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VII.
En Route

Die nächsten Tage verbrachte Lukas angenehm und fröhlich. Die seltene Vergünstigung, in dem Hause seiner Eltern die heilige Messe lesen zu dürfen, war für ihn eine Quelle des Segens und der Gnade; und wenn ihn auch zuweilen quälende Fragen bestürmten, so verflüchtigte sich das alles sofort, wenn er mit seinen drei geistlichen Freunden zusammensaß, und jeder Mißklang schwand unter der Harmonie ihrer herzlichen Freundschaft.

Diese drei Geistlichen waren in der ganzen Diözese als die »Unzertrennlichen« bekannt. Sie bildeten einen engen und ausschließlichen Kreis für sich, und alle Kandidaten, die in ihn aufgenommen werden wollten, wurden unnachsichtlich zurückgewiesen. Sie speisten bei allen festlichen Gelegenheiten miteinander zu Mittag und zu Abend. Sie verbrachten ihre Sommerferien zusammen in Lisdoonwarna; und da bestanden sie auch noch darauf, daß ihre Zimmer nebeneinander lagen, und daß ihre Stühle an den gleichen Speisetisch und nebeneinander gestellt werden sollten. In Klikee, das man im Volke für die hygienische Ergänzung von Lisdoonwarna hält, gerade so wie man glaubt, eine kalte Dusche müsse ein türkisches Bad abschließen, badeten sie an derselben Stelle, gingen zusammen nach Loop Head oder den Naturbrücken von Roß, und schlenderten gemeinsam in der Sommerhitze herum. Und wenn sie sich nach dem Mittagessen an eine Partie Billard wagten, so spielten immer zwei, während der Dritte markierte. Wenn jemand anderer herzukam oder sich ins Spiel mischte, gingen die Drei zusammen davon. Zu Hause waren sie ebenso exklusiv. Jeden Sonntag Abend, Winter wie Sommer, kamen sie zusammen, »um die eleusinischen Mysterien zu feiern,« wie ein eifersüchtiger Außenstehender sagte, in Wirklichkeit aber, um ihr Mahl zu sich zu nehmen; und der Speisezettel lautete bei jeder Gelegenheit und bei jeder Tafel ganz gleich: – Hähnchen und Schinken, auf die ein kleines Stück Hammelbraten folgte; ein Gericht, gewöhnlich aus Aepfeln bestehend, kam dann noch als zweiter Gang, das war alles. Die einzige Gelegenheit, bei der der Schatten einer Wolke sich zwischen sie stellte, trat ein, als Vater Martin eine neue Haushälterin bekam und sie ihre Gäste mit etwas regalierte, was sie einen Kanzler-Pudding zu nennen beliebte. Die Gäste betrachteten ihn verdächtig, lehnten es aber ab, davon zu kosten. Vater Martin, der immer höflich und liebenswürdig war, brachte eine Menge Entschuldigungen vor. »Gib mir den alten Gaul auf den langen Weg mit,« fiel ihm Vater Tim ins Wort. Auch über Politik hatten die »Unzertrennlichen« die gleichen Ansichten; der einzige Unterschied bestand nur darin, daß Vater Martin diese Dinge mehr von einem theoretischen und akademischen Standpunkt aus betrachtete, während Vater Tim sich passiv verhielt und Vater Pat zu grimmigem und unnachgiebigem Angriff neigte. Manche Leute sagten, es sei echter, offenherziger Patriotismus; andere meinten, es sei nur Opposition gegen seinen Pfarrer. Doch lassen wir das dahingestellt. Es war nun einmal so, und die großen Zeitungen sprachen von ihm als einem »wahren Patrioten, der unter schwierigen und lästigen Umständen die edelste Tradition der irischen Kirche hochhielt«. Diese schmeichelhaften Zeilen hatte Vater Pat ausgeschnitten und auf die innere Deckelwand seines Breviers, Pars Aestiva, aufgeklebt, wo sie gelegentlich den Stoff zu einer impromptu-Betrachtung bildeten. Und da diese drei vortrefflichen Menschen verpflichtet waren, ihre Testamente nach den Diözesanvorschriften zu errichten, so einigte man sich dahin (obwohl dies natürlich Geheimnis war), daß die Ueberlebenden die zwei Testamentsvollstrecker dessen sein sollten, der vor den andern starb. Was der letzte Ueberlebende tun sollte, verschweigt die Geschichte.

