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XXVI.
Das Geheimnis des Königs

Vater Tracey, Expfarrer und Geistlicher des Stadtspitals, war zugleich erfreut, gedemütigt, erhoben und betäubt während eines Tages in diesem Oktober. Sein Benehmen gab auch Anlaß zu mancherlei Gerede. Wenn jemand inmitten einer menschenbelebten Straße plötzlich stille steht, auf den Boden starrt, seinen Stock heftig hineinbohrt, und dann wieder weiter wandert, den Blick zum Himmel erhoben – dann sind die Leute gewöhnlich nicht sehr liebenswürdig mit ihren Vermutungen. Wer ihn aber um diese Zeit sein Brevier beten sah, der konnte etwas erleben, was er nicht alle Tage sah. Denn Vater Tracey küßte den Boden und beugte sich hundertmal vor seinem Schöpfer, und bei den Laudes streckte er die Arme kreuzweise übereinander und sang sie in das Angesicht des Himmels. Und alles das, weil beim Tode Alluas sich etwas ereignet hatte. Denn Vater Tracey war auch Hausgeistlicher bei den Büßerinnen im Kloster vom guten Hirten.

Man hatte ihm die Stelle als Geistlicher bei den Nonnen angeboten, aber er hatte schaudernd abgelehnt.

»Wer bin ich,« hatte er gesagt, »daß ich diese Heiligen den steilen Weg der Vollkommenheit emporführen kann? Wenn mich Ew. Lordschaft aber nach den armen Büßerinnen schauen ließen –«

Man erfüllte seinen Wunsch; er sprach aber von seinen Pflegebefohlenen nie wieder als von »Büßerinnen«; das hätte zu hart geklungen. Sie waren seine »kleinen Kinder« oder seine »Heiligen«. Er hatte aber auch schon großartige Wunder erlebt unter seinen Heiligen – Wunder der Gnade und unsagbaren Verzeihens – Seelen, die sichtbar der Hölle entrissen wurden und sich zum höchsten Himmel der Heiligkeit aufschwangen, daß der heilige Mann staunte, jubilierte und innig froh war.

»Es gibt in der ganzen Welt keinen glücklicheren Menschen als mich,« sagte er oft. »Was habe ich denn getan, daß Gott so gut zu mir sein sollte?«

Nun, Allua hatte die Hölle des Londoner Lebens durchlebt und war aus dem Pfuhl des tiefsten Abgrundes durch Gottes Gnade gerettet worden. Und Allua lag am Sterben. Das arme Kind hatte schreckliche Versuchungen durchmachen müssen, seit sie im sicheren Schutz des guten Hirten sich befand – Versuchungen von Umständen in ihrem Vorleben, Versuchungen von der anderen Welt – zuletzt Versuchungen zur Verzweiflung. Margaret, die fast immer um sie war, beschrieb diese Versuchungen als entsetzlich im höchsten Grade.

»Man kann alles beobachten, was die Heiligen gesagt haben,« bemerkte sie, »alles mit Ausnahme der Teufelsgestalten.«

Vater Tracey befand sich während dieser ereignisreichen Tage in großer Aufregung. Er bat um doppeltes Gebet, um tägliche Kommunion. Dann sandte er in seiner Angst und Demut zu Vater Meade. Und so sah denn die arme sterbende Büßerin zwei vertraute Priesterantlitze sich über sie beugen, worauf ein Augenblick höchster Ruhe folgte.

»Es ist jetzt alles vorbei, Vater. Aber es war so schrecklich, so lange es dauerte.«

Und dann schied die arme zitternde Seele in tiefem Frieden und ruhiger Verklärung von hinnen. Es war früh morgens, und Vater Tracey trat sofort an den Altar und las die heilige Messe. Dann durfte ihm Margaret sein bescheidenes Frühstück bringen; denn Margaret war sehr wohlgelitten. Es war ungemein unterhaltend, zu sehen, wie die junge Schwester kleine Leckerbissen auf des greisen Priesters Teller legte, die dieser ebenso sorgfältig beiseite schob. Manchmal hatte Margaret aber doch mit einer kleinen List Erfolg.

»Die meisten Leute essen das nicht, Vater. Sie sagen, es sei nicht gut. Ich möchte es auch nicht verspeisen.«

»Wirklich?« konnte dann der gute alte Mann antworten, während er den Leckerbissen verzehrte. Und dann mochte er ernst sein Haupt schütteln.

