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Ein hoher, ungestümer und wandelbarer Geist wie Lukas mußte unter dem Zwange der Verhältnisse wohl oder übel die Anker lichten und mit der Strömung dahintreiben. In dem Maße, als seine edle Veranlagung sich mehr und mehr zeigte, schwang er sich über alle seine Mitbrüder empor, sowohl was die Vortrefflichkeit und den Erfolg seiner Wirksamkeit, als auch was seine fraglose geistige Ueberlegenheit anlangte. Der hochwürdige Herr Lukas Delmege begann allmählich die Blicke auf sich zu ziehen. Sein Bischof, der von Rom und dann von einer langen Visitationsreise zurückgekehrt war, schien ihn zwar nicht besonders zu bemerken, was Lukas in seinem wachsenden Stolze dem nationalen Vorurteil zuschrieb.
Einmal fragte ihn der Bischof: »Delmege, Sie sind nicht so lebhaft wie die meisten Ihrer Landsleute. Gefällt Ihnen Ihre Umgebung denn nicht?«
Da beteuerte Lukas, daß er sich glücklich, sehr glücklich fühle und keinen Wechsel seines Postens wünsche.
Einmal rief ihm auch der alte Generalvikar in seiner rauhen, aber gutmütigen Art zu:
»Da steht ja schon wieder Ihr Name, Delmege! Das ist schlimm für einen jungen Mann, wenn ihn die Zeitungen so oft erwähnen. Sie nehmen ja bald so viel Platz darin ein wie Madame Seigels Syrup.«
Doch die jüngeren Leute urteilen anders. Sein Name war über die Themse gedrungen. Man hatte ihn eingeladen, in Commercial Road zu predigen; man hatte ihn gebeten, den Arbeitern im Arbeitshaus in Holborn Vorträge zu halten. Seine Tätigkeit in der Schule erregte die Bewunderung der Vorgesetzten, und der Diözesaninspektor erbat ihn sich zum Gehilfen.
All diese äußere Tätigkeit übte aber allmählich einen tiefgehenden Einfluß auf Lukas' Charakter aus. Seine Seele darbte und hungerte. Alle Kräfte seines Wesens gingen in eifriger Arbeit auf. Er fühlte nicht, daß es reiner Materialismus war, wenn die Seele fehlte. Anfangs heiligte er seine Arbeit und gab ihr eine Seele. Als aber die Eitelkeit die Oberhand gewann und der Menschen Lob ihn umrauschte, da ließ er sich nicht mehr halten. Arbeit, Arbeit, Arbeit, das war seine Parole! Lebendige, persönliche Liebe zu seinem göttlichen Meister heiligte seine ersten Bemühungen; doch nach und nach ging dieses Gefühl über der Sache verloren. Aber diese Sache war nichts Persönliches, obwohl er sie »die Kirche« nannte. Wenn er sie mit ihrem göttlichen Bräutigam identifiziert hätte, wäre ja alles gut gewesen. Aber nein! Die Ehre der Kirche, die Ausbreitung der Kirche, der Ruhm der Kirche – Worte, die immer von seinen Lippen flossen, und die so heilig und ehrwürdig sind – gaben seinen Handlungen weder Sinn noch Leben. Er wäre tief beleidigt gewesen, wenn ihm jemand gesagt hätte, er sei zu einer Art Religion herabgesunken, die sich gewöhnlich unter heiliger Hülle berge – nämlich zum Egoismus. Sagten nicht die alten Mönche: Laborare est orare? Feuerten nicht Stanley in Christ Church und Jowett in Balliol die erschlaffende Energie der Oxforder Studenten damit an, daß sie die Arbeit als einen Gottesdienst priesen? Ja, arbeiten, arbeiten, arbeiten, denn das ist das Gesetz des Universums, das Gesetz des Lebens und Todes, der Sterne und Blumen! In der Arbeit ist man vereint mit der Natur und gehorcht ihren heiligen Gesetzen, nur durch Arbeit erringt man wahres Glück! Wenn jetzt jemand Lukas, der in den höchsten Höhen der Eingebung zu schweben vermeinte, einfach gesagt hätte: »Komm mit mir und ruhe dich aus!«, er hätte diese Zumutung als eine Versuchung zum Mißbrauch der höchsten Instinkte und zum Verrat an den heiligsten Interessen zurückgewiesen.