Und doch gab es keine drei Menschen, die trotz aller, schon seit langen Jahren bestehenden innigen Freundschaft, die nie eine Trübung erlitten hatte, einander im Charakter, in der Veranlagung und Erziehung so wenig glichen wie die »Unzertrennlichen«. Vater Pat Casey war der richtige, leutselige Landpriester, der sich immer unterwegs befand, und der Freund und Vertraute eines jeden, ob Mann, Weib oder Kind, in seiner Pfarrei war. Wir dürfen sogar hinzufügen: in allen drei Pfarreien; denn seine geistlichen Mitbrüder beklagten sich oft scherzhafter Weise, daß er die Grenzen nicht respektiere und in recht ausgedehnter Weise in ihren Gehegen herumwildere. Er hatte dabei einen ehrlichen Abscheu vor allen Büchern. Und seine ganze Bibliothek bestand aus zwei Bänden Liguori, vier Bänden Perrone, zwei Bänden Alzog und zehn Bänden Receveur. Es waren noch ungefähr fünfzig Bände der Klassikerausgabe in usum Delphini vorhanden, die von einem gelehrten Onkel auf ihn übergegangen waren; und inmitten dieser Bücher befand sich auch ein einzelner Band von De Quincey, der, neben andern Aufsätzen, einen Bericht über die letzten Tage Kants enthielt. Dieser Band bildete die Ursache fortwährenden Fragens und Forschens.

»Wo in aller Welt las ich ihn denn nur auf? Wer zum Kuckuck war denn dieser Kant? Welch' ein Name für einen Christenmenschen! Ich habe ihn sicherlich in einem Anfalle von Geistesabwesenheit bei dir gestohlen, Martin.«

Aber er wollte sich doch nicht von ihm trennen – nicht wenn man ihm mit Gold aufgewogen hätte. Denn er hatte ihm ein paarmal gute Dienste geleistet. Er lag stets auf dem Tische des Wohnzimmers, außer bei Mahlzeiten, wo er ins Büchergestell zurückwanderte. Und einmal hatte eine hochgeborne englische Dame, die vorgesprochen hatte, um Erkundigungen über arme Leute in der Gegend einzuziehen, den Band in die Hand genommen und gesagt: »Es freut mich sehr, Vater, daß Sie an meinem Lieblingsschriftsteller solches Interesse haben.«

Und einmal, als der Bischof ganz überraschend einen Besuch abstattete, fand er Vater Pat tief in kopfzerbrechende Studien versunken.

»Lesen Sie gerade, Vater Casey?« fragte der Bischof, als ob er überrascht wäre.

»Jawohl, Mylord,« gab Vater Pat bescheiden zurück.

Der Bischof nahm den Band zur Hand, blätterte umher, zog die Augenbrauen etwas in die Höhe, blickte fragend auf Vater Pat, dann wieder auf das Buch und seufzte.

An den Wänden hingen einige Heiligenbilder in Farbendruck und ein oder zwei Kupferstiche von Kaufmann, die, wie Vater Pat sich sagen ließ, von unschätzbarem Werte waren. Das Meisterwerk aber befand sich über dem Kaminsims; es stellte drei oder vier Braune und Rappen dar, die wie Spiegel glänzten. Eines der Pferde war verletzt, und ein Groom rieb eben den Vorfuß ab. Es stammte von einem alten Meister, und trug die Ueberschrift »Ellimans Fluidum«.

