ihr die Thränen aus den Augen brachen, sagte sie:
»Sie darf ja nicht, Wolfgang!«
»Wer hat es verboten?«
»Dein Vater.«
»Und warum?«
»Ich weiß es nicht, oder doch, ich weiß es wohl: weil er sich meiner Verwandten schämt, weil die Verwandten Deiner Braut nicht wissen oder nicht daran erinnert werden sollen, daß Deine Mutter eines armen Buchdruckers Tochter ist.«
»Und hat der Vater das Schmitz's gesagt?«
»Ich selbst habe es Ottilien sagen müssen – er befahl es.«
Margareth hatte das kaum gesprochen, als sie es schon bereute – nicht aus Furcht vor ihrem Gemahl, sondern aus dem edleren Gefühl, daß es einer Frau und Mutter nicht zieme, es sei, aus welchem Grunde es sei, Zwietracht zu säen zwischen Vater und Sohn. Sie war überzeugt, daß er es gewiß mit dem Verbot so bös nicht gemeint habe; sie fand es so erklärlich, daß er in seiner augenblicklichen Lage, wo ihm die gute Meinung seiner Verwandten in jeder Beziehung so wichtig sei, fürchte, sich durch eine Annäherung an Peter's Familie in den Augen seiner Parteigenossen zu compromittiren; sie gab zu, daß Peter durch sein schroffes Wesen ihren Gatten auch vielfach gereizt haben möge; sie suchte mit allen Gründen, die ihr nur irgend erdenklich waren, den Gatten zu rechtfertigen, zum mindesten zu entschuldigen. Wolfgang hörte mit gefurchter Stirn und düsteren Augen schweigend zu. Endlich sagte er:
»Laß es gut sein, Mutter! es ist das alle, ewig neue leidige Lied; es ist der uralte Fluch, der auf den Menschen ruht, die nicht Brüder sein wollen; vielleicht, wer weiß es! nicht sein können, und doch sein müßten, wenn das, was die Weisesten und Besten unter uns als das Ideal der Menschheit hingestellt haben, nicht eine inhaltsleere Phrase, ein hohles Nichts sein soll. Du, liebe Mutter, hast schon so viel unter diesem Fluch gelitten, und ich bin zu sehr Dein Sohn, als daß ich in dieser Hinsicht etwas vor Dir voraus haben könnte. Wir werden eben an den Sünden gestraft, die wir nicht sündigten. Was können wir thun, als uns von Sünden rein erhalten; als, unbeirrt durch den Egoismus der Andern, unserm Ideal nachleben; Opfer bringen, so weit wir können, ohne von uns selbst, von unserem besseren Selbst abzufallen; dann aber, wenn der Punkt eintritt, wo wir sagen müssen: bis hierher und nicht weiter! auch fest stehen zu unserer Ueberzeugung, es komme daraus, was da will und mag. Dieser Punkt ist für mich jetzt eingetreten. So weit kann und darf der Vater nicht gehen. Er darf nicht von Dir verlangen, daß Du seinen weltlichen Plänen zu Liebe die guten Menschen, an die Du durch die heiligsten Bande des Bluts, durch tausend und aber tausend schöne und rührende Erinnerungen geknüpft bist, wie Fremde von Deiner Schwelle und aus Deinem Herzen weist; er kann von mir nicht fordern, daß ich von hier fortgehe, ohne denen, von welchen ich, so lange ich lebe, nur Liebes und Gutes erfahren habe, die Hand zum Abschied zu drücken. Ich werde mit dem Vater sprechen, sobald er nach Hause kommt; ich bin überzeugt, er wird einsehen, daß wir nichts fordern, als was recht und billig ist, auf jeden Fall werde ich noch heute Abend zum Onkel gehen.«
Margareth wollte etwas erwidern, das wahrscheinlich darauf berechnet war, Wolfgang zur Vorsicht und Mäßigung zu ermahnen, als der Stadtrath eilig durch den Garten auf sie zugeschritten kam. Margareth wurde bleich und warf einen flehenden Blick auf ihren Sohn, den dieser mit einem sanften Druck der Hand und mit dem leisen Worte: sei ganz ruhig, liebste Mutter! beantwortete.
Der Stadtrath war sehr aufgeregt, er küßte seine Frau auf die Stirn und reichte seinem Sohne die Hand. Dann fing er nach den ersten Worten der Begrüßung sogleich an von dem großen Ereigniß des Tages, von den Wahlen, zu erzählen. Seine Nachrichten waren sicher, denn er kam selbst soeben aus der Versammlung. Es war sehr stürmisch hergegangen; die Parteien hatten sich auf das Schroffste gegenüber gestanden; nur nach zahllosen Abstimmungen war es zu einem sicheren Resultat gekommen.
»Und zu welchem Resultat!« rief der Stadtrath, »Du wirst nicht wissen, Wolfgang, ob Du Dich darüber freuen oder betrüben sollst. Trotz unserer verzweifelten Anstrengungen ist es uns nicht möglich gewesen, den Präsidenten durchzubringen.«
»Und Münzer?« rief Wolfgang.