Es war ein Glück für Lukas, daß er inmitten der unvermeidlichen Eifersüchteleien, die sein öffentliches Auftreten hervorrief, gerade noch genug Seelenstärke besaß, um stetig seines Weges zu gehen, wenn auch nicht ohne Vorurteile und Störungen. Er besaß noch nicht Erfahrung genug, um auf die Tafeln seiner Seele den paulinischen Daseinsinhalt zu schreiben – intus timores; aber seinem Leben fehlten die äußerlichen Beschränkungen und Unannehmlichkeiten, die der Apostel – die foris pugnae nennt, durchaus nicht. Unfeine und ungünstige Kritiken, kleine Anspielungen über mögliche Unklugheiten in öffentlichen Aeußerungen, unbestimmte Andeutungen über geheime Häresie, das vollständige Unterdrücken manches schönen öffentlichen Vortrags – das waren so die Nachteile einer bewegten und äußerst hoffnungsvollen Laufbahn. In den Augenblicken des Zweifels und der Niedergeschlagenheit, die darauf folgten – und sie waren nicht selten –, konnte er dann vergangener Zeiten gedenken, des frugalen Mahles der »Unzertrennlichen«, der Späße Vater Tims und der Güte Vater Pats; und manchmal kam dann über die unda irremeabilis ein dünnes Brieflein aus dem Landhause über der See in Lisnalee herübergeflogen, oder aus der Bibliothek Vater Martins – ein hoffnungsvolles, lustiges, heiteres Brieflein, das hereingeflogen kam, wie ein Schmetterling aus Frühlingsauen hereingaukelt und sich in die Schrecken einer Fabrik in Lancashire verliert, oder wie ein Kind eine Blume in die Finger einer gefühllosen Bronzestatue legt. Sodann hatte Lukas auch einen Freund. Und es bedarf weder der Bestätigung der hl. Schrift noch der ausführlichen Erläuterungen Shakespeares, dieses großen Auslegers, um sicher zu sein, daß die beste Gabe der Götter an den Menschen ein treuer und aufrichtiger Freund ist. Und Lukas' Freund fürchtete sich nicht, die Wahrheit zu sagen.
Mit diesem Freund wandelte Lukas eines Tages an den Ufern des Serpentine im Hydepark.
»Das ist mir der liebste Ort zum Sinnen und Träumen,« begann der Freund; »hier ist man ganz allein, so allein, wie Werther mit seinen Sternen. Man trifft niemand, der einen stören kann; die kleinen Kinder sind zu unbefangen. Und die anderen Elemente der Zivilisation hier im Herzen der Welt sind zu sehr miteinander beschäftigt, um einen zu beachten. Ich bin allein mit den Sternen. Nun, Delmege, alter Junge, können Sie eine Operation ertragen? Denn ich will etwas tun, das mein Urteil das törichtste und undankbarste Ding auf Erden nennt, – ich will einem Freund einen Zahn ausreißen. Dieser Zahn ist zwar krank und schmerzt. Aber der Mensch ist nun mal ein undankbares Geschöpf. Sie werden zwar nicht zuschlagen, aber versprechen Sie mir, nicht zu schimpfen. Ich kann das nicht ertragen.«
»Schon recht, lassen Sie nur los! Ich bin es schon gewohnt. Jedes alte Weib daheim wollte eine Minerva sein und jeder alte Schwachkopf ein Mentor. Und hier ist's noch schlimmer. Mir ist ganz klar, daß mich die Welt für einen kompletten Narren hält.«
»Verstehen Sie mich doch recht,« entgegnete der aufrichtige Freund, »das ist ja alles vollkommen wahr –«
»Ich bitte um Verzeihung,« bemerkte Lukas steif.
»O! Ich meine – Sie wissen – es mag vollkommen wahr sein, daß – – mein Rat, der sehr gut gemeint ist – – Sie wissen – – nicht immer das Richtige trifft – – sehen Sie nur diese unverschämte Person mit ihrem Soldaten!«
»Ich meinte, Sie seien allein mit den Sternen,« sagte Lukas. Sein Freund fand dadurch sein seelisches Gleichgewicht wieder.
»Sehen Sie, Delmege, mir scheint, Sie hätten zweierlei Laufbahnen vor sich. Auf der einen Seite ein Leben voller Nützlichkeit und Arbeit, ein verborgenes, ruhiges Dasein ohne Stürme und ohne Triumphe, und danach einen überreichen Lohn; auf der andern Seite ein Leben voll blendenden Glanzes und Schimmers, Donner und Blitz, Orden und Ehrenstellungen, und danach –«
»Ich verstehe schon,« erwiderte Lukas. »Sie meinen, ich solle den ruhmloseren, aber sicheren Pfad wählen?«
»Vielleicht,« gab der Freund zweifelnd zurück.
