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XXXVII.
Enttäuschung

Langsam und traurig verstrichen die Monate in der Pfarrei Lough und Ardavine. Alle Arbeit ruhte nun. Das Volk war wie gelähmt. Niemand wußte, wann die Diener des Gesetzes kommen und ihr Zerstörungswerk beginnen würden. Das Postbureau war jetzt leer. Die Postvorsteherin konnte die Hände in den Schoß legen. Der große Ausfuhrhandel der Pfarrei war ein Ding der Vergangenheit. Das Traurigste aber war, daß der große Vater und Freund auf seinem Krankenbett in einem Dubliner Spital lag. Seine Pfarrkinder hörten eine Zeitlang nichts mehr von ihm; dann kam ein Hoffnungsschimmer. Er versicherte sie, daß der Gutsbesitzer es nicht zum Aeußersten kommen lassen werde. Er hatte teilweise recht. Der Fall war in die englische Presse gelangt; denn die Käufer in Manchester verloren durch die erzwungene Untätigkeit ihrer Lieferanten in Irland große Summen; und der Kanonikus hatte von seinem Krankenbett aus einen eindringlichen Brief an die Londoner und Dubliner Presse über diesen neuen Fall von Ungerechtigkeit und Raubgier gerichtet. Infolgedessen zögerte das Bureau, die Anweisungen, die es vom Grundherrn aus Paris erhielt, zu erzwingen, und die ganze Lage war noch höchst unsicher.

Vater Cussen war von wilder Freude erfüllt. Seine Prophezeihung war buchstäblich eingetroffen. Er hatte die Katastrophe kommen sehen und war vorbereitet. Sie mußte ja kommen, sagte er. Besser jetzt als später. Ein scharfer Kampf und ihr Besitz war ihnen sicher für immer. Nur Schulter an Schulter stehen, und alle Macht Englands konnte sie nicht vertreiben.

Lukas kam nach Lisnalee herüber. Sein guter, alter Vater befand sich in schwerer Besorgnis. Lizzie und ihr Mann waren ängstlich, aber entschlossen.

»Gibt es denn keinen Ausweg?« fragte Lukas.

»Keinen. Der Grundherr verlangt eine Unmöglichkeit. Der Nachlaß von fünfundzwanzig Prozent hielt uns gerade noch flott und gab uns die Möglichkeit und Lust, unsere Bemühungen fortzusetzen. Wenn wir das auch noch bezahlen müssen, ist aller Nutzen unserer Arbeit und unseres Fleißes geopfert. Und dann, Rückstände verlangen, die man schon über dreißig Jahre schuldet, das ist einfach ungeheuerlich.«

Vater Cussen bestätigte das durchaus und fügte hinzu: »Sie sehen, Lukas, wie es mit Ihrem schönen Gesetz bestellt ist? Der Mann handelt ganz gesetzlich und doch ganz brutal. Er braucht seine drei- bis viertausend Pfund im Jahr, die Ihre Schwester und all die andern hier nicht aus der gegen früher besseren Beschaffenheit seines Eigentums, sondern aus ihrem eigenen Fleiße ziehen. Er braucht sie, um sie in Monte Carlo wieder verspielen zu können; und er muß sie auch haben, oder den Ruin! Und das Gesetz gibt ihm recht. Es ist zwar brutal, aber vollkommen gesetzlich! Und es wird auch erzwungen werden, wenn nötig mit Hilfe der Bajonette.«

Lukas kehrte schweren Herzens und voll schlimmer Ahnungen nach Roßmore zurück.

