Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XV.
Aylesburgh

Ich trage mich mit dem Gedanken, im Personal der Kathedrale einige Aenderungen eintreten zu lassen,« sagte der Bischof im Bibliothekzimmer zum Generalvikar. »Ich bin mit dem Seminare nicht recht zufrieden und möchte mehr Fortschritt und Leben darin sehen. Würde nicht Vater Sheldon mit seinen so überaus hohen Anschauungen vom Priestertum einen ausgezeichneten Führer für junge Studenten abgeben?«

»Ganz gewiß,« erwiderte der Vikar; »nur sagt er manchmal, wie ich, gar zu offen seine Meinung heraus.«

»Sehr wahr,« gestand der Bischof. »Darin läge einige Gefahr. Sodann muß ich Delmege entfernen –«

»Delmege?« fragte der Generalvikar ganz erschrocken.

»Jawohl, um seinetwillen. Ich sehe es ganz klar: er hat viel zu sehr Interesse am öffentlichen Auftreten und zu wenig – am Predigen.«

»Er predigt aber gut und leistet vorzügliche Dienste.«

»Wohl wahr; aber glauben Sie, daß alles, was er sagt, nützlich oder erbauend ist?«

»Nun ja, er befindet sich manchmal auf dem Holzwege,« gab zögernd der Generalvikar zu.

»Ich habe mich schon mit dem Gedanken getragen, mit ihm ernstlich über einige seiner Aeußerungen zu reden,« fuhr der Bischof fort. »Dieses ewige Herumreiten auf dem englischen Schisma und der irischen Treue gefällt unserm englischen Auditorium gerade nicht besonders. Sätze wie: › Wir Irländer bewahrten den Glauben, während ihr Engländer auf den Befehl eines grausamen Königs hin das glorreiche Erbe wegwarfet,‹ schmeicheln dem englischen Empfinden nicht.«

»Kaum,« erwiderte der Generalvikar lachend. »Aber die Wahrheit ist es, die unangenehm berührt, nicht ihre Verlautbarung.«

»Und dann,« fuhr der Bischof wieder fort, »blätterte ich neulich einen Pack Zeitungen durch, wobei ich auf folgende eigentümliche Stelle in einem seiner Vorträge traf:

›Der englische Charakter widerstrebt von Natur aus der katholischen Wahrheit. Es war nicht Luther, es war vielmehr die Faustsage, die der Reformation vorarbeitete. Die Welt war der Aszetik und der Heiligen müde. Das war auch bei den Engländern der Fall. Sie brauchten die Götter, ihre Freiheit und ihre Sinnlichkeit. Sie fanden ihre Götter in solchen Satyrgestalten wie Luther und Heinrich VIII.; sie fanden ihre Freiheit in der Versicherung ihrer persönlichen Freiheit; die Sinnlichkeit folgte dann nach. Und wenn ganz England wieder katholisch wäre und der Papst maßte sich an, noch einen einzigen Fasttag neu einzuführen, die Engländer würden gleich die Reserven einberufen und die Flotte in Spithead mobilisieren.‹

»Jawohl, ich erinnere mich jetzt auch,« erwiderte der Generalvikar lachend. »Der junge Mann besitzt in hohem Grade die Fähigkeit, die Wahrheit in einer wenig angenehmen Art zu sagen. Ich stritt mich mit ihm herum. ›Ist es wahr oder nicht?‹ fragte er mich. ›Vielleicht ist es richtig,‹ gab ich zu. ›Ja, warum soll man es dann nicht sagen?‹ entgegnete er. Er versteht eben nicht, daß es nicht immer wünschenswert ist, unnötige Wahrheiten zu sagen.«

»Er braucht Erfahrung,« erwiderte der Bischof. »Ich wollte schon sagen ›Zucht‹. Aber wie Sie wissen, wollen diese Feuerfresser von Iren keine Zucht annehmen. Dann hatte ich vor, ihn nach Whitstable zu senden. Aber dieser Posten ist zu verantwortungsvoll für –«

»Ich werde ihn sehr vermissen,« bemerkte der Generalvikar dazwischen. »Er ist ein edler, mannhafter junger Priester, der geradeaus seinen Weg geht und unzweifelhaft ein kluger Mensch ist. Wie schade, daß diese heißblütigen Iren den Zügel nicht leiden wollen!«

»Dann dachte ich an Aylesburgh,« fuhr der Bischof fort. »Ich könnte den alten Collins herüberversetzen. Würde aber Drysdale imstande sein, den jungen Enthusiasten zu beaufsichtigen?«

»Ich glaube schon. Sobald Delmege das heiligmäßige Wesen seines Pfarrers erkennt, wird er wie Wachs in dessen Händen sein.«

»Sei es also dann!« entschied der Bischof.