»Nun, so lassen Sie mich Ihnen sagen, ein für allemal, daß ich mit voller Ueberlegung den andern gewählt habe! Nicht, weil er mehr Ehren und Einkünfte bietet, ich verachte das, sondern weil die Kirche das nötig hat. Die Kirche der Gegenwart ist nicht die der Katakomben, sondern die Konstantins des Großen!«
»Das ist wahr und doch wieder falsch. Trotzdem will ich es zugeben und sogar annehmen, daß Sie mit Ihrem Entschlusse recht haben; das aber sehe ich nicht ein –«
»Was sehen Sie nicht ein?«
»Daß die Kirche sehr hervorragende Männer brauche, oder daß die Welt solche sehr nötig hätte.«
»Die Welt betrachtet die Kirche als einen Maulwurfshügel,« entgegnete Lukas; »als ein unterirdisches, geheimes System, das alle Staaten und Länder der Erde unterwühlt, dessen Anhänger blind sind oder sich dem Tageslichte verschließen und nur gerade noch so viel sehen, um alle Einrichtungen der Zivilisation untergraben und unterminieren zu können.«
»Aus welcher ungläubigen Zeitschrift haben Sie denn diese Rodomontade aufgelesen?« fragte der Freund.
»Behalten Sie doch Ihre Fassung, solange der Zahn noch nicht gezogen ist!«
»Ganz richtig. Aber jetzt an die Operation! Sie gehen zu scharf ins Zeug und werden sich noch zum Gespötte machen. Alle diese Zeitungstitulaturen, wie: hervorragender Polemiker, glänzender Redner usw., sind gerade genug, um einen Kopf zu verdrehen, der nicht ganz fest sitzt. Und Sie, Sie wissen ja –«
»Weiter, weiter!« sagte Lukas nervös.
»Ich verletze Sie,« entgegnete der Freund.
»O, ganz und gar nicht! Im Gegenteil, ich habe das gern. Es klingt so freimütig, wissen Sie. Sie sagten eben etwas über meinen Kopf –«
»Ich sehe, ich verletze Sie. Vielleicht gelingt's mir aber anders. Fühlten Sie nie den Impuls, auf Ihre Knie zu sinken und den Rocksaum eines armen, ungelehrten, schwachgeistigen alten Priesters zu küssen, der gerade noch so viel Latein verstand, um sein Brevier lesen zu können, der aber mit unbewußter Erhabenheit das Werk seines Meisters tat?«
Lukas konnte nicht sofort antworten. Das waren ja fast seine eigenen Worte, die er voll Begeisterung vor nicht ganz zwei Jahren gesprochen!
»Ja, einmal,« sagte er dann leise; »aber da besaß ich noch keine Erfahrung.«
»Haben Sie je schon,« fuhr der Freund, Lukas' Worte überhörend, wieder fort, »die unwiderstehliche Neigung gefühlt, hinter das große, geistige Wunder zu kommen, wie ein Mann, dem die ganze Welt zu Füßen zu liegen scheint, plötzlich in einem glorreichen Akte allem entsagt?«
»Niemals!« erklärte Lukas mit Nachdruck. »Ich halte das für kleinlich und engherzig.«
»Aber ich tat es,« erwiderte trocken der Freund.