Während des Maimonats wurde eine große Mission in der Pfarrei Roßmore abgehalten. Wie alle Missionen in Irland, war sie gut besucht. Von nah und fern strömten die Leute zu den Predigten und gingen zur Beichte. Die guten Väter hatten eine arbeitsreiche Zeit, und Lukas kam den ganzen Tag nicht mehr aus der Kirche heraus. Das zerstreute seine Gedanken und machte ihn glücklich. Die Schlußfeier – die Erneuerung der Taufgelübde – bot einen wundervollen Anblick. Es waren über 1500 Personen in der geräumigen Pfarrkirche. Die Hitze war erdrückend, aber niemand beachtete es. Mütter brachten ihre Wiegenkinder, damit sie des Segens und der Feier dieses Abends nicht verlustig gehen sollten. Sie legten die Hände der Kleinen um die Wachskerzen und sprachen auch für sie die Gelübde aus, die der Erneuerung nicht bedurften. Alle fühlten sich nach einer guten Beichte und Kommunion wie neugeboren. Alle waren glücklich in dem schönen, eigenartigen Gefühle der Erleichterung und des Friedens, das man nach einer guten, aufrichtigen Beichte empfindet. Alle waren des guten Willens, für Gott zu leben und eher zu sterben, als seinem Feinde in die Hände zu fallen. Lukas war mehr als glücklich; er war förmlich begeistert. Er hatte eine glorreiche Arbeitswoche hinter sich und er fühlte sich dadurch mächtig gehoben. Und er wußte, daß sein guter Pfarrer glücklich und befriedigt war, und auch das bereitete ihm große Freude. Aber kleine Zwischenfälle verderben große Ereignisse immer, und so war's auch diesen Abend. Ein armer Bursche hatte sich gehen lassen; trotzdem aber hatte er darauf bestanden, zum Schlusse der Mission zu kommen. Während der Predigt hielt er sich noch ziemlich ruhig; als aber die Kerzen zur Schlußzeremonie angezündet wurden, begann er die Leute zu stören. Lukas sah es und ging durch den Seitengang auf ihn zu. Er bedeutete ihm, aufzustehen und ihm zu folgen. Der arme Kerl gehorchte und trat mit ihm auf den Vorplatz hinaus. Lukas befahl ihm hier, nach Hause zu gehen. Aber der junge Mann wollte nicht. Er blieb mit gespreizten Beinen stehen und schwankte hin und her. Seine Kerze war von der Hitze weich geworden und hatte sich um seine Hand gelegt, und er weinte und schluchzte wie ein Kind.

»Komm', sei brav!« redete ihm Lukas zu. »Geh' heim, und niemand wird dich vermissen!«

»Ich will nicht heimgehen! Ich brauche auch die Wo–ohltaten der Mission; ich au–auch.«

»Wie kannst du in diesem Zustande einen geistigen Vorteil von der Mission erwarten?« protestierte Lukas. »Geh' heim und leg' dich in's Bett!«

»Ich will aber nicht heim!« lallte der Angetrunkene. »O! O! Aus dem Hause Gottes fortgehen müssen, und es ist der Schluß der Mission! O! O!«

»Es ist deine eigene Schuld. Du hast uns allen heute abend Schande gemacht! Sei folgsam jetzt, und geh' heim!«

»Ich will aber nicht,« plärrte er. »Ich will in die Kirche zurück und will die Gnaden der Mission erhalten. O! O!«

»Du darfst nicht in die Kirche zurück,« erklärte Lukas entschieden. »Die Andacht der Leute darf nicht durch dich gestört werden. Wart', ich hole jemand, der dich nach Hause führt! Du kannst deinen Rausch dann ausschlafen und morgen zu mir kommen, um zu geloben, daß du dich nicht mehr betrinken willst. Schau' nur her, deine Kerze ist ganz herabgebrannt.«

Die erloschene Kerze war entscheidend. Der arme Kerl wandte sich ab und ging beschämt und niedergedrückt nach Hause.

Lukas war sehr aufgebracht. Er vergaß ganz, daß die Kirche drinnen voller Andächtiger war und daß das Heilswerk dieser Woche groß gewesen war. Er sah nur diesen einen Makel, und das Lallen des betrunkenen Burschen ging ihm die ganze Woche nach. Und am Sonntag vormittag hielt er eine heftige Anklagerede über den Mißbrauch der göttlichen Gnade, über die Torheit derer, welche die Mittel der Heiligung mit dem Ziele der Heiligung verwechseln, und über den Aberglauben derjenigen, die da annehmen, die Mission wäre ein Waffenschild, der das ganze Jahr vor dem Rückfall schütze, ohne ihre eigene Mitwirkung mit der göttlichen Gnade usw.

Am Montag der übernächsten Woche nach der Mission trat er seine alljährliche Ferienreise an. Es waren jetzt schon zehn Jahre her, seit er England verlassen hatte, und obschon er wiederholt von seinen ehemaligen Mitbrüdern eingeladen worden war, wieder über den Kanal zu kommen, hatte er doch stets abgelehnt. Er hatte immer gefürchtet, wieder dieselbe Erfahrung über den Kontrast zwischen den beiden Ländern machen zu müssen wie früher. Er fühlte sich jetzt erträglich glücklich und wollte sich nicht nochmals in die schreckliche Niedergeschlagenheit stürzen, die ihn die ersten Jahre nach seiner Rückkehr von England verfolgt hatte. Aber jetzt hatte er die Vergangenheit so vollständig überwunden, daß er diese böse Erfahrung nicht mehr fürchtete, und eine geheime Sehnsucht trieb ihn an, noch einmal die Stätte zu sehen, wo er seine ersten Priesterjahre verlebt hatte. Er sprach an der Kathedrale vor. Alles hatte sich geändert. Die alten Gesichter waren fort, gestorben oder versetzt worden, und neue Kräfte waren überall an ihre Stelle getreten. Da war noch der alte Speisesaal und das Bibliothekzimmer; da war noch der Tisch, wo er seine Karte zeichnete, als er so plötzlich nach Aylesburgh versetzt wurde; da war auch noch sein Schlafzimmer. Aber der Bischof? Tot. Der gute, liebe, alte Generalvikar? Tot. Sheldon? Nach Aylesburgh versetzt. O, er wußte es! Der treue Freund hatte seinen irischen Kameraden niemals vergessen, und wirklich war es auch nur Vater Sheldons dringende Einladung gewesen, die Lukas' Abneigung gegen einen Besuch in England überwunden hatte. Dachte man hier noch an ihn? Gewiß! Die Geschichte, wie er vergebens versucht hatte, dem Bischof die Cappa magna aufzusetzen, erzählte man sich immer noch; und jedesmal, wenn ein junger Priester das herrliche Kleidungsstück dem Bischof anzulegen versuchte, rief man ihm die warnenden Worte zu: Denke an Delmege! Gewiß! Und man erzählte sich gleichfalls, daß Lukas Delmege es war, der den bedauerlichen Abfall Hallecks verschuldet hatte.