»Warum bürsten Sie denn Ihren Hut nie, Vater? Da, ich habe ihn jetzt etwas gereinigt. Wollen Sie uns nicht auch mal diesen alten Rock schicken, damit wir ihn färben? Heute Morgen sehen Sie schrecklich aus. Sie haben sich wieder nicht rasiert.«

Und Vater Tracey konnte dann erröten wie ein Mädchen und sich wegen seiner Nachlässigkeit entschuldigen.

»Sie wollen mich wohl zu solch einem noblen Herrn machen, wie Ihr Bruder einer ist, der wohl eines Tages noch unser Bischof wird. Ich armer alter Mann! Ja, die klugen jungen Leute! Die klugen jungen Leute!«

Und Margaret mochte dann wohl mit unter dem Skapulier gefalteten Händen beten, daß ihr vornehmer Bruder eines Tages auch so werden möchte, wie dieser arme, verachtete alte Priester. Aber diesen Morgen gab's große Beratung. Man hatte etwas Uebernatürliches gesehen oder gehört, drüben in der Krankenabteilung. Und Vater Tracey weinte vor Freude und Entzücken, und Margarete weinte mit ihm.

»Ich kann es nicht glauben,« rief Vater Tracey, während er seinen Tee trank. »Es ist zu groß – doch, nein, Gott verzeihe mir, wie soll dem Vater aller Wunder und Gnaden etwas zu groß sein?«

»Es ist vollkommen wahr,« sagte Margaret. »Ich sah es selber erst, als Sie uns baten, für die arme Allua in ihrem Todeskampfe zu beten. Dann ging ich gleich zu der Mutter Provinzialin und erzählte ihr's. Sie verbot mir, mit irgend jemand, außer mit Ihnen, darüber zu sprechen. Sie werden aber das Geheimnis wohl nicht bewahren können, Männer können so etwas nie, wissen Sie.«

»Ich wünschte,« rief der alte Mann in seiner Seligkeit, »ich könnte es von allen Dachzinnen und den Bergen herab rufen und alle Menschen auffordern, zu beten und Gott zu preisen. Aber um die Wahrheit zu sagen, meine Liebe, ich war wirklich überrascht, daß unser Gebet so rasch erhört wurde. Gott gewährt nicht immer so schnell.«

Er schwieg einen Augenblick.

»Und Sie sagen mir bestimmt –?«

»Bestimmt! Zweifeln Sie schon wieder?«

»Nein! Aber –«

»Ich sage Ihnen, es ist vollkommen wahr. Und unsere gute Mutter wußte es schon lange, sagte aber kein Wort. Sie ist so klug. Ich sah sie aber ein- oder zweimal, wenn sie glaubte, niemand beobachte sie, wie sie auf ihre Knie niederfiel und den Boden küßte!«

»Gott segne Sie!« sagte der alte Priester. Dann ging er in die Krankenabteilung hinüber. Die Leiche lag so ruhig und schön da in der Verklärung des Todes! Sie trug noch immer das Büßerinnengewand; ihr Rosenkranz war um ihre Finger geschlungen, die ein Kruzifix umfaßten; und einige Blumen waren da und dort an ihr Gewand geheftet. Aber das Gesicht! – Es war wieder das Antlitz eines kleinen Kindes, das der Meißel des Todes in überirdischer Schönheit hatte erstehen lassen. Und jedem Beschauer schien er zuzurufen: »Siehe, wie ich schön machen kann, bevor ich zerstöre! So wird auch die Auferstehung nach dem Untergange folgen.«

Vater Meade kam nach der heiligen Messe und dem Frühstück auch herauf. Er wußte noch nichts von dem großen Geheimnis.

»Es ist ein wundervoller Anblick, Wilhelm,« sagte Vater Tracey. »Gott wird Sie segnen für die schöne Seele, die Sie ihm wiedergewonnen haben.«

Aber Vater Meade beugte sich nun nieder, segnete die Stirn des kleinen Kindes und flüsterte: »Lebe wohl, Allua!«

Und als Margaret den alten Hausgeistlichen zur Türe begleitete und ihm verschiedene Vorstellungen über seinen Rock und seinen braunen Hut machte, da schien er es nicht zu beachten, sondern hielt nur immer wieder an und stieß seinen Stock auf den Boden. Dann fragte er wieder, als ob er es noch nie gehört hätte: »Gott steh mir bei! Haben Sie mir wirklich gesagt –?«