»Ich werde ihn aber arg vermissen,« brummte der Generalvikar und es klang wie ein Seufzer darnach.

Am folgenden Sonntag Abend war eine große Feierlichkeit in der Kathedrale. Der Bischof sollte in der Cappa magna teilnehmen. Lukas war für die Predigt bestimmt.

Alle waren in der inneren Sakristei versammelt, ehe die Zeremonie begann. Lukas war etwas nervös. Es war das erste Mal, daß er in des Bischofs Gegenwart predigen sollte, und man mag sagen, was man will, es ist ein Gottesurteil, vor einem vollendeten Prediger, der noch dazu die Schlüssel von Leben und Tod in Händen hält, sprechen zu müssen.

»Möchten Sie nicht den Bischof bedienen?« bat Artur, der Zeremonienmeister war, »während ich nach dem Altar sehe.«

Lukas trat vor und nahm die Cappa magna. Nun, die Cappa magna ist das schönste all der schönen Kleidungsstücke, womit die Mutter Kirche in ihrer großen Liebe ihre Kinder bekleidet. Ich kann nicht begreifen, wie ein geringerer Genius als der Michelangelos es ersonnen haben kann. Der Hermelin eines Richters ist gar nicht damit zu vergleichen, und selbst die Krönungsgewänder eines Königs müssen dagegen zurückstehen. Aber wie alles Schöne in Kunst und Natur muß sie zart, geschickt und verständig angefaßt werden. Nun besaß aber Lukas weder Verständnis – denn er kannte dieses luftige, flaumige, zarte Ding nicht; noch Geschicklichkeit, da er es noch nie berührt hatte; noch Zartheit, denn seine kräftigen, muskulösen Finger hatten noch keine sensitiven, nervösen Spitzen. Aber er besaß das ganze Vertrauen der Unerfahrenheit. Er nahm die schöne Seide und den Hermelin in seine Arme und warf sie leicht über des Bischofs Haupt. Der Bischof rief zwar: »Geben Sie acht!«, aber es war schon zu spät. Der Bischof fand, daß die langen, leuchtenden Massen roter Seide wie ein Vorhang vor ihm niederhingen.

»Sie haben sie unrichtig aufgesetzt,« bemerkte er ärgerlich.

Lukas versuchte den Fehler dadurch wieder gut zu machen, daß er den Hermelin verschob. Er ließ sich aber nicht von der Stelle schieben. Da wurde Lukas so hochrot wie die Seide. Er zog, schob und riß.

»Nehmen Sie sie herab!« befahl der Bischof.

Das war aber leichter gesagt als getan. Lukas hob sie und fand des Bischofs Kopf hoffnungslos in die mächtigen Irrgänge des seidenen Netzes verwickelt. Dann kam eine Reihe von Beschwörungen und Entschuldigungen, die den schrecklichen Kampf begleiteten, während jeder Augenblick den Bischof hoffnungsloser in die seidene Verschlingung zu verstricken schien. Die anderen Geistlichen rührten sich nicht. Ein schwacher Laut wurde hörbar. War es ein leises Kichern? Doch nein! Britischer Gleichmut und britische Selbstbeherrschung waren gegen die Versuchung gefeit, und keiner rührte sich von seiner statuenhaften Stellung, um den beiden Kämpfenden zu helfen. Das Schauspiel war zu gut, um es zu unterbrechen oder zu beendigen. Sie genossen es in englischer Art, indem sie einander anblickten. Gerade jetzt kam auch der Zeremonienmeister wieder herein. Er steckte seine Hände in die Taschen seiner Soutane, schaute sich ruhig um und rief laut: »Nun, das ist ja eine schöne Geschichte!« Dann sprang er hinzu, schob Lukas sanft mit einem »Bitte!« zur Seite und faßte mit seinen Armen unter die verwickelte Seide und den Hermelin, hob sie sanft in die Höhe, wendete sie herum, schlug die lange glänzende Schleppe zurück, und die Sache war wieder in Ordnung. Dann beorderte er alles vorwärts, und Lukas nahm mit brennendem Antlitz und vibrierenden Nerven seinen Platz in der Prozession ein. Er hatte Mühe, während der Vesper sich zu sammeln, und vergaß über der peinlichen Erinnerung seine ganze Predigt, bis Artur sich vor ihm verneigte und ihn zum Bischofe hinführte, um dessen Segen zu empfangen. Der Bischof sah seine Verlegenheit und ließ ihn, wie es nur ein Bischof kann, in unmerklicher und unsichtbarer Weise seine Güte fühlen. Dann stand Lukas auf der Kanzel. Den Schrifttext brachte er nur stammelnd heraus; dann aber kam er wieder zu sich und sprach die ersten vier Sätze seiner Predigt gut. Seine klare, metallische Stimme tönte langsam durch den großen, menschenüberfüllten Raum und drang in jede Ecke hinein, da er jede Silbe deutlich aussprach und jeden Endkonsonanten akzentuierte. Aber in einem unglücklichen Augenblick fielen ihm seine kleinen gaucheries in der Sakristei wieder ein, und da er sich schämte, verlor er den Faden seiner Rede und begann durch einige traurige Gemeinplätze zu tappen. Doch sein Stolz kam ihm wieder zu Hilfe und sein Herz fing an, Blut in sein Gehirn zu pumpen, bis alle seine Fähigkeiten neugestärkt ihre Arbeit wieder aufnahmen, die Lähmung wich und das treue und fügsame Werkzeug der Seele wieder gehorchte; und ohne Fehler oder Makel floß die schöne Predigt bis zu ihrem Schlusse dahin, und die Leute atmeten auf und sagten: »Das war gut!« Nach dem Segen kam der Bischof, noch bevor er sich seines Biretts entledigt hatte, gleich auf Lukas zu und schüttelte ihm warm die Hand mit den Worten: »Ich habe noch selten etwas so Schönes und Praktisches gehört!«, was aus dem Munde eines Engländers viel heißen wollte.