»Das ist eine niedrige, verläumderische Lüge,« protestierte Lukas. Sie zogen aber nur ihre Augenbrauen in die Höhe und blickten sich an, so daß Lukas froh war, wieder fortzukommen.

Vater Sheldon war wirklich hocherfreut, seinen alten Freund wiederzusehen, und empfing ihn nach englischer Art mit einem kühlen, höflichen Willkommen.

»Gütiger Himmel!« dachte Lukas, »sie sind alle zu Stein geworden.«

Nach und nach taute aber Vater Sheldon auf, und der alte kameradschaftliche Ton erwachte wieder.

»Die Jahre merkt man uns aber allen an, Delmege,« sagte er. »Ich bin so kahl wie Julius Cäsar, und Sie haben auch mehr graue als dunkle Haare auf Ihrem Haupte.«

»Alles kommt mir hier so verändert vor,« wunderte sich Lukas. »Ich kann gar nicht mehr recht begreifen, wie ich es je hier schön finden konnte.«

Er blickte umher und verglich den Ort mit seinem eigenen kleinen Heim in Roßmore. Er dachte an seinen Garten, seine Blumen, seine Bücher, seine Gemälde, sein Pferd, seine Freiheit, die gänzliche Unabhängigkeit von finanziellen Fragen, sein Gefühl der Freiheit von Verantwortlichkeit, die geduldige Sanftmut seiner Pfarrkinder, ihre Ehrfurcht und Liebe.

»Wie geht es John Godfrey?« fragte er.

»Tot.

»Und Mrs. Bluett?«

»Tot.«

»Und die Lefevrils?«

»Klotilde ist mit Ihrem Freund Halleck verheiratet. Die andern befinden sich in Südeuropa, in Kap San Martin oder einem andern englischen Lieblingsaufenthalt.«

»Aber Halleck lebt doch nicht hier?« fragte Lukas etwas nervös.

»O nein! Er hält gelegentlich Vorträge in der Royal Society, sucht verstreute Apostaten in Italien oder Frankreich auf, macht Berühmtheiten aus ihnen und läßt sie dann wieder fallen.«

»Er ist also nicht mehr zur Kirche zurückgekehrt?«

»Nein. Sie haben ihm bös mitgespielt.«

»Wenn ich nicht wüßte, daß Sie spaßen, Sheldon, so würde ich Ihnen die Bemerkung übelnehmen. Man hat mir das auch schon an der Kathedrale vorgeworfen. Das scheint wirklich das einzig bleibende Andenken zu sein, das ich hinterlassen habe. Und Klotilde?«

»Bleibt eine Künstlerin und lebt in South-Kensington.«

»Aber ihre Religion?«

»O, sie ist eine Eklektikerin. So sagt sie wenigstens. Das ist, wie Sie wissen, ein anderer und hübscherer Name für Häretikerin.«

»Und der arme, gute Drysdale! Er ist auch dahin. Er war ein guter Mann. Er wußte nie, wie sehr ich ihn verehrte und wie dankbar ich für sein Beispiel bin!«

»Ja, das war er,« bekräftigte Vater Sheldon, indem er sich erhob. »Nun bringen Sie aber Ihre ganze Ferienzeit hier zu, Delmege; und halten Sie uns wieder eine oder zwei Ihrer wundervollen Predigten! Aber nichts Häretisches, gelt?«

Lukas wollte eben wieder protestieren; aber Vater Sheldon fuhr milde fort: »Wie schade, Delmege, daß Sie mich damals am Serpentine den Zahn nicht ziehen ließen! Sie würden dann heute hier bei uns wirken.«

»Gott sei Dank, daß es nicht so ist! Ich gehe jetzt ein bißchen spazieren und will sehen, ob ich noch einige bekannte Gesichter treffe.«

Er ging die Hauptstraße entlang und rief sich die Namen über den Ladentüren ins Gedächtnis zurück. Dann trat er in ein katholisches Haus. Es war ein großes Geschäftsetablissement. Die Ladenmädchen starrten ihn an. Ob Mrs. Atkins zu Hause sei? Nein; aber Miß Atkins könne er sprechen. Miß Atkins kam die Treppe herab und schaute. O gewiß! Sie hatte ihre Mutter von Vater Delmege erzählen hören, der hier vor vielen Jahren wirkte. Vielleicht wolle er ein zweites Mal vorsprechen, wenn die Mutter zu Hause sei.