»Sehen Sie, Sheldon,« nahm Lukas wieder das Wort, »lassen Sie mich ein- für allemal Ihnen darlegen, daß meiner Ueberzeugung nach die unnatürliche Verzögerung in der Bekehrung Englands vornehmlich in folgender Ursache ihren Grund hat: Ihr Engländer seid so engherzig, konservativ und kleinlich in euren Ansichten, daß ihr euch nie an den allgemeinen Geist der Zeit wendet. Ihr versteht den Zeitgeist nicht. Die ganze Richtung menschlichen Denkens läuft darauf hinaus, die Offenbarung mit der Vernunft zu versöhnen und aus dieser Harmonie heraus eine neue Aera menschlichen Glückes zu entwickeln. In dieser Renaissance gilt es nun, den richtigen Platz einzunehmen. Wir dürfen nicht dazu schweigen. Das heißt, wir müssen kühn und selbstbewußt mitreden und natürliche wie übernatürliche Offenbarungen in freiem, weitem Sinne erklären – oder ganz und gar schweigen. ›Falls er nicht schweigt!‹«
»Gütiger Gott! wo haben Sie denn dieses fürchterliche Zeug wieder aufgelesen? Ich frage Sie im Namen des gesunden Menschenverstandes: was lesen Sie denn eigentlich?«
»Etwas, das Sie nicht lesen, mein Lieber! Da liegt eben der Nachteil. Deshalb können wir auch nicht miteinander streiten. Wir bewegen uns eben auf ganz verschiedenen Gedankenbahnen. Uebrigens, kommen Sie morgen zu L. zum Diner?«
Vater Sheldon entgegnete nichts. Es war ihm nicht gelungen, den Zahn zu ziehen.
»Der arme Bursche,« sagte er, als er wieder allein war, »er ist auf dem schlimmsten Abwege, wenn er auch glaubt, geradewegs aufwärts zu fliegen. Diese Hast am Morgen bei der Messe und das Beten des Rosenkranzes statt des Breviers sind schlechte Zeichen! Nun, wenigstens stehen die Exerzitien bevor. Gott sei Dank! Darnach – wer weiß?«
Die Exerzitien kamen, und die Exerzitien gingen vorüber; und Lukas war der alte – nur schlimmer noch. Der Exerzitienmeister war ein hervorragender Mann, und daher für Lukas ein Mißgriff. Lukas war entzückt – und verloren. »Er hatte noch niemals eine solche Beherrschung der Sprache wahrgenommen«; »er hatte bis jetzt noch nie gewußt, wie man die Religion in die Regionen des Transzendentalismus emporheben konnte«; »wie die Philosophie in den Händen eines Meisters zur Dienerin der Religion werden kann«; »und wie beide zusammen durch die meisterliche Beherrschung unserer Muttersprache in alle Farben des Regenbogens gekleidet werden können«; »natürlich ging er apologetisch vor, und warum auch nicht? Er sprach zu Seinesgleichen und hatte mit der Annahme, sie wüßten alles, was er auch wußte, ganz recht«; »er sagte ›Scheol‹ für ›Hölle‹; gewiß, warum auch nicht? Das ist das richtige Wort, wenn man einmal so weit gehen will«; »und er sprach stets von ›Eschatologie‹ statt von der ›Ewigkeit‹; sehr gut: ist denn das nicht der richtige wissenschaftliche Ausdruck« usw.
»Ah!« sagte er zu Vater Sheldon, »das sind Leute, wie wir sie brauchen! Ich gäbe meinen halben Jahresgehalt darum, wenn man ihn einladen würde, nach Irland hinüberzugehen und dort eine Reihe von Exerzitien zu leiten. Würde er sie nicht aus ihrer Lethargie aufrütteln? Würde er ihnen nicht zeigen, was Bildung und Erziehung leisten können?«
»Ich war der Meinung, Ihr Vaterland pflege ›Insel der Heiligen‹ genannt zu werden?« erwiderte Vater Sheldon.