»Nehmen Sie doch dieses gewöhnliche Zeug herunter,« sagte ihm sein Pfarrer bei einem der wenigen Besuche, die er seinem Kaplan abstattete. Vater Pat gehorchte, stellte es aber bald wieder an seinen alten Platz zurück. Es war für ihn die Quelle unschuldigen und unsagbaren Vergnügens.

Eine Eigentümlichkeit Vater Pats war, daß er nie predigte, sondern immer nur zum Volke sprach. Daher kam es auch, daß er nach dreißig Jahren eifriger Seelsorge immer noch Kaplan war. Und es war auch gar keine Aussicht vorhanden, daß man ihn je fragen würde, ob er seine Stellung ändern wolle.

Vater Tim Hurley war Pastor einer benachbarten sogenannten Einspänner-Pfarrei. Er hatte nämlich keinen Kaplan, eine Tatsache, die er im Gespräche mit andern Pfarrern stolz hervorhob, Kaplänen gegenüber aber fast mit Tränen in den Augen beklagte. Infolge eines bon mot, das ihm einmal geglückt war, hatte er den Spitznamen »Sohn des Sirach« erhalten, und seitdem bemühte und quälte er sich förmlich ab, ständig in Aphorismen zu sprechen. Auf den unklugen Rat seines Freundes Vater Martin hatte er sich einen Vorrat von Werken solcher Schriftsteller gekauft, die wegen ihres Witzes und ihrer Schlagfertigkeit berühmt geworden waren; aber es war doch sehr hart, Rochefaucould bei einer Unterhaltung über Diözesanangelegenheiten anzubringen, oder Epiktet, wenn man von der nächsten Ernte sprach. Er fand aber bald heraus, daß die eigenen grauen Federn seiner Einfälle immer noch besser waren, als das erborgte, buntscheckige Gefieder.

Vater Martin endlich bildete fast einen direkten Gegensatz zu seinen Freunden, und da Lukas' zukünftiges Leben gerade von ihm etwas Farbe annahm, muß ich ihm hier schon etwas mehr Raum gönnen.