»Münzer ist gewählt;« erwiderte der Stadtrath mit einer Miene, die gleichgültig sein sollte, aber seine innere Erregung doch deutlich genug verrieth. »Nun das war ja vorauszusehen; sein Anhang unter den Arbeitern ist trotz Allem, was wir gethan haben, um ihn in dem Vertrauen der Leute zu deraciniren, doch zu groß. Wir mußten ihnen dies Zugeständniß machen, um nur einen unsrer Candidaten durchzubringen, bei dem wir freilich auch unserer Sache keineswegs sicher sind. Der Katholicismus und der Particularismus! ja wenn wir mit diesen Feinden nicht zu kämpfen hätten. Am liebsten hätten sie lauter Pfaffen und Juristen gewählt, damit ihnen doch nur ja ihr Brevier und ihr Code bleibt. Wie groß das Mißtrauen gegen uns Protestanten, zumal gegen den Beamten- und Militairadel aus den östlichen Provinzen ist – das hat sich heute wieder recht klar gezeigt. Als der Präsident nicht mehr zu halten war, stellte man mich noch in aller Eile auf; wer weiß, ob das nicht von dem besten Erfolge gewesen wäre, wenn man es gleich von Anfang gethan hätte. Ich habe mich über die große Anzahl der Stimmen, die ich trotzdem erhielt, sehr gewundert. Aber für den Bruder wird es ein harter Schlag sein. A propos, Wolfgang, weshalb hast Du denn den Ausflug nicht mitgemacht? der Bruder sagte mir: ihr wäret schon seit dem Mittag Alle in den Bergen.«
»Die Andern sind fort,« erwiderte Wolfgang, »ich bin zu Hause geblieben, weil ich gern noch ein paar Stunden bei der Mutter sein wollte, und weil ich noch ein paar Besuche zu machen habe, vor Allem bei Onkel Peter.«
Wolfgang hatte das im ruhigsten Tone gesagt; die Mutter beugte sich seitwärts über ein Beet und machte sich mit den Blumen zu schaffen.
»Das ist auch wahr,« erwiderte der Stadtrath; »ich wollte Dich alle diese Tage daran erinnern und habe es nur in diesem Trubel, der ja Niemanden zur Besinnung kommen läßt, vergessen. Gewiß, der Onkel würde es mit Recht übel nehmen, wenn Du so sans façon abreisen wolltest. Ich bin, wie Du Dir denken kannst, mit dem Onkel in jüngster Zeit noch etwas weiter als sonst auseinander gekommen, und ich habe deshalb auch Deine Mutter gebeten, vorläufig ihre Relationen mit der Ufergasse auf das Nothwendigste zu reduciren; aber damit ist natürlich nicht gesagt, daß man die Sache auf die Spitze treibt, oder nun gar die Pflichten der gewöhnlichen Höflichkeit zu erfüllen unterläßt.«
Margareth wandte sich von ihren Blumen wieder um; ihre braunen Augen waren feucht und ihre sanfte Stimme klang noch sanfter und lieblicher, als sie jetzt, sich an den Arm ihres Gatten schmiegend, sagte: »Komm herein, lieber Arthur! Du mußt ja vollkommen erschöpft sein, Ursel wird unterdessen angerichtet haben. Und dann mußt Du ein Glas Wein trinken – von dem schönen sechsundvierziger Liebfrauenmilch – das wird Dir gut thun.«
»Und dazu ein freundliches Lächeln von meiner schönen, lieben Frau, die, Gott sei Dank, noch vier Jahre Zeit hat bis sie eine Sechsundvierzigerin ist! das wird ein Göttermahl werden!« sagte der Stadtrats seiner Gattin die Hand küssend.
Sie gingen in das Haus. Wolfgang und die Mutter leisteten dem Stadtrath bei seiner Mahlzeit Gesellschaft, da er noch gar viel von den Wahlen zu erzählen hatte. Es dunkelte bereits, als Wolfgang endlich zu seinen Besuchen aufbrach. Er hatte mit der Mutter verabredet, daß sie seine Zurückkunft nicht erwarten, sondern sich zeitig zu Bett legen sollte, um Morgen früh desto kräftiger zu sein. Der Stadtrath wollte zu Hause bleiben und seine liegen gebliebenen Correspondenzen und Acten abarbeiten. Wolfgang verließ das Haus mit viel leichterem Herzen, als er es vor wenigen Stunden betreten hatte. Er hatte die Eltern noch nie so einig gesehen. Die Freude darüber ließ ihn den morgen bevorstehenden Abschied von der Mutter, der ihm so schwer auf dem Herzen gelegen hatte, weniger schmerzlich fürchten; und selbst sein Streit mit Camilla erschien ihm in einem minder trüben Licht. Hatte er doch eben noch an dem Beispiel der Mutter gesehen, wie eine hypochondrische Stimmung geneigt ist, gleich das Schlimmste anzunehmen. »Camilla wird ihren Fehler bereuen, sobald sie zur Erkenntniß kommt und das wird noch vor morgen früh geschehen. Die Erkenntniß ist die Hauptsache, das Andere findet sich von selbst. Und weil das Erkennen sich nicht erzwingen läßt, muß man eben Geduld haben.«
Wolfgang war in der versöhnlichsten Stimmung, als er nach einer langen Wanderung durch die staub- und lärmerfüllten Straßen endlich an Onkel Peter's Haus in der Ufergasse anlangte.