»Gewiß! So ist es auch. Ihr habt zwar versucht uns auch das zu rauben wie alles andere. Aber ihr könnt es nicht!«
»Aber der Exerzitienmeister sagte doch, daß die Heiligen und ihr Leben niemals zur Nachahmung, sondern zur Bewunderung bestimmt seien.«
»Und ganz mit Recht. Oder wollen Sie behaupten, Simon Stylites würde heutzutage zwanzig Jahre oder auch nur zwanzig Tage auf seiner Säule belassen werden?«
»Vielleicht nicht. Aber was wird dann aus Ihren Landsleuten und ihrem Titel, der ihnen soviel Ehre macht? Wenn nicht einmal für einen einzigen Heiligen Platz vorhanden ist, was brauchen wir dann eine ganze Insel voll davon?«
»Aber, Sheldon, Sie sind doch ein schrecklicher Reaktionär – ein Mensch des Mittelalters – ein Ketzerrichter! Wie in aller Welt wollen denn Menschen wie Sie je England bekehren?«
»Ich bin nicht sicher, ob es der Bekehrung überhaupt wert ist,« erwiderte Vater Sheldon nachlässig; »aber dieses einen bin ich sicher – daß diese moderne Idee, wir sollten unsere Heiligen, unsere schönen Heiligen, Franziskus, Ignatius und Alphonsus, Klara, Rosa und Scholastika, nur für ebenso viele minderwertige Museumsschaustücke halten, die man als göttliche Raritäten besieht und bewundert – der gräßlichste Schluß ist, zu dem unsere katholischen Neuerer je gekommen sind.«
»Ich gebe Sie auf, Sheldon,« entgegnete Lukas. »Ich will heute Abend noch einem guten Freunde in Irland drüben schreiben, man möge Vater Azarias baldmöglichst hinüberholen. Er hat dort ein breites Feld der Tätigkeit.«
»Wahrscheinlich. Möge der Himmel euch Iren stets eine recht gute Meinung von euch selbst verleihen!«
Sie saßen gerade beim Kaffee im Bibliothekzimmer. Es war Sonntag, und das Mittagessen war erst auf vier Uhr nachmittags angesetzt statt zu der gewöhnlichen Stunde um ein Uhr. Der Bischof hatte ein paar hübsche Bemerkungen über den hervorragenden Exerzitienmeister beim Mittagessen am vorhergehenden Tage gemacht. Aber der Bischof war wißbegierig. Er liebte es, Ansichten zu hören – eine vorzügliche Eigenschaft. Man braucht sie ja ebensowenig zu teilen wie der gute irische Prälat, der mit Nachdruck erklärte, daß er nie einen wichtigen Schritt unternehme, ohne sich mit seinen Kanonikern zu beraten. Aber wenn man ihn fragte: »Folgen Sie denn auch ihren Ratschlägen, Mylord?«, erwiderte der Bischof ebenso nachdrücklich: »Niemals!«
Aber sie saßen ja beim Kaffee.
»Wie gefielen Ihnen die Exerzitien?«
Lukas war voll des Lobes und der Begeisterung für sie. Der Generalvikar meinte: »Was mich betrifft, so könnte er während der ganzen Zeit ebensogut eine Flöte gespielt haben. Es war gewiß recht hübsch.«
»Vater Sheldon, was stieren Sie da oben so vor sich hin?« fragte der Bischof. Vater Sheldon galt bei ihm sehr viel.
In einer feierlichen, aber halb nachlässigen Weise, als ob er zufällig über die Stelle gestolpert wäre, las Vater Sheldon aus der dicken, metallbeschlagenen Bibel:
»Michäas sprach zu Achab, dem Könige Israels: ›Höre Du das Wort des Herrn! Ich sah den Herrn sitzen auf seinem Throne, und alle Heerscharen des Himmels umstanden ihn zur Rechten und Linken.‹ Und der Herr sprach: ›Wer wird Achab, den König Israels, verblenden, daß er hinaufsteigt und fällt bei Ramoth-Galaad?‹ Und der Eine äußerte diese Ansicht, der Andere jene. Und dann kam ein Geist herzu, trat vor den Herrn und sprach: ›Ich will ihn verblenden.‹ Und der Herr sprach: ›Wodurch?‹ Und er antwortete: ›Ich will hingehen und ein Lügengeist sein im Munde aller seiner Propheten.‹ Und der Herr sprach: ›Du sollst ihn verblenden und den Sieg davontragen: Gehe hin und tue also!‹«
Der Bischof schwieg und war ernst gestimmt. Der Generalvikar schüttelte sich am ganzen Leibe und platzte ein- oder zweimal heraus, was so seine Art, stürmisch zu lachen, war. Ein junger Geistlicher meinte: »Sie haben nicht viel Nächstenliebe aus den Exerzitien mitgebracht, Vater Sheldon!«
Lukas bemerkte: »Da läßt sich gar nicht reden! Vater Sheldon ist eben eine Bronzestatue, die ihr Gesicht der Vergangenheit zukehrt.«
»Das ist ja schon recht, Delmege! Aber wenn einer kommt und will hundert Priester bearbeiten und zurechtrichten, um sie zu besserem Wirken unter ein paar hunderttausend Seelen zu befähigen, und wenn vielleicht einer dieser Seelenführer selber wankend ist, so erwarten wir etwas anderes als ›Sing ein Fünfzigpfenniglied!‹ und ›Ist das nicht ein fein Gericht für einen König selbst?‹«
* * *
Zur selben Zeit zeichnete Louis Wilson Lukas' Porträt folgendermaßen:
11 Albemarle Buildings, Victoria St., W.C.
Liebste Mutter!