»Wie konnte ich nur diese sonderbaren Menschen überhaupt einmal lieb gewinnen?« fragte sich Lukas, als er die Straße hinabschritt. »Ich muß rein hypnotisiert gewesen sein.«

Er bog in eine Seitengasse ein und kam nach Primrose Lane. Das Pflaster war hier abscheulich, und ein offener Abfluß lief von der Mitte der Gasse in den Fluß hinunter. Aber sie war ihm doch teuer. Er war hier in heißen Julitagen gewesen, er hatte im kalten Januar hier seiner Pflicht obgelegen und bei den Bewohnern stets warme Anhänglichkeit gefunden.

»Ich glaube, ich bin auch hier tot und vergessen,« sagte er. Da hörte er hinter sich aus einer offenen Haustüre erregtes Flüstern.

»Er ist's!«

»Er ist's nicht!«

»Ich sage dir, er ist's. Ich kenne diesen vornehmen Gang überall heraus.«

»Bei Gott, du täuschest dich. Er ist gewiß in der alten Heimat!«

»Aber Weib, ich sage dir, er ist's. Ich würd' ihn nach hundert Jahren noch kennen!«

In einem Augenblick war die Türe belagert. Es gab eine eilige Beratung, einige Zweifel und Befürchtungen; dann rieb Mrs. Moriarty ihre Hände fest an ihrer Schürze ab, sprang aus dem Hause und warf sich auf dem rauhen Pflaster zu Boden. Dann faßte sie schluchzend, lachend, weinend und jubelnd nach Lukas' Händen und bedeckte sie mit leidenschaftlichen Küssen, während ihre überquellende Liebe sie unzusammenhängende Worte herausstoßen ließ: »O Gott, o Gott, hätte ich je gedacht, den Tag zu erleben? Oasthore machree! Puls meines Herzens! O hunderttausendmal willkommen sei der gesegnete Tag! O gelobt sei unser Herr und seine heiligste Mutter! O Vater, wir glaubten, wir sähen Sie nie wieder! So komm doch her, Mary McCarthy! Mein Gott, was habt ihr denn? Kennt ihr denn euren Priester nicht mehr? Ach, Hochwürden, oft und oft haben wir von Ihnen gesprochen! O Gott! O Gott! O Gott! Da ist er wieder, der liebe Herr! Ach, und ich habe vergessen, Sie zu fragen, wie es Ihnen geht? Sie sind jetzt wohl Pfarrer im alten Land?« Und so ging's immer wieder da capo.

»Gott segne Sie, Hochwürden,« sagte eine andere. »Wir sind so froh, Sie zu sehen! Und hier ist die kleine Marie, Hochwürden! Sie sollten sie schon erkennen! Sie haben sie ja getauft!«

»Und das ist Jaköbchen, Hochwürden! Erinnern Sie sich nicht, wie Sie sagten, er habe während der Taufe Sie immer mit einem Auge angesehen?«

»Ach Gott, die Männer werden ganz außer sich sein, daß sie an diesem Freudentag nicht hier waren. Mike wird uns alle umbringen wollen. So arg wird's ihm sein!«

»Aber vielleicht bleiben Ew. Hochwürden noch ein wenig da. Dann können die Männer Sie am Ende doch noch sehen?«

»Ich werde ein paar Tage bei Vater Sheldon bleiben,« erwiderte Lukas. »Er hat mich gebeten, über den Sonntag hier zu bleiben und einige Worte an meine frühere Gemeinde zu richten.«

»Was, predigen werden Sie, Hochwürden? So ein Glück! Hast du's gehört, Marie? Und du, Käte? Hochwürden wird Sonntag bei uns predigen. Alle Protestanten kommen gewiß dazu.«

»Ach Gott, Hochwürden, ich will gewiß die Priester hier nicht schlecht machen, aber wir haben keine richtige Predigt mehr gehört, seitdem Sie fort sind.«

»Das ist wahr. Sie sind ja recht gut, unsere Priester, aber sie haben halt das richtige Zeug zum Predigen nicht.«

»Hört mal,« sagte Lukas, von dieser schlichten Ovation tief gerührt, »ihr müßt alle mit mir nach Irland kommen! Mehr kann ich nicht sagen. Irland ist euer Vaterland und es hat euch alle nötig.«

»Wenn wir nur könnten, Hochwürden, mit tausend Freuden! Aber was wollen wir anfangen? Wir haben hier unser Auskommen, das uns drüben die Gerichtsdiener und Gutsbesitzer nicht gönnen.«

»Das ist auch wieder wahr, Käte!« bemerkte Lukas, der an die bevorstehenden eigenen Schwierigkeiten dachte.