Am nächsten Tage saß Lukas in seinem Bibliothekzimmer. Der Arbeitsgeist hatte ihn erfaßt und hielt ihn im Banne, bis er fühlte, daß Arbeit, Arbeit, Arbeit das Elixier des Lebens sei. Er war entschlossen, sich mehr als je mit den Slums bekannt zu machen und aus ihrem Schmutz und Unrat die unsterblichen Seelen herauszuziehen, die darin lebten. Zu diesem Zwecke hatte er sich eine große Karte gezeichnet, die jede Straße, jede Allee, jedes Gäßchen und jeden Hof seines Distriktes enthielt, und er war eben damit beschäftigt, die letzte bessernde Hand an sein Werk zu legen, als die Türe sich öffnete und plötzlich der Bischof eintrat.

»Fleißig an der Arbeit, Delmege?«

»Jawohl, Mylord!«

»Was würden Sie zu einer Versetzung nach Aylesburgh sagen?«

»Nach Ay – Ay – Aylesburgh?« stammelte Lukas.

»Gewiß! Ich will Sie zu Drysdale senden. Er ist zwar ein rauher Brite, aber ein guter Mensch. Sie werden ihn lieb gewinnen. Bis wann sind Sie reisefertig?«

»Sobald Mylord belieben!« erwiderte Lukas etwas ärgerlich. Er dachte, das heißt soviel wie: In vierzehn Tagen.

»Es ist jetzt gerade drei Uhr. Um halb fünf Uhr geht ein Zug dorthin ab. Könnten Sie den noch erreichen?«

Da legte sich alles Lukas schwer aufs Herz, und er sagte steif, indem er sich erhob: »Wie Ew. Lordschaft befehlen!« –

Der Bischof hatte das Zimmer wieder verlassen, und Lukas packte seine Bücher und Kleider zusammen.

Da klopfte es leise an der Türe, und Vater Sheldon trat ein.

»Was ist denn los?« schrie er erstaunt.

Lukas wandte sich ab.

»Ja, was gibt's denn, Delmege? Wo gehen Sie denn hin?« fragte Vater Sheldon ganz erregt.

»Reden Sie mir nicht davon,« gab Lukas zurück und wandte sich wieder dem Eingetretenen zu. »Ja, ja, Sheldon, ihr seid hier alle gleich, eine echte Heuchlergesellschaft! Ich versuchte mich eines andern zu überzeugen; aber nun muß ich daran glauben.«

»Ich verstehe Sie nicht. Gehen Sie wieder nach Irland zurück?«

»Ich wollte, ich könnte das. Wenn ich mich nicht für sieben Jahre verpflichtet hätte, würde ich mit dem ersten Zug in die Heimat zurückfahren.«

»Aber um Himmelswillen, Mann, was ist denn los?«

»Nichts, als daß ich binnen einer Stunde von hier fort nach Aylesburgh muß, als ob ich die Pest hätte. Ich hätte das freilich längst denken können. Sobald sich ein junger Irländer nützlich macht oder sich etwas – auszeichnet, im selben Augenblick wird er in irgend ein gottverlassenes Nest abgeschoben.«

»Das wird wohl seinen Grund haben,« meinte Vater Sheldon mißtrauisch.