Letzte Woche machte ich mein erstes Examen, fiel aber durch. Die Fragen waren einfach blödsinnig. MacKenzie, ein alter Schotte, der nur Hafermehl fraß, bis er nach London kam, war mein Hauptexaminator. Er fragte mich das dümmste Zeug von der Welt; wieviel Prozente Fibrin im Blut seien, welche Wirkung die Blausäure habe usw. In der Chirurgie war ich glänzend beschlagen, wurde aber nur etwas ganz Lächerliches über Verstopfung der Blutgefäße gefragt. Und dann war dieser Kerl auch nicht einmal ein Gentleman. »Junger Mann,« sagte dieser rothaarige wilde Hochländer, »ich würde Ihnen raten, Bader zu werden; das schlägt ja auch in die Chirurgie, wie Sie wissen.« Ich habe mich beschwert und verlangt, daß ich nochmals geprüft werde. Doktor Calthrop ist auch hier und prüft Bakteriologie. Nebenbei kannst du auch Barbara sagen, daß ihr geistlicher Freund Fortschritte macht. Er scheitelt jetzt sein Haar in der Mitte und hat einen jonisch-dorischen Akzent angenommen. Ich muß aber sagen, daß er gut und wirksam predigt. Er ist sogar ein vielgenannter Redner geworden. Ich kann ihn natürlich noch æ nicht mit den besten nichtkatholischen Predigern vergleichen, denn es fehlen ihm immer noch der Esprit und die kleinen Nuancen, die den akademisch gebildeten Mann verraten. Aber wenn er sich einmal den attischen Akzent angeeignet hat, wird er Tüchtiges leisten. Sage also Papa, daß beim Examen ein Fehler unterlaufen ist und daß ich es nochmals mache. Vielleicht schreibt er an Calthrop, der hier großen Einfluß hat.
In alter Liebe
Dein Sohn Louis J. Wilson.
Eine Folge dieses Briefes war nachstehendes Schreiben:
Dublin, den 8. September 187–.
Hochwürdiger Herr!
Ich muß Ihnen schreiben, um dem Stolz und der Freude Ausdruck zu verleihen, die uns alle beseelen, wenn wir so oft und in so ehrenvoller Weise Ihren Namen in der »Catholic Times« oder im »Tablet« erwähnt sehen. Und jetzt kommt auch noch ein Brief von Louis, der voll des Lobes über Sie ist. Ich kann seine Worte nicht wiederholen, weil ich Ihre Bescheidenheit kenne. Er ist ein großer Bewunderer von Ihnen, und ich kann mir das nicht anders erklären, als daß der liebe Gott diese Verehrung und Bewunderung in Louis geweckt hat, damit Sie einen wohltätigen Einfluß auf ihn ausüben inmitten der Versuchungen Londons. Ich denke, Sie haben ihn bis jetzt noch nicht getroffen; seine Adresse ist: 11 Albemarle Buildings, Victoria Street, London, W.C., und ich bin sicher, daß er sich durch Ihre Herablassung sehr geschmeichelt fühlen würde, wenn Sie einmal so viel Zeit übrig hätten, um ihn zu besuchen. Bitte, tun Sie das, verehrter hochwürdiger Herr! Es handelt sich ja um eine Seele und ihr ewiges Heil, und Ihre Belohnung wird überreich sein.
Doch ich nehme mit meiner Zudringlichkeit Ihre so kostbare Zeit allzusehr in Anspruch; aber unser nächster Brief von Louis wird gewiß ein Entzücken sein.
Ich verbleibe, hochwürdiger Herr,
in aller Ergebenheit
Ihre Barbara Wilson.
»Das sind ja feurige Kohlen auf mein Haupt!« rief Lukas, nachdem er den Brief gelesen. »Ich muß wirklich einmal nach dem Burschen schauen. Unser kleines Rencontre scheint er mir nicht nachzutragen. Jedenfalls fühlt er, daß er reichlich verdiente, was er bekam.«
Demgemäß überschritt Lukas nach einigen Tagen wieder die Westminsterbrücke und lenkte seine Schritte den Albemarle Buildings zu. Eine ehrbare Frau in mittleren Jahren öffnete ihm.
»Nein, Mr. Wilson ist nicht zu Hause; er ist im Spital,« vermutete sie, »und wird vor Abend nicht zurück sein. Er speist auch selten zu Hause.«
Lukas wandte sich schon zum Gehen. Er war nicht sehr enttäuscht, denn er fürchtete das Wiedersehen, obgleich er sich vorgenommen, sehr versöhnlich und herablassend zu sein. Da sagte die Frau: »Wie ich sehe, sind Sie ein Geistlicher und vielleicht ein Freund dieses jungen Herrn.«
»Gut bekannt bin ich wenigstens mit ihm,« erwiderte Lukas, die Wahrheit etwas übertreibend, »und interessiere mich sehr für ihn.«
»Ach, wenn sich nur jemand seiner annehmen wollte! Ich fürchte, er tut nicht gut. Wollen Sie nicht ein wenig heraufkommen, Sir?«
Lukas hatte zwar das Gefühl, als ob er nicht ganz berechtigter Weise in das Privatleben eines andern eindringe; er folgte der Aufforderung aber doch. Die Frau öffnete eine Türe und führte ihn in ein Zimmer, in dem ein seltsam scharfer aromatischer Geruch, wie in einer Apotheke, vorherrschte. Ueberall sah man das größte Durcheinander. Pfeifen in jeder Größe und Form, Salbennäpfe, Masken und Perücken, Photographien von Schauspielerinnen und anderen Schönheiten. Zwei hingen hübsch eingerahmt nebeneinander. Die eine trug die Unterschrift »Circe«, die andere war das Bild Barbaras, wie Lukas sofort erkannte. Ueber dem Kaminsims hing ein prachtvolles, großes Porträt des Kanonikus mit dem Familienwappen der Murrays im Rahmen und ihrer Devise: Sans tache.
»Es würde mich meine Stellung kosten, Sir,« sagte die Frau, »wenn man je erführe, daß ich Sie hier hereinließ; aber ich bin eine Mutter, und ich weiß, was das ist, wenn man sehen muß, wie die Kinder auf Abwege geraten. Hat der junge Herr noch Eltern? Daß er eine Schwester hat, weiß ich, denn jeden Tag bekommt er einen Brief von ihr. Von seinen Eltern aber spricht er niemals.«
»Er hat seine beiden Eltern noch, soviel ich weiß. Ich kenne sie aber kaum; seine Schwester und sein Onkel sind mir hingegen sehr gut bekannt –« und er deutete auf die Photographien.
»Ja, Sir, der arme junge Herr führt einen schlechten Lebenswandel. Oft kommt er ganz betrunken heim.«
»Liest er?« fragte Lukas, vergebens nach medizinischen Werken und Präparaten Umschau haltend.
»Sehr viel, das!« Und damit zeigte sie auf einen Haufen Romane. »Aber da liegt die wirkliche Gefahr,« fuhr sie fort und nahm vom Kaminsims ein Fläschchen herab.
»Er nimmt das alles oft an einem Tage ein,« erklärte sie, auf die Etikette zeigend, »und das ist genug, um zehn Menschen töten zu können. Und er kann's nicht mehr länger treiben, wenn ihn nicht jemand sobald wie möglich rettet.«
»Ganze Tage lang bekommt man ihn gar nicht zu sehen,« fuhr sie fort. »Ich klopfe und klopfe und denke mir, daß wir bald eine Leiche im Hause haben werden. Und dann kommt er schließlich heraus und zittert wie eine Espe am ganzen Körper, und sein Gesicht ist weiß wie das eines Engels. Aber es sind keine Engel, die er gesehen hat, sondern Teufel.«
»Ich bin Ihnen sehr verbunden für Ihr Vertrauen,« sagte Lukas, als sie die Treppe herunterstiegen. »Ich werde die Sache sofort in die Hand nehmen.«
»Und Sie werden es niemand verraten, was ich Ihnen gezeigt habe?« flehte die Frau.
»Haben Sie keine Angst!«
»Eine recht schlimme Geschichte,« dachte Lukas auf dem Nachhausewege; »eine sehr schlimme Geschichte! Ich muß gleich seiner Schwester oder seinem Onkel schreiben. Und das ist der Mensch, vor dem ich mich vor ein paar Jahren bei jenem Diner fast fürchtete! Man muß eben reisen und Erfahrungen sammeln, um die Welt kennen zu lernen und zu wissen, daß es nur wenige Leute in ihr gibt, die nicht unter einem stehen.«
Wie man sieht, befolgte Lukas die Philosophie eines seiner Mentoren jetzt vollständig und trug seinen Kopf – sehr hoch.