»Und wie man hört, verlassen unsere Landsleute alle die Heimat und fliehen nach Amerika?«

»Leider tun das die Narren,« erwiderte Lukas. »Sie könnten aber zu Hause schon auch leben, wenn sie wollten. Aber was ist denn aus all meinen kleinen Italienern geworden?«

»O, die sind noch alle da, Hochwürden,« sagte Mrs. Moriarty mit einem überlegenen Lächeln. Dann trat sie an eine Treppe und schrie hinauf: »Kommt gleich herab, Jo Kimo! Bist du da, Carotty? Komm' schnell herunter und begrüße deinen Priester!«

»Sagen Sie aber nichts von seinem Affen!« warnte sie Lukas. »Er ist nämlich tot; und der arme Mann hat ihn so gern gehabt, als wenn es sein eigenes Kind gewesen wäre.«

Und Gioacchino und Carità und Stefano kamen herunter und lachten und weinten und küßten des Priesters Hand. Und er liebkoste sie in ihrer schönen Muttersprache; und als er sie verließ, fühlte er zum hundertsten Male die Wahrheit der Worte seiner Schwester: »Liebe die Armen, Lukas, und dein Leben wird voll Sonnenschein sein.«

Und er wunderte sich, wie er jemals diese graue, aschfarbene Stadt lieben konnte mit ihren elektrischen Glühlampen und ihrem Asphaltpflaster und ihren eisigen Umgangsformen, mit Ausnahme des einen Fleckchens, wo die fremden Arbeiter wohnten. Und er dachte mit Freude der Stunde, wo er wieder in Roßmore eintreffen würde mit seinen Hügeln und Wäldern, seinen hübschen Landhäusern und der treuen Liebe seines Volkes. Und er nahm sich vor, seinem lieben, alten Pfarrherrn ein neues Brevier zu kaufen, mit einem recht großen Druck für des alten Herrn schwache Augen; und ein Arbeitskästchen für Mary mitzubringen, das ihre großen Augen noch einmal so weit werden ließe vor freudigem Staunen; und eine große Pfeife für John, die das Tagesgespräch und die Bewunderung des ganzen Dorfes bilden würde.

»Kommen Sie mit, kommen Sie mit!« sagte er, als er von Vater Sheldon Abschied nahm. »Kommt mit, all ihr Sachsen, und wir zeigen euch dann unsere grünen Felder und unsere herrlichen Berge und unsere Seen; und wir gießen dann auch etwas von der Liebe Gottes in eure kalten Herzen.«

Aber Vater Sheldon lachte nur.

»Nein, danke! Ich habe zwar nicht mehr lange zu leben, aber ich will mir keinen plötzlichen und unvorhergesehenen Tod holen.«

Und so schieden die Freunde.

»Um mir den Gedanken an England für immer aus dem Kopf zu vertreiben,« dachte Lukas, als er durch London kam, »will ich es von seiner schlimmsten Seite betrachten, damit mir ja die Idee nie wieder in den Sinn kommt.«

Und er besuchte die Bank und die Börse. Noch bevor er recht wußte, wie ihm geschah, war er in einen riesigen Menschenknäuel verwickelt – eine wirbelnde, drängende Masse, die, einem gemeinsamen Antriebe folgend, bald hierhin bald dorthin sich bewegte. Bleich aussehende Männer, alle im Morgenkostüm, Zylinder, Gehrock und Handschuhen glitten einzeln oder zu zweien und dreien dahin; aber jedes Gesicht trug den Ausdruck tiefer Angst, während sie einander ausforschten oder krampfhaft Notizbücher aus der Tasche zogen und mit zitternden Händen etwas hineinkritzelten. Er ging bis zur Börse weiter. Hier traf er wieder eine wirbelnde, wohlgekleidete Menschenmasse. Da und dort besprachen Gruppen ein großes Problem; überall hörte man »Santa Fés«, »Orientalen«, »Kimberleys«, »Tanaga Minen«, »Great Westerns« und andere Anlagen. Es war ein schreckliches Babel. Da erklärte einer mit ruhiger Verzweiflung, daß er falsch spekuliert habe und vor dem Ruin stehe; dort rühmte sich ein anderer in einem Tone ruhigen Triumphes, daß er durch eine gewagte Anlage Unsummen gewonnen. Die Luft war heiß und dick vom Atem so vieler Menschen und vom Staub so vieler Füße. Doch niemand beachtete das. Sie erwiesen ja dem Altare des großen Gottes Mammon göttliche Verehrung. Lukas' Augen suchten nach dem Götzen. Da und dort sah er weiße Marmorstandbilder, die erfolgreichen Anbetern errichtet waren. Aber ein Götzenbild des Gottes selbst sah er nicht. Das war ja auch nicht nötig. Des Gottes Bild lebte in jedem Herzen; und siehe! da war ja auch schon ein Opfer! Ein junger Mann lehnte schwer, wie betrunken, an der Mauer; seine Füße waren auseinander gespreizt und sein Hut war hinten hinabgeglitten. Er bot ein vollständiges Bild der Verzweiflung.