»Natürlich hat es seinen Grund, den ganz gewöhnlichen Grund der Eifersucht. Es würde mir nicht so nahe gehen, wenn der gute Bischof nicht so liebenswürdig und – heuchlerisch gewesen wäre, mir noch gestern Abend entschiedenes Lob zu zollen, und heute –«

»Das tut mir sehr leid,« bemerkte Vater Sheldon traurig.

»O diese englische Doppelzüngigkeit!« erwiderte Lukas bitter. »Ich bin sicher, daß niemand im ganzen Hause auch nur halb so froh ist wie Sie –«

»Mag sein,« gab Vater Sheldon zurück und ging.

Als Lukas den Korridor entlang schritt, hielt er einen Augenblick vor der Türe des Generalvikars inne und klopfte dann zaghaft an.

»Herein!« rief die wohlbekannte, rauhe Stimme.

»Ich gehe fort,« sagte Lukas kurz.

»Ich weiß es. Sie haben nur noch eine Viertelstunde übrig.«

»Es tut mir leid, Sie verlassen zu müssen,« erwiderte Lukas, ein Schluchzen unterdrückend. »Sie sind sehr gütig gegen mich gewesen, und ich konnte nicht weggehen, ohne Ihnen Lebewohl zu sagen.«

Der Generalvikar schrieb ein paar Zeilen. Dann faltete er das Papier, schloß es in ein Kuvert und händigte es Lukas ein.

»Gott mit Ihnen, Delmege!« Das war alles.

»Einer wie der andere,« dachte Lukas. »Kalt wie Eis!« Erst nach einer Woche öffnete er das Kuvert. Statt auf 7 Pfund Sterling 10 Schilling – so viel betrug sein rückständiges Gehalt – lautete der Scheck auf 15 Pfund Sterling.

Zwei Stunden Eisenbahnfahrt brachten Lukas, der traurig und enttäuscht war, an seinen neuen Aufenthaltsort. Er fuhr rasch zum Pfarrhof. Der Pfarrer war aber nicht zu Hause. Die Haushälterin ließ sein Gepäck in der Vorhalle stehen und zeigte ihm nicht einmal sein Zimmer. »Das ist wieder echt britisch und barsch genug!« murmelte er und ging zur Kirche hinüber. Das kleine Gotteshaus war recht düster und die Luft weihrauchgeschwängert. Er sprach ein kurzes Gebet und schaute sich dann die Kirche genauer an.

»Das ist keine Kathedrale mehr,« dachte er. »Da brauche ich meine Stimme nicht mehr anzustrengen.« Dann studierte er die Metalltäfelchen an den Bänken mit den Namen der Sitzeigentümer. Da war kein »Lord« zu sehen, nicht einmal ein »Sir«.

»Der Kanonikus wäre enttäuscht,« murmelte er. Er meinte sich selbst, ohne es zu wissen.

Er blickte auf einige Namen. Sie standen mit Kunst und Literatur in Zusammenhang. »Ich muß hier vorsichtig sein,« flüsterte er. »Ich will einmal sehen!« Er stieg den Altar hinan, schaute sich um und sprach in Gedanken zur blutigen Kreuzigungsgruppe auf dem modernen Chore hinauf. »Es wird gehen!« sagte er. Er meinte: »Ich werde es können.« Von neuem prüfte er dann die Täfelchen auf den Bänken. »›Die Fräulein Pardoe!‹« las er. »Bin begierig, wer sie sind! ›Fräulein von Eßler‹. ›Mademoiselle Deshayes‹, nun, das ist ja ganz kosmopolitisch! ›Jeremiah O'Connor‹. Halloh, Jeremias!

Quae regio in terris nostri non plena laboris?

›Arthur Heinrich Halleck‹! Kann das der Kritiker des ›Neunzehnten Jahrhunderts‹ sein? Nun, schließlich habe ich doch jemanden, mit dem sich sprechen läßt.«

Eben jetzt betrat ein Besucher in der Gestalt eines großen braunen, zottigen Hundes mit über und über krausem Fell die Kirche. Ernst und gemächlich schritt er das Schiff entlang, bis er Lukas erreichte, der ihn beobachtete. Ebenso gravitätisch hob er seine rechte Pfote empor, die Lukas sofort ergriff.