Vater Martin Hughes war ursprünglich nicht zum Theologen bestimmt; er sollte vielmehr Jurist werden. Zu diesem Behufe hatte er zwei Jahre in Deutschland verlebt, war da von Universität zu Universität gezogen und hatte bald in bescheidenen Häuschen am Ufer sagenreicher Flüsse gewohnt und bald in der Einsamkeit dunkler Bergeswälder gehaust. Und hier hatte er auch das einfache, bescheidene Leben schätzen gelernt, das zwar grau und aschfarben in seiner Eintönigkeit erscheint, aber von der Musik und dem geheimnisvollen Zauber umgoldet ist, der wie eine güldene Wolke über dem deutschen Vaterlande zu schweben scheint. In seinem späteren Leben gedachte er oft voll dankbarer Erinnerung der Liebenswürdigkeit und ungezwungenen Höflichkeit dieser einfachen Bauern und Holzarbeiter. Und all die kleinen Zeichen teilnehmender Freundschaft, wenn ihm ein duftiger Veilchenstrauß mit schweigender Höflichkeit auf seinen Toilettentisch gestellt wurde, oder die kleinen Geschenke zu seinem Geburtstage, wenn seine Photographie von einem Gretchen oder einer Ottilie geschmückt wurde, waren unauslöschlich in ein nur zu getreues Gedächtnis eingegraben. Dann ging ihm auch das tiefe, erhabene Gefühl deutscher Lieder, die eine um den Abendtisch versammelte Familie miteinander sang, und die ein einfaches Tafelklavier begleitete, wie man es fast in jeder deutschen Familie antrifft, stets wie ein Traum nach. Und wenn er sich nach und nach so recht zu vergegenwärtigen begann, daß dieses Land, das vor noch gar nicht langer Zeit den Fluch einer fremden Sprache an sich erfahren hatte, sich jetzt in höchstem, glorreichem Streben seine eigene Sprache geschaffen hatte und eine Literatur besaß, die von keiner andern an Reichtum und Lieblichkeit übertroffen wurde, sättigte er sich mit der Poesie und Philosophie dieses Landes, die seinem Leben neue Farbe und neuen Reiz gaben. Nicht, daß er sich über die dunkle Metaphysik dieser oder jener Schule oder über die feine Haarspalterei philosophischer Marktschreier, welche die Anhänger der Scholastik wegen ihrer Sophistereien lächerlich machten, aber an Falschheit ihrer Aufstellungen mit den schlimmsten der von ihnen verworfenen Systeme wetteiferten, viel den Kopf zerbrochen hätte. Aber er ließ die feinen Nebelschleier und den Höhenrauch Schillers, Richters und Novalis' ihn einhüllen und sättigen, und dankte Gott, daß er der Welt Dichter geschenkt hatte. Die letzten Monate seiner Pilgerfahrt hatte er am Neckar verlebt, im alten Heidelberg; und seitdem sah er es nie anders in seiner Erinnerung als im Zauberglanze der untergehenden Sonne mit einem azurblauen, herrlichen Himmel darüber, wie er die goldenen Landschaften auf den Gemälden Turners überwölbt. Hier und in den stillen Tälern des Harzes, wo Dorf um Dorf sich um den Kirchturm und die weißen Gräber der Toten gruppierte, war es, wo der leise Hauch ihn anwehte, der seine Gedanken vom Forum auf die Kanzel, und von der Welt zu Gott hinlenkte. Aber er gab seine deutschen Studien sein ganzes Leben lang nicht mehr auf. Er hatte die originelle und augenscheinlich sonderbare Idee gefaßt, deutsche Gedanken, deutsche Sitten und Gewohnheiten der heimischen Landbevölkerung einzupflanzen, und er hatte einen tiefdurchdachten Artikel über die Verwandtschaft zwischen deutscher und irischer Gedankenrichtung und Ueberlieferung geschrieben. Er wollte beweisen, daß der deutsche Idealismus und der keltische Mystizismus dasselbe seien, und daß die Folge einer Verbindung des Gedankens- und Gefühlslebens der beiden Völker notwendigerweise eine heilsame sein müsse. Aber er wurde von der literarischen Bühne heruntergeschrien. Frankreich, und nur Frankreich, sollte unsere Säugamme und Gardedame sein – und Vater Martin kehrte wieder zu seinen Büchern und Träumen zurück. Er galt daher für eine Null, ein reines Nichts; denn eine niedergeschriene Stimme bedeutet und symbolisiert Leere und Hohlheit in einem Lande, wo das Lärmen und Schreien so beliebt ist. Und dann vergaß man auch seine Kenntnisse und seine Gelehrsamkeit über der Tatsache, daß er der sanfteste, der ruhigste und gelassenste Mensch war. Und teils infolge natürlicher Anlage, teils infolge von Gewohnheit und Bildung war er zu folgendem Ausweg gekommen, wenn er es nicht der Mühe wert fand, mit jemand über irgend etwas verschiedener Meinung zu sein. Er antwortete einfach mit »Ganz richtig!« auf die dümmste und unglaublichste Behauptung. Daher hielt man ihn nach Konferenzen und dergleichen für etwas blöde, weil er an Diskussionen, die ihn nicht interessierten, keinen Anteil nahm. Aber es ging die Sage unter den »Unzertrennlichen«, daß man nach solchen Gelegenheiten immer ein seltsames Gelächter aus der Einsamkeit seines Bibliothekzimmers schallen höre. Aber das war nur ein Irrtum. Es war nur eine Spieldose, die zwölf Stücke zu spielen pflegte, und bei diesen besonderen Gelegenheiten stets aufgezogen werden mußte. So sagten die »Unzertrennlichen« wenigstens zu den Heiden; aber in ihrer Mitte blieb es strenges Geheimnis, daß Vater Martin in Wahrheit und wirklich sich amüsierte. Und in einem der geheimen Winkel seiner Bibliothek, in die niemand außer den »Unzertrennlichen« Zutritt besaß, hatte er einen breiten Kranz von Photographien angebracht – Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Goethe, Wieland, Richter, Novalis und Herder. Das Mittelfeld blieb lange Zeit leer. Endlich wurde es eines Tages ausgefüllt – ausgefüllt mit der Kabinettphotographie eines Mannes, der an seiner eigenen Tafel durch sein Benehmen, wenn auch nicht ausdrücklich in Worten, zu seinen Verehrern und Sykophanten zu sagen pflegte: »Schaut mich an! Bin ich nicht euer Herr und Meister?«, und sie antworteten ihm und sagten: »Ja, wahrhaftig, du bist unser Herr und König«. Und die schreckliche Geschichte ging um, daß Vater Martin, der demütige Mönch und Einsiedler, stundenlang in seinem Armstuhl zu sitzen pflegte und den ganzen Kreis genialer Männer mit dem Mittelpunkte eingebildeter Hohlheit betrachtete, worauf er laut und lang über den schrecklichen Gegensatz auflachen mußte.