Lukas floh entsetzt aus dem Markte Mammons. Am folgenden Tage um sieben Uhr abends befand er sich bereits wieder in Dublin. Nach dem Diner ging er aus, um sein Brevier zu beenden und seinen Rosenkranz zu beten. Er trat in die Gardiner Street Kirche. Das Halbdunkel außen wandelte sich in ihr zum Dämmer; er konnte aber doch sehen, daß die Kirche voller Andächtiger war. Er ging das Mittelschiff entlang und suchte sich ein ruhiges Plätzchen vor dem Muttergottesaltar aus. Einige Minuten neigte er im Gebete das Haupt. Als er wieder aufsah, fand er sich inmitten einer dichten Menge, die die Bänke auf beiden Seiten füllte und keine Möglichkeit, sich zu entfernen, mehr zuließ. Alle Klassen, Alter und Lebensstände waren da vertreten, wie Lukas sah, als in einem Augenblick die ganze Kirche strahlend hell erleuchtet wurde, und die große Orgel ein süßes Muttergotteslied anstimmte. Er sah Rosenkränze in aller Händen – Rosenkränze mit fünfzehn Gesetzen in den Händen der jungen Mädchen.

»Was ist das für eine Andacht?« flüsterte er einem ehrwürdigen Greis an seiner Seite zu.

»Eine Pfingstnovene,« kam es flüsternd zurück.

Die rotrockigen Ministranten traten an den Altar, und ein Rosenkranz wurde gebetet. Dann begann eine Predigt über die erste Gabe des hl. Geistes – die Weisheit.

»Wer ist der Prediger?« fragte Lukas flüsternd seinen Nachbar.

»Vater –« war die Antwort, »ein großer Mann, Hochwürden.«

»Ich sehe, ich bin in Irland,« dachte Lukas.

Er sehnte sich schrecklich nach einer Tasse Tee, aber es war unmöglich hinauszukommen, ehe der Segen erteilt war – um neun Uhr.

Am nächsten Morgen ging er in dieselbe Kirche zum Messelesen. Als er den Gang auf der linken Seite des Schiffes entlang schritt, sah er eine Anzahl Männer auf die Beichte warten. Auch sie waren jung und gut gekleidet und im Morgenanzug. Ihre Zylinder und Handschuhe lagen ruhig auf ihren Knien. Ruhig, nachdenklich und ernsten Blickes saßen sie da. Lukas dachte unwillkürlich an Mr. Hennessy und die Dorfjungen. Hier war das praktische Resultat fortwährender Uebung in der Ehrfurcht. Er betrat die Sakristei und erhielt nach einigem Zögern die Erlaubnis, Messe zu lesen. Sein Ministrant öffnete die Sakristeitür, und ein Schwall warmer Luft schlug Lukas entgegen. Er erwartete, da und dort ein paar Andächtige zu sehen. Er stand aber vor einer großen Masse. Einige knieten, die meisten aber standen und bewegten sich wie in einer endlosen Welle, die sich um einen gemeinsamen Mittelpunkt schlingt. Es war die Kommunionbank. Die auf sie zuschritten, blickten aufwärts und hatten die Hände um ihre Gebetbücher gefaltet. Sie schauten vor sich hin wie auf etwas Verzückendes, das ihr Auge und ihre Seele ganz gefangen nahm. Die zurückkehrten, beugten ihr Gesicht andächtig über ihre gefalteten Hände. Sie hatten alles, was sie erträumt und erhofft hatten, empfangen. Und während alle vorwärts oder rückwärts in scheinbar endlosen Kreisen sich bewegten, hörte Lukas nur den einen Laut, der die ehrfürchtige Stille durchbrach: Corpus Domini nostri Jesu Christi custodiat animam tuam in vitam aeternam. Amen. Nur mit der größten Schwierigkeit und indem er seinem Ministranten dicht folgte, erreichte er schließlich einen Seitenaltar, auf dem er seinen Kelch niederstellte. Sofort stürzte sich eine andächtige Menge auf den Platz. Frauen rissen ihre Kinder von den Knien empor und eilten hin. Junge Mädchen nahmen rasch ihre Plätze am Umfassungsgitter ein. Junge Männer knieten steif aufgerichtet mit andächtigem Gesicht und in stummer Aufmerksamkeit da. Alte Männer legten ihre Taschentücher nieder und beugten sich schwer über das Gitter. Dann herrschte die Stille stummer Erwartung auf das große Geheimnis, das da auf dem Altar gefeiert wurde, und auf die Gnaden, die dabei in Strömen auf die Seelen niederflossen. Lukas zitterte ganz über die ungewöhnliche Umgebung – er glaubte, es sei eine Panik in der Kirche ausgebrochen; dann aber zitterte er unter dem Schrecken großen Entzückens. Kaum hatte er seine Messe beendet, als sich die Menge erhob und an einen andern Altar eilte, wo wieder eine Messe gelesen wurde. Niemand hatte Zeit zu eitler Neugierde. Das Gold muß geschlagen wie gemünzt werden. Die Zeit ist kostbar, denn der Himmel steht an diesem dreimal gesegneten Morgen offen, und der mächtige Schatz der Kirche liegt hier allen offen mit seinem Reichtum an Gnaden und seinem Ueberfluß an Verdiensten, und schnell müssen die begehrenden Seelen ihre Hände hineintauchen und weitergehen. Und es gibt auch keinen Selbstmörder und keinen Bankerotten hier. Sie können so tief tauchen, wie sie wollen, ohne alle Furcht und ohne Gefahr, den Reichtum zu erschöpfen.