»Guten Tag, alter Bursche!« rief er. »Du bist der erste, der mich willkommen heißt! Ich möchte schwören, daß du ein Ire bist.« So gingen sie zusammen wieder zum Pfarrhof zurück. Diesmal war aber der Pfarrer zu Hause.

Er sprang aus dem Zimmer, der kleine bewegliche Mann mit grauem, wirrem Haar, und drückte Lukas geschäftig die Hand. »Sind Sie Herr Delmege?« rief er, ergriff die Hutschachtel und bedeutete Lukas, den Reisekoffer zu nehmen. »Kommen Sie nur mit in Ihr Zimmer! Sie werden es sich hier erst bequem machen müssen, wissen Sie! Na, da sind wir ja. Hier ist Platz für Ihre Bücher, ein Bett, Tisch und Stühle. Wollen Sie Tee trinken?«

»Zur gewöhnlichen Zeit,« gab Lukas kalt zurück. Ihm schien es, als ob man hier seine Würde kaum zu schätzen wisse. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen und blickte traurig im Zimmer umher. Sehr einladend sah es gerade nicht aus. Es war recht geräumig, aber auch sehr niedrig, hatte wurmstichige Dielen und Rattenlöcher in jeder Ecke, kurz, es machte den Eindruck eines lange unbewohnten Saales in einem alten Schlosse. Das einzig Gute darin war ein großes Fenster mit der Aussicht auf einen kleinen Grasplatz und eine lange Mauer, die zu einem wesleyanischen Konventikel gehörte, wie Lukas bald herausfand. Denn an den langen Sommerabenden und den langen Winternächten hörte er gar oft die unheilvollen Klagetöne kalvinistischer Hymnen, die von rauhen Männerkehlen oder dem schrillen Diskant weiblicher Stimmen heruntergesungen wurden und deren ewiger Refrain war:

O laßt uns fröhlich, fröhlich, fröhlich sein,
Wenn wir vereint, um nie mehr uns zu trennen!

Und da gab es eine Hymne, die nach Kalvinismus und Mißklang duftete und die morgens, mittags und abends in diesem traurigen Konventikel gesungen wurde. Sie verfolgte Lukas wie ein Gespenst, und er gestand, daß sie bis ans Ende seines Lebens sein Herz stets in die Hosen fallen ließ. Sie handelte nur vom erlöst! erlöst!! erlöst!!! sein.

»Wenn das die Freudengesänge der Auserwählten sein sollen,« dachte Lukas, »dann bin ich begierig, auf welch undenkbar niedrigeren Ton die Klagen der Verdammten gestimmt sind!«

Es war seine erste Einführung in das Düster und die Leere der englischen Religion.

»Und das sind die Leute, die durch ihre Schriftsteller, durch Dickens und Arnold und das Heer der weltbummelnden Zyniker die süße, sonnige Religion Italiens und Spaniens ins Lächerliche zu ziehen suchten! Aber sie brachten einen Faber hervor, Lukas! Das rettet sie etwas.«

Am nächsten Tage, einem Donnerstag, war Abendandacht mit Segen, zu der sich zu Lukas' Ueberraschung viele Andächtige einfanden. Und da bemerkte er auch die fast unsichtbare, aber schreckliche Demarkationslinie, die in allen englischen Kirchen die herrschende Rasse von den Heloten trennt. Die vorderen Bänke waren spärlich mit gutgekleideten, behäbigen Engländern gefüllt; die letzten zwei Bänke aber waren gedrängt voll ärmlich angezogener Irländer, deren bloße Haltung schon alles besagte. Und ganz hinten, im Dämmer der Vorhalle, im Schatten der Beichtstühle, drängten sich alle die Heimatlosen zusammen, breiteten ihre Arme in Andacht aus und ließen die Rosenkranzkugeln durch ihre Finger gleiten, wie einst auf den lehmgestampften Fußböden und in den reinlichen Hütten der irischen Berge. Lukas konnte es nicht mit ansehen.

»Steht auf und geht in die leeren Bänke vor!« befahl er energisch.

»Gott segne Ew. Hochwürden; aber wir sind lieber hier.« Und sie blieben, wo sie waren.

Es war sein erstes Renkontre mit seinem Pfarrer. In nicht gerade sehr gewählten Ausdrücken verurteilte er diese häretische Exklusivität im Hause dessen, der aller Vater ist.

»Es darf keine Klassenunterschiede hier geben, wie es keine am Tage des Gerichtes geben wird. Nach meinen Erfahrungen in