Lukas hatte das Glück, die letzten drei Tage seines Aufenthaltes in Irland in der Gesellschaft dieser lieben Menschen zu verbringen. Warum er in diesen magischen Kreis Aufnahme gefunden hatte, wußte er sich nicht recht zu erklären; er brachte diese Vergünstigung mit dem vor ihm liegenden Exil nach England in Verbindung. Der geistige Nutzen, den er daraus zog, war ja nicht gerade hoch anzuschlagen, aber seine Nerven beruhigten sich. Es ist allerdings nicht zu leugnen, daß der eine oder andere orakelhafte Ausspruch Vater Tims nicht immer mit Lukas' Seminaransichten von Moral übereinstimmte, was ihn nicht wenig besorgt und ängstlich machte. Zum Beispiel schärfte ihm Vater Tim das strenge Gebot ein, sich ja nicht »billig zu verkaufen«.

»Die Welt beurteilt dich, mein lieber Junge, nur nach der eigenen Wertschätzung. Trage den Kopf hoch und schätze dich möglichst hoch ein!«

»Ich verstehe, Vater; aber wie verträgt sich denn das mit der christlichen Demut?«

»Demut? Gott steh' mir bei! Du wirst durch den Schmutz geschleift und zu Brei getreten, wenn du nichts aus dir machst.«

Lukas schwieg darauf.

»Ein Aal kann leichter durch die engen Windungen irischen Lebens schlüpfen, als ein Salm,« bemerkte Vater Tim bei einer andern Gelegenheit. »Aber,« setzte er nach einer Pause hinzu, »ein Aal ist auch kein Salm.«

Die Freunde nickten dazu.

Ein andermal wieder meinte er: »Du hast einen glücklichen Namen, um nach England zu gehen, mein Junge. Wer war doch gleich der Narr, der sagte: ›Was liegt an einem Namen? Die Rose duftete so süß, auch wenn sie anders hieße‹.«

»Ein berühmter Geselle war's. Will Shakspere war sein Name,« warf Vater Martin ein.

»Dachte mir's doch gleich! Auch einer von den Vögeln, die anderer Leute Eier ausbrüten. Sehen sie denn nicht, daß Delmege – noch besser wäre es, wenn Sie es französisch aussprechen könnten – ein vorteilhafterer Name für einen Exilierten ist, als O'thaughnessy oder O'deluchery? Ihr werdet schon sehen, wenn unser Lukas zurückkommt, hat er einen Akzent wie eine Herzogin und bereits herausgefunden, daß seine Ahnen schon bei Poitiers mitfochten und er sogar ein Vetter aus einer Seitenlinie Jeanne d'Arcs ist.«

»Es ist eine eigenartige Form von Geisteskrankheit,« warf Vater Martin ein, »und jedermann ist mehr oder weniger davon angesteckt.«