Ist denn seine Barmherzigkeit und Gnade nicht schrankenlos? Und wer kann je die Weltmeere allmächtiger Güte ermessen?

»Gestern habe ich auf dem Markte Mammons gestanden,« dachte Lukas. »Heute habe ich den Markt Christi gesehen. Ist das ganz einzig in seiner Art? Oder gibt es noch mehr solcher Orte in der Stadt?«

Er suchte danach. In der Nähe der Graftonstraße betrat er eine andere Kirche in einem engen Gäßchen – eine große, düstere Kirche mit vielen Nischen und Winkeln, wo eine demütige Seele ungestört mit Gott verkehren konnte, ohne von den Menschen gesehen zu werden. Die Kirche würde ihn noch mehr interessiert haben, wenn er gewußt hätte, daß es das Gotteshaus war, wo Barbara in fernen Tagen ihre Andacht verrichtet hatte. Und das war das Tor, durch das Mrs. Wenham entsetzt geflohen war; und das alte Weib, das er sah, konnte Norry sein, die stets mit dem Rosenkranz klapperte. Auch hier gab es viele Spekulanten auf die Schätze des Himmels. Hin und her, her und hin gingen sie betend, weinend und beobachtend. Alle außer einem. Ein junger Mann in tadellosem Anzug, dessen Zylinder und Handschuhe neben ihm auf der Bank lagen, blickte starr zum Antlitz des Gekreuzigten hinauf, während er sich schwer in die Bank zurücklehnte. Er sah aus, wie einer, der gerade aus schrecklichem Traume erwacht und sich eben wieder klarmacht, daß er noch lebt und daß es große reale Dinge um ihn gibt. Er schien immer noch zu fragen: Ist das alles Wirklichkeit oder ist es noch ein Traum? Aber der milde, lebendige Glaube um ihn her, die ruhige Verwirklichung des Uebernatürlichen, die ehrfürchtige Unbefangenheit, mit der die jungen Mädchen die rosenfarbige Kerze in den großen Leuchter steckten und dann zum Bilde des Gekreuzigten emporblickten und sich verneigten, als ob seine Augen weit offen wären und sie ansähen – alles das beruhigte ihn; und nach einer langen Pause seufzte er tief auf, kniete sich nieder, vergrub sein Gesicht in den Händen und betete.

»Gott sende uns einen neuen Philipp Neri,« dachte Lukas, »wenn noch keiner hier ist.«

Natürlich wollte er auch den Kanonikus besuchen. Er ließ sich zum Spitale hinfahren und wurde gleich in das Zimmer des Kanonikus geführt. Dort begann er sich sofort zu entschuldigen. Es mußte ein großer Irrtum vorliegen. Dieser ehrwürdige alte Mann, dem sein langes Haupthaar über die Schultern herabfloß und dessen langer weißer Bart auf die Brust herabwallte, war doch nicht der Kanonikus. Das war Elias, der wieder vom Himmel gestiegen war.