»Aber natürlich! Lieber Vater, was sind Sie doch für ein Ungläubiger!«

»Und ich darf nicht tun, als ob ich nichts wüßte?«

»Nein! Sie müssen tun, als ob Sie etwas gesehen hätten, und Augen und Mund schließen!«

»Gott steh mir bei! Das wird schwer fallen. Und Sie können mir wirklich versichern? Und die ehrwürdige Mutter wußte es schon immer?«

»Aber jetzt! Gott befohlen! Wenn Sie irgendwo verraten, daß Sie etwas wissen, wird man Sie versetzen, und was sollen dann Ihre Heiligen anfangen?«

»Gott steh mir bei! Ist's wirklich so? Schon recht, ihr sollt sehen, daß ich mit keinem Auge zwinkere.«

Aber die Verstellung gelang ihm nur schwer. Jeder, der ihn kannte, wußte, daß etwas los war. Und einige besonders Schlaue, die seine entzückten Mienen beobachteten, meinten zu einander: »Er hat etwas gesehen. Sollte es die allerseligste Jungfrau sein?«

Margaret kehrte gedankenvoll zu ihrer Zelle zurück. Einige Sonntage später aber schrieb sie ihrem vornehmen Bruder einen Brief. Der machte eben auch manch neue und seltsame Erfahrungen durch.

»Ich sehe wohl die Sonderbarkeit, aber nicht die Heiligkeit dieses alten Herrn,« dachte Lukas, als die beiden Geistlichen nach dem Mittagessen noch bei einander saßen und plauderten. Der alte Herr hatte einer ehrwürdigen, seit dreißig Jahren befolgten Sitte gemäß zwei Gläser Punsch bereitet und eines seinem Kaplan hingeschoben.

»Sie bekommen nur eines, junger Mann,« bemerkte er dabei, »aber das ist ein ordentliches.«

»Ich trinke nie so etwas,« erklärte Lukas, verächtlich die Nase hochziehend.

»O!« rief der alte Herr erstaunt.

»Da, Jer,« sagte die Haushälterin, als die Gläser abgetragen wurden. Jer war der Knecht, der an der Hecke geraucht hatte und der sich zur Mittagszeit stets in der Nähe der Küche aufhielt. »Das ist dein Glück, wenn du es auch nicht verdient hast.«

»Ellie, magst du etwas Suppe?« fragte Jerry großmütig. Aber Ellie warf ihm nur einen verächtlichen Blick zu.

»Ihre Gesundheit, Fräulein!« rief Jerry und fügte in seinem Herzen bei: »Möge der Herr unserm Kaplan beistehen, daß er sein Versprechen sein ganzes Leben lang hält.«

Das ging drei Abende so fort. Am vierten aber ereignete sich etwas Seltsames. Der gute alte Pfarrer, der ein Sklave der Gewohnheit war, beachtete Lukas' Zurückweisung am ersten Abend nicht weiter und fuhr die folgenden Abende fort, ein zweites Glas zurecht zu machen.

»Kann ich eine Tasse Kaffee haben, Sir?« fragte Lukas.

»Kaffee? Nein, junger Mann, das können Sie nicht! Ein solches Zeug hat man noch nie in diesem Hause gemacht. Sie können Tee zum Frühstück haben und ein Glas guten Punsch zum Diner. Das ist alles!«

»Danke!« gab Lukas kurz zurück.

Am vierten Abend braute der alte Herr wieder die zwei Gläser Punsch, wie er es schon dreißig Jahre lang getan hatte, und schob eines Lukas hin. Der hielt das für eine Beleidigung, nahm das dampfende Glas, ging zum Fenster, riß es auf und goß das Getränk auf den Rasen hinaus. Dann schloß er das Fenster wieder, stellte das leere Glas vor sich auf den Tisch und setzte sich dann. Der alte Herr sagte kein Wort.