»Ausgenommen ich und Vater Pat. Ich könnte die Hurleys oder Caseys niemals über die Unruhen vor drei oder vier Jahren zurückverfolgen. Aber ich glaube, sie spielten in diesen Kreuzzügen eine recht hervorragende Rolle.« Und in einem Tone ruhigen Sarkasmus' fügte er hinzu: »Wenn ich einmal ein wenig Geld zusammenbekomme, was mir zurzeit noch sehr problematisch erscheint, lasse ich mir mein Briefpapier auch mit einem Wappen versehen wie der Kanonikus – zwei aufrechtstehende eichene Knüttel – sehr aufrechtstehend – auf rotem Hintergrund – feuerrot, mit dem Motto: Nemo me impune lacessit, oder in gutem Irisch: Tritt mir nicht auf meine Rockschöße! Und ich will auch Vater Pats Wappen bezahlen, denn der wird nie einen Pfennig besitzen, um sich mit einem solchen zu beglücken.«

»Und hättest du nicht die Güte, auch für Vater Pat gleich ein Wappen mit einem Motto zu bestimmen?« fragte Vater Martin.

»O gewiß! Auf schwarzem Hintergrund ein Totenkopf mit zwei gekreuzten Knochen darunter und mit dem Wahlspruch Napoleons: Frappez vite – frappez fort! oder wie wir sagen würden: wo du einen Kopf siehst, da schlag hin!«

»Nein! Nein!« rief Vater Martin. »Das würde nicht passen. Gib ihm ein Seziermesser mit dem Motto: Rescissa vegetius resurget.«

Um diese Parabel zu erklären, müßten wir eigentlich hier anführen, daß Vater Pat ein Amateur-Chirurg war, besonders in der Sparte der Tierarzneikunde. Er besaß ein kleines Operationszimmer, acht Quadratfuß groß, neben der Eingangshalle; und hier vollführte er Operationen an Tieren, die Lister vor Neid umgebracht hätten. Hier hatte er das gebrochene Bein einer Amsel in Schienen gelegt, die, zum Danke für diesen kostenlosen Dienst, dann und wann ihre Freiheit aufgab und der melodienreiche Gefährte des Priesters wurde. Hierher brachte man auch Hunde aller Rassen und von jeder Größe, und während er sie mit unendlicher Zartheit behandelte und sie ihm die Hand voll Dankbarkeit leckten und der sehnsüchtige, schwimmende Blick in ihre Augen trat, wie er in alle Augen, gleichviel ob menschliche oder tierische, in lebensgefährlichen Krisen tritt, da glaubten manche, er lasse eine Träne in sein Einreibemittel fallen und feuchte es auf diese alte menschliche Art. In geistlichen Dingen war er nicht minder ein fähiger und zarter Arzt. Ich weiß nicht recht, ob er ein trefflicher Theologe war, oder ob er Ansichten gegeneinander abwägen konnte wie die bekannte Platte in der englischen Bank, die gute Münzen auf die rechte Seite wirft und leichte, unechte auf die linke, und schwankt, wie im Zweifel, hin und her, wenn eine zweifelhafte Münze vorgelegt wird, und beurteilt sie auf ihre eigene mechanische Art, um sie schließlich fallen zu lassen. Aber Vater Pat besaß ein absolutes Heilmittel, ein unschuldiges Betäubungsmittel, eine antiseptische Salbe für alle Wunden der Menschheit, und die hieß Epikeia. Die ließ ihn nie im Stich, wie alle wußten, und die Folge davon war, daß Patienten von Stadt und Land zu ihm hinströmten und voll Freude wieder von dannen zogen.