»Ich bitte um Entschuldigung,« sagte Lukas; »ich bin irregeführt worden.«

»O mein lieber, junger Freund, kennen Sie denn – hm – Ihren alten Freund nicht mehr?«

»Ich bitte tausendmal um Verzeihung, aber es ist wirklich so. Ich hielt Sie für einen unter den größeren Propheten, der wieder auferstanden wäre.«

»Wirklich? Ist meine – hm – persönliche Erscheinung so arg verändert? Ich habe hier kaum daran gedacht. Da waren andere Dinge – andere Dinge wichtiger,« erwiderte der Kanonikus, sich müde mit der Hand über die Stirne fahrend.

»Ich komme eben von England, wo ich eine kurze Ferienzeit verbrachte –«

»Ha – haben Sie keine Nachrichten über meine Nichte – über Barbara?«

»Ich bedaure, nein sagen zu müssen, Sir,« entgegnete Lukas traurig. »Ich forschte Vater Sheldon aus, der so lieb zu Miß Wilson und ihrem Bruder in England gewesen ist; aber er hat Miß Wilson seit dem Begräbnisse ihres Bruders weder gesehen noch von ihr gehört.«

»Das ist seltsam und geheimnisvoll,« meinte der Kanonikus langsam. »Ich fürchte, wir müssen sie als tot betrachten.«

Lukas schwieg eine Weile.

»Ich muß Ihnen gratulieren, Sir,« sagte er dann, »daß Sie so rasch wieder genesen sind. Ich hätte nicht geglaubt, Sie so wohl vorzufinden.«

»Ich fühle mich in der Tat außerordentlich wohl,« entgegnete der Kanonikus und hob mit einiger Mühe den Arm, der gelähmt worden war. »Dank einer sorgfältigen Pflege und der – hm – Geschicklichkeit der hiesigen Aerzte hoffe ich bald wieder nach Hause zurückkehren zu können.«

»Sie dürfen auf einen warmen, ja auf einen begeisterten Empfang rechnen. Es wird den Mut der armen Leute heben, Sie wiedersehen zu können, und die Bauern brauchen jetzt auch einigen Trost.«

»O! Es wird alles recht werden! Es wird alles recht werden!« rief der Kanonikus in seiner alten Vertrauensseligkeit. »Angesichts der öffentlichen Meinung dürfen unsere Gegner nicht weiter vorgehen. Die englische Presse hat sich des – hm – Falles bemächtigt; und die öffentliche Meinung in England ist ein nicht zu verachtender Faktor.«

»Vielleicht haben Sie recht,« meinte Lukas gedrückt. »Die Dinge drüben in England scheinen mir jetzt im Lichte der Erfahrung so ganz anders zu sein. Eine seltsame, leidenschaftliche Anhänglichkeit an mein Land und mein Volk hat mich zu erfassen begonnen.«

»Es läßt sich viel dafür und dagegen sagen.«

»Ich werde den Leuten mitteilen, daß sie sich auf Ihr Kommen gefaßt machen dürfen. Eine große Ovation ist Ihnen sicher.«

»Ich denke, Sie können den Leuten sagen, daß ich in einem Monat oder sechs Wochen zu Hause sein werde,« erwiderte der Kanonikus.

Unterdessen hatte sich Lukas erhoben; auch der Kanonikus richtete sich auf, um Abschied zu nehmen, fiel aber wieder schwer zurück.

Lukas' letzter Besuch galt der Kapelle des Universitätskollegs. Sein Auge lenkte sich sofort auf die edle Büste Newmans, die eben in der Seitenmauer der Kirche aufgestellt worden war. Er ging ganz nahe hin, setzte sich auf eine Bank davor und blickte zu dem edlen Antlitz empor mit seinem Ausdrucke der Traurigkeit und Ergebung, der für den großen Kardinal in seinem späteren Leben so charakteristisch war. Und während Lukas die weiße Marmorbüste betrachtete, fiel ihm plötzlich der tragische Ausruf ein, mit dem der große Konvertit die Nachricht von seiner Erhebung ins heilige Kollegium entgegengenommen hatte: »Gott sei Dank! Die Wolke ist endlich gelichtet!« Und Lukas begann zu fragen und zu forschen.

»Warum sollte eine Wolke über dieser heiligen Stirne geruht haben? Warum werden die Großen und Heiligen geschmäht und verachtet in dieser Welt und nur im Tode geehrt? Warum sind die Menschen so grausam und rachsüchtig gegen einander? Worin liegt das traurige Geheimnis, daß die Menschen so unmenschlich gegen einander sind?«

Armer Lukas! Er kann diese quälenden Fragen nie ruhen lassen. Warum, und warum, und warum? Als ob es einen anderen Schlüssel zu dem gewaltigen Rätsel gäbe als den, der in den Tiefen von Gottes Allwissenheit verborgen ruht und den er nicht eher zeigt, als bis er die Geheimnisse des Grabes erschlossen hat!


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