An jedem dieser einsamen Winterabende versammelten sich alle Hausbewohner pünktlich um acht Uhr zum gemeinsamen Rosenkranzgebet. Danach wurden alle Lichter ausgelöscht. Lukas zog sich in sein Schlafzimmer zurück, mit welchen Gedanken und Erinnerungen, läßt sich denken. Die Vergangenheit mit allen ihren geistigen Genüssen verfolgte ihn; die Zukunft mit ihrer schrecklichen Aussicht erschreckte ihn. Sollte das sein Leben sein? Traurige Tage voller Müßiggang und nutzloser Versuche, ein hilfloses und entmutigtes Volk aufzurichten, und schreckliche Abende, wo er sich selbst nicht entfliehen konnte, sondern seine Gedanken ertragen mußte, die an Verzweiflung grenzten, lagen vor ihm. Er ließ es zwar an tapferen Versuchen nicht fehlen. Jugend und Hoffnung standen ihm ja zur Seite, und sodann gab's auch kein Zurück. Er hatte seine Schiffe verbrannt. Und konnte er denn nicht schließlich tun, was der Kanonikus in und um Lisnalee getan hatte? Dort war Arkadien, hier Sibirien! Nun, tapfer ist die Seele, die sich unverzagt auch der hoffnungslosen Aufgabe unterzieht. Er wollte es wenigstens versuchen.

»Ich will Ihre Gefühle nicht verletzen, Conor,« sagte er eines Tages zu einem Pfarrkinde; »aber wissen Sie nicht, daß dieser faulende Misthaufen ein Typhus- und Diphtherienest ist? Die stinkenden Miasmen vergiften die ganze Atmosphäre und bringen lauter Krankheiten ins Haus.«

»Ich glaube das auch, Hochwürden; aber, Begor, seit drei Menschenaltern ist in meinem Hause noch niemand an etwas anderem als an Altersschwäche gestorben.«

»Das ist wohl nur ein Ausnahmefall. Aber, abgesehen von der sanitären Seite, glauben Sie nicht, daß ein paar Blumenbeete sich besser hier ausnehmen würden, als diese Mistanhäufung?«

»Gewiß, Hochwürden, aber wir müßten sie teuer bezahlen.«

»Ganz und gar nicht! Im Frühling ein paar Levkojen und einige Büschel Schlüsselblumen – die finden Sie ja überall zu Tausenden im Frühjahr – und im Sommer ein paar gewöhnliche Geranien, das würde Sie keinen Schilling kosten. Nun, Lizzie, stimmen Sie mir nicht bei?«

»Gewiß, Vater!« beeilte sich die zu sagen.

»Ich ebenfalls, Hochwürden; es ist auch nicht die Ausgabe für die Blumen, an die ich denke, sondern die Erhöhung des Pachtzinses. Jede Schlüsselblume würde mich einen Schilling kosten, und –«

»Ich glaube, das gibt's jetzt nicht mehr?« meinte Lukas.

Der arme Mann schüttelte den Kopf.

»Ich getraue mich nicht, Hochwürden. Die Agenten und Schätzer würden es mich schwer entgelten lassen, wenn sie irgend ein Anzeichen der Besserung an meinem Besitztum entdeckten.«

»Gütiger Himmel!« rief Lukas. »Dann liegt es also in Ihrem Interesse, alles so schlecht wie möglich zu bewirtschaften, statt Haus, Feld und Garten auf einen besseren Stand zu bringen?«

»Wie Sie sagen, Hochwürden!« entgegnete Conor.

Diese Erfahrung beugte Lukas tief darnieder. Im Anfang pflegte er auch ärgerlich aufzufahren, wenn ein armer Bauer wegen eines Versehganges oder wegen sonst etwas zu ihm kam.

»Setzen Sie Ihren Hut auf! Sehen Sie nicht, daß es regnet?«

»Jawohl, Ew. Gnaden!«

»Verschonen Sie mich mit diesem Teufelswort. Nennen Sie Ihren Priester doch ›Vater!‹«

»Jawohl, Ew. Gnaden!«

»Nun horchen Sie aber mal, mein lieber Mann! Halten Sie Ihren Kopf in die Höhe, schauen Sie mir gerade ins Gesicht und heißen Sie mich ›Vater‹!«

»Jawohl, Ew. Gnaden!«

Dann konnte Lukas wohl aufbrausen und von Unabhängigkeit und Mannhaftigkeit reden, und daß man nur Gott fürchten solle und nicht die Menschen. Dabei führte er das Vorbild unseres Herrn an und sein festes, ehrerbietiges und würdiges Benehmen vor Herodes und Pilatus. Dann konnte er plötzlich wieder aufhören in der Ueberzeugung, daß es ja doch nichts nütze. Und wenn er dann während des kalten, rauhen Winters die armen Bauern mit gebeugtem Nacken und vom scharfen Wind zerrissenen Gesichtern den harten, zähen Boden pflügen sah, da dachte er wohl voll Bitterkeit, daß der arme Landmann sich nicht für seine Familie drüben in seiner armseligen Hütte, wo es nur Brot und Kartoffeln gab, abmühte, sondern für den Agenten, damit der seinen Schnaps und seine Zigarren hatte, und für zwei alte Damen in Dublin, damit die ihre Schoßhunde mit Fleisch füttern konnten; und für einen Advokaten wieder über diesen, damit der seinen Sohn in Trinity-College studieren lassen konnte; und schließlich, auf der höchsten Sprosse des grausamen Systems, für den Lord, damit der Rennpferde für das Derby- und St. Cloud-Rennen halten und seiner bevorzugten Diva an der Oper einen Brillantschmuck schenken konnte. Und er gedachte mit Schaudern, er höre hier in dem friedlichen irischen Tale das Mahlen und Rollen der furchtbaren Maschine des englischen Gesetzes. Ist es möglich, fragte er sich, daß das schreckliche Ding seine Fühler und Zähne und Griffe in seiner unerbittlichen Unbewußtheit auch hier ausgestreckt hat? Hatte aber nicht der große Kanonikus alle diese Schwierigkeiten überwunden, und sich sein kleines Paradies geschaffen? Wie hatte er das nur fertig gebracht? Und Lukas stand vor einem Rätsel.

Aber auch noch ein anderer Umstand verursachte ihm Kopfzerbrechen. Es war die seltsame, wunderliche Sprache dieses eigenartigen Volkes. Sie betrachteten augenscheinlich diese Welt und das ganze menschliche Leben als etwas recht Gleichgültiges.

»Wischa, Hochwürden, das ist gut genug für das bißchen Zeit, das wir hier sind. Heute ist's da, und morgen nimmt's uns der Tod.«

»Warum sollten wir uns sorgen, Hochwürden, um den armseligen, schmutzigen Leib? Er ist immer noch gut genug für die Würmer.«

»Ich gehe jetzt in meine ewige Heimat, Hochwürden; und 's ist Zeit dazu. Wenn wir hier nicht viel gehabt haben, so werden wir um so mehr im andern Leben bekommen.«

Lukas hörte solche Aussprüche nur ungern. Das klang ja der heiligen Schrift so entsetzlich ähnlich: »Sorget nicht für den kommenden Tag«; »Sehet die Lilien auf dem Felde«; »Suchet zuerst das Reich Gottes« usw. Das war alles so schrecklich rückschrittlich. Und diese seltsamen irischen Bauern glichen fürchterlich den einfachen Fischern in der Bibel; und ihre Lebensphilosophie war aufs Haar dieselbe, die am See von Genezareth gepredigt worden war und die alle Menschen als göttlich bezeichnet haben. Aber wo blieb denn dann die Philosophie des »Salons« und die köstliche Humanitätslehre Amiel Lefevrils? Suchten sie auch das Göttliche im Menschen, seine Bauern? Diese schlichten Leute hielten es jedenfalls gar nicht für möglich – dieses seltsame Suchen der Aufgeklärten. An einem dieser Wintertage war's auch, daß Lukas seiner Schwester Brief erhielt. Er lautete:

Lieber Lukas!

Ich schreibe dir, um dich um dein Gebet und, wenn es nicht zu viel verlangt ist, um ein Gedenken am Altare für die arme Büßerin zu bitten, die Vater Meade von England gebracht hat. O Lukas, solch ein Tod! Schrecken über Schrecken im Anfang, und dann eine solche Heiterkeit und Ruhe! Es war ein Wunder, und wir konnten es nicht verstehen. Aber ich sah etwas, das alles erklärte. Noch ist es ein großes Geheimnis, das ich nicht ausplaudern darf. Vater Tracey (er ist der beste, liebste alte Priester, den es je gegeben) weiß es auch und ist verzückt darüber. Aber wir müssen schweigen. Und Gott ist groß! Später darf ich vielleicht.

Willst du nicht bald einmal in die Heimat gehen? Gelt ja, lieber Lukas, die Eltern sehnen sich so nach dir! Dein Posten gefällt dir hoffentlich recht gut. Gewinne ihm wenigstens die guten Seiten ab! Es geht ja bald vorüber, und wenn du guten Willens bist und dich der Armen annimmst, wirst du dich stets glücklich fühlen. Das verleiht ja dem Leben ewigen Frühling und Sonnenschein. Ich möchte dir etwas anraten. Du wirst zwar sagen, das ist nicht englisch. Das macht aber nichts. Das ist: Lieber Lukas, sei demütig; sei tief demütig! Wir müssen es alle sein. Ich wollte, ich könnte dir das große Geheimnis verraten. Eines Tages vielleicht.

Die ehrwürdige Mutter wird mein Gekritzel wohl nicht passieren lassen.

Deine Dich liebende Schwester
Eulalie.

»Echt klösterlich!« dachte Lukas. »Ein Quentchen gesunder Menschenverstand ist aber doch darunter. Ich muß wirklich die Heimat wiedersehen, wenn auch nur, um Vater Martins Rat zu erbitten, wie ich von diesem unseligen Orte loskomme.« –

Vater Martin teilte aber ganz und gar nicht Lukas' Anschauung.

»Ich sehe keinen Grund, warum du nicht dasselbe tun solltest, was all die trefflichen Priester der Diözese vor dir getan haben,« sagte er. »Sie alle haben in der gleichen Weise angefangen und schienen meist daran ihre Freude zu finden, was dich zur Verzweiflung bringt. Glaubst du denn, das Leben eines Priesters solle nur ein einziger langer Festtag voller gesellschaftlicher und geistiger Genüsse sein?«

»Nein, das meine ich nicht! Wenn ich nur arbeiten, arbeiten, arbeiten könnte, von früh bis spät, so würde ich nichts sagen. Aber diese erzwungene Faulenzerei und die tägliche Berührung mit allem, was schmutzig und hoffnungslos ist, das ist mehr, als ein Mann aushalten kann.«

»Nun, der Geschmack ist verschieden. Vater Cussen behauptet, er fühle sich immer unsäglich glücklich, außer wenn er an England denke. Er kann Gott nicht genug danken, daß er im heiligen Irland wirken darf, unter einem so liebenden Volke.«

»Das begreife ich nicht,« erwiderte Lukas verzweiflungsvoll. »Ueberall ist es England und wieder England, wenn wir uns selbst tadeln müssen.«

»Meinst du?« fragte Vater Martin und schaute ihm fest ins Auge.

»Nun ja, die Fehler finden sich natürlich auf beiden Seiten. So finde auch ich das englische System, den Grund und Boden auszubeuten, abscheulich.«

»Darüber wollen wir besser schweigen. Liest du viel?«

»Nein! wie sollte ich auch? Alle meine Bücher sind noch in ihren Kisten verpackt. Ich wage sie nicht herauszunehmen.«

»Warum?«

»Warum? Erstens, weil ich auf dem Posten nicht bleiben will. Zweitens, weil ich keinen Platz habe, sie aufzustellen. Drittens, weil die Weiber dort sie mir ruinieren würden. Viertens, weil es keinen Zweck hat, in einem solchen Lande seine Studien fortzusetzen.«

»Ah bah! Du hast viel zu lernen und zu verlernen, was in keinem Buche steht.«

»Ich habe gelernt, daß das Leben auf jeden Fall elend ist. Das genügt.«

»Ein Priester sollte sich nie beklagen. Er ist ein Soldat. Der Vorpostendienst ist nicht sehr angenehm; aber er ist nun einmal Dienst. Die Kirche ist nicht für die Priester da, wohl aber die Priester für die Kirche.«

»Das habe ich jetzt schon zum Ueberdruß oft gehört. Und doch ist jeder bestrebt, die Kopfkissen unter seinen Nacken zu bekommen.«

»Nicht jeder. In unserer wie in anderen Diözesen gibt es Scharen von Priestern, junge und alte, die glücklich sind, Gott unter schlimmeren Verhältnissen, wie die deinigen es sind, dienen zu können: Männer des Schweigens, deren ganzes Leben ein einziges großes Opfer ist.«

»Ohne einen Schimmer geistigen Genusses?«

»Nur mit der Befriedigung, die wohl erfüllte Pflicht verleiht; und nur mit der Gesellschaft, die sie selbst einander leisten können.«

»Ein recht zweifelhaftes Vergnügen! Lieber Einsamkeit, als eine Unterhaltung, wie man sie da oft findet. Doch will ich nicht sagen,« fuhr Lukas fort, als er eine Unmutsfalte auf seines Freundes Stirn gewahrte, »daß nicht auch das Leben hier zu Lande seine guten Seiten hat. Man empfindet so ein unbestimmtes Freiheitsgefühl und eine gewisse Unabhängigkeit von Geldsachen, wie man sie in England nicht hat. Sodann bietet mir die Natur hier viel. Ich habe Farbentöne im Moor und auf den Berghöhen beobachtet, die einen Künstler groß machen würden, wenn er sie auf die Leinwand zaubern könnte. Und dann sind die kleinen Kinder hier so anziehend! Das erste, was dem Engländer in Irland auffällt, das sind die Kinderaugen, die vergißmeinnichtblauesten Augen!«

»Ums Himmels willen, Lukas, sage das aber nie vor unsern Mitbrüdern! Da würde was Schönes daraus entstehen!«

»Ich gehe halt eben meinen eigenen Weg. Wenn ich irgend etwas besonders verabscheue, so ist es das ewige Nachgeben menschlichen Rücksichten gegenüber.«

»Du magst recht haben; aber das Leben braucht eben seine kleinen Kompromisse, ich wollte sagen, seine kleinen Listen.«

Lange und nachdenklich saß Vater Martin diesen Abend in seiner Bibliothek, immer in Gedanken an seinen Freund. Wenige hätten wohl zu ihm gesprochen, wie er getan. Aber er liebte Lukas und wollte dessen Gefühle nicht schonen.

»Der Bischof muß ihn in die Stadt versetzen,« sagte er endlich zu sich selber. »Der totale Umschwung in seinen Verhältnissen ist zu viel für ihn.«

Dann fiel sein Auge auf die Photographien.

»Ich hätte nie geglaubt, daß es so leicht sei, den Jungen Aergernis zu geben,« sagte er vor sich hin. »Ich weiß nicht, in welchem Anfall teuflischer Lieblosigkeit ich diese Photographie hier aufstellte?«

Er nahm den Rahmen herab und öffnete ihn hinten. Er nahm dann das Bild, das die »eingebildete Hohlheit« vorstellte, heraus und legte es in ein Album. Die übrigen Photographien wog er lange in seiner Hand hin und her. Schließlich warf er sie eine nach der andern in den Ofen.

»Satan oder das Selbst, was das gleiche ist, schaut durch ihre Augen,« murmelte er. »Das Kruzifix genügt für einen alten Mann.«

Und Lukas kehrte in sein einsames Zimmer zurück und saß an den langen, ermüdenden Winterabenden auf dem rauhen Holzstuhl und betrachtete die rauhe, eiserne Lagerstätte und die dicke, rote Matratze, und den bemalten Waschtisch mit dem zerbrochenen Kruge; er horchte auf das schwere Atmen seines guten Pfarrers im anstoßenden Zimmer und dachte und dachte in einem fort an die schöne Vergangenheit, die so rasch dahingeschwunden war, und war begierig, durch welches enge Schlupfloch er der unerträglichen Gegenwart und der hoffnungslosen Zukunft entkommen würde.

Zur selben Zeit kniete drinnen in einem ärmlichen Zimmer in der Stadt ein greiser Priester, dankte Gott für all das unermeßliche Glück, das ihm beschieden, und flehte zum bleichen Antlitz des Gekreuzigten empor: »Herr, Herr, womit habe ich all das nur verdient? Halte ein, o halte ein mit diesem Strome des Entzückens, oder ich sterbe sonst.«

Und wenn er um Mitternacht von seinem elenden Strohlager aufgescheucht wurde, dann zog er seine schmutzigen Kleider an und murmelte: »Welche arme Seele braucht mich jetzt wohl?« Und wenn er unter der Führung des Nachtwärters an den düsteren Abteilungen vorüberschritt, wo arme kranke Menschenkinder litten und mancher schlaflose Patient sein heiliges Antlitz erkannte und murmelte: »Gott segne Sie!« und wenn er dann an die Lagerstätte des Sterbenden kam und den glücklichen Blick in dem sehnsüchtigen, begierigen Gesichte aufleuchten sah, das sich jetzt ruhig dem Tode zuwandte, denn hier war ja der Mann, der den König der Schrecken in einen Engel des Lichtes verwandeln konnte, – da murmelte er, während er die Pyxis öffnete und vor dem göttlichen Arzte der Menschheit niederkniete:

»O Herr! O Herr! Wie wunderbar bist du! Und wie großmütig! Und welch schreckliches Fegefeuer werde ich einst durchzumachen haben für den Himmel, den du mir schon hienieden gegeben hast!«


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