»Ich kann den Grund nicht ausfindig machen,« sagte er. »Ich bin kein großer Theologe und, Gott weiß, ich bin auch kein Heiliger. Ich denke, es ist die Gnade Gottes und ein ehrliches Gesicht.«

»Mag dem sein wie immer,« erwiderte Vater Tim, »aber er wird es nie zu einem anständigen Schreibpapier bringen. Du lieber Gott! Wenn Pat nur seinen Kopf hoch getragen hätte, wie ganz anders würde er heute dastehen! Also, Lukas, alter Junge, halte den Kopf hoch und schätze dich jedes Jahr höher ein!«

»Erzähle ihm doch von Tracey,« bat Vater Pat; »das jagt ihm vielleicht heilsamen Schrecken ein.«

»Von Tracey, meinst du, diesem armen Kerl in der Stadt? Ja, ja, das ist ein schreckliches Beispiel! Er hatte eine gute Pfarrei, die beste in der Diözese, die man sich denken kann. Es ist meine eigene Heimatpfarrei –«

»Jawohl, es ist das Sibirien der Diözese,« warf Vater Martin ein.

»Es ist meine eigene Heimatpfarrei,« fuhr Vater Tim unbeirrt fort, »und wenn ich's auch nicht sagen sollte, daß sich's da besser leben läßt als – doch lassen wir das! Was tat nun unser guter Freund Tracey? Statt unserm lieben Herrgott und seinem Bischof dankbar zu sein, beleidigte er Gott, insultierte er den Bischof, insultierte er das Volk und insultierte er auch mich.« Die Erinnerung daran war noch so lebendig und qualvoll, daß es ihm einige Sekunden lang unmöglich war, fortzufahren.

»Er hielt, mit Verlaub zu sagen, lange Meditationen mit dem Resultat, daß er rein allen Verstand verlor. Seine fixe Idee war, er stehe zu hoch als Pfarrer, und sein Seelenheil sei gesicherter auf einer niedereren Stufe der Leiter. Er gab daher seine Pfarrei auf und wurde Kaplan an einem städtischen Spital. Diese Stellung ist niedrig genug, und er läuft in den Straßen herum mit einem Rock so grün wie Gras und schaut aus wie ein leibhaftiges Skelett. Natürlich hat er den Verstand verloren; der Spaß dabei ist nur, daß er das gern sagen hört. Und wenn man ihm höflich bedeutet, er sei wegen eines geheimen Verbrechens um Amt und Würde gekommen, so drückt er einem erfreut die Hand wie ein Hungriger, den man unverhofft zur Tafel geladen.«

»Wahrhaftig!« rief da Lukas, der sich ganz vergaß und mit der Faust auf den Tisch schlug, »sobald ich wieder Ferien bekomme, soll es mein erstes sein, zur Stadt zu pilgern und dieses Mannes Füße zu küssen.«

»Das wird dir nicht schwer fallen,« erwiderte Vater Tim, »denn seine Zehen schauen immer aus seinen Schuhen heraus. Uebrigens, mein lieber Lukas, gehe etwas sanfter mit meinen paar Gläsern um! Ich habe keine andern mehr, und meine Pfarrei trägt keine neuen.«

* * *

»Sagen Sie mir doch, Vater Martin,« fragte Lukas, als sie zusammen heimgingen, »ist das richtig, was Vater Tim von diesem Priester in Limerick sagte? Man weiß ja nie recht, ob er nur spaßt oder Ernst macht.«

»Buchstäblich wahr,« gab Vater Martin mit dem ihm eigenen Tone der Ueberzeugung zurück.

»Und ist ein solcher Fall sehr selten?«

»Nicht so selten wie du vielleicht annimmst, nur vielleicht weniger auffällig.«

»Der Mann wird wohl angebetet werden,« meinte Lukas, der die Masse nach sich selbst beurteilte.

»Ganz im Gegenteil; man hält ihn allgemein für einen Schwachkopf, bei dem es im Oberstübchen rappelt.«

»Aber seine geistlichen Mitbrüder verstehen doch seinen Heroismus?«

»Ja! ja!« erwiderte Vater Martin tief aufseufzend. »Sie bemitleiden ihn wohl, aber Bewunderer findet er keine. Sie nennen ihn zwar keinen Narren, behandeln ihn aber als solchen. Ich erinnere mich an eine Predigt, die vor ein paar Monaten ein berühmter Kanzelredner über die Demut hielt. Sie war wirklich hervorragend, und das Bild, das er vom heiligen Franziskus entwarf, der vom Volke seiner Vaterstadt verhöhnt und als Narr verspottet wurde, war photographisch getreu bis in die kleinsten Einzelheiten. Wie er nachher Vater Tracey in seinem abgeschabten Rock bei Tische traf, war es köstlich anzusehen, wie er ihn von oben herab behandelte. Mit sichtlichem Zögern nur reichte er ihm die Hand und sagte dann zu einem seiner Bewunderer, die ihn umringten: »Der arme, bedauernswerte Mann!« Das beste an der Geschichte aber war, daß gleich darauf ein hervorragender Teilnehmer an dem Mahle den trefflichen Kanzelredner als den direkten Gegensatz von verfehlten Existenzen à la Vater Tracey pries.«

»Welch schreckliches Rätsel!« murmelte Lukas, indem er sich mit der Hand über die Stirn fuhr. »Ich weiß gar nicht, wo mir der Kopf steht!«

»Du siehst, Vater Tims Rat war nicht so töricht, wie du meintest. Wir sind alle wie Frösche in einem Sumpf, von denen einer lauter zu quaken sucht als der andere und seinen Kopf höher aus diesem Morast der Verzweiflung emporrecken will als die übrigen. Und zu welchem Zweck wohl? Damit er die Moore und Pfützen dieses traurigen Daseins besser übersieht als die andern und die Sumpfgase und Miasmen dieses verpesteten Planeten tiefer einatmet.«

»Aber Sie stimmen doch Vater Tim nicht bei?« fragte Lukas verzweiflungsvoll.

»Ich stimme vollständig seiner Schlußfolgerung bei, daß man bei zu großer Demut und Bescheidenheit sicherlich unter den Hufen wilder Esel zu Brei zerstampft wird. Aber –« Er stockte etwas, und als Lukas ihn fragend ansah, fuhr er fort: »Auch ich glaube, daß alles Gute und Große in der Welt nur von bescheidenen und demütigen Menschen vollbracht wird. Hast du die zwei Photographien auf meinem Kaminsims bemerkt?«

»Jawohl. Sind das Ihre Idole?«

»Je nach meiner Laune, wenn ich zornig bin oder hochmütig oder mich zu sehr über etwas ärgere, so schaue ich auf Savonarola; der war mein halbes Leben lang mein Ideal. Wenn mich aber Sanftmut und Mildtätigkeit erfüllt, dann zünde ich eine Kerze vor dem Bilde des Pfarrers von Ars an.«

»Lauter Rätsel,« sagte Lukas.

»Ja, das ist eine verrückte Welt,« gab der Priester zurück. Nach einer Pause fuhr er fort: »Na, du wirst wohl jetzt genug haben an unseren Ratschlägen und unserer Weisheit. Aber das Glück hat nicht Pate bei dir gestanden. Du bist schlechter ausgerüstet für den Kampf dieses Lebens, als wenn du blind oder lahm zur Welt gekommen wärest. Auf jedem Quadratzoll deines Leibes liegen Hunderte von sensitiven Nerven bloß. Du wärest glücklich zu preisen, wenn du eine Haut wie ein Rhinozeros hättest. Da dem nun aber einmal nicht so ist, so will ich dir noch folgendes einschärfen: Erstens rufe ich dir mit dem griechischen Philosophen zu: Habita tecum! Behalte deine Gedanken möglichst für dich! Zweitens: Mache Gott zu deinem Freund, nicht aber Menschen! Drittens: Nähre dich nicht mit Alltagslektüre, sondern von dem Marke unserer Geistesriesen! Lebe wohl! Auf Wiedersehen morgen!«

Am nächsten Freitag Nachmittag schwamm Lukas auf einem Londoner Dampfer schon auf hoher See und war im Begriffe, in die große Welt einzutreten. Das Rätsel des Lebens sollte ihm jetzt zur Lösung auf einem größeren Bilde und in tiefern Farben in der seltsamen, ungewohnten Umgebung englischen Lebens gezeigt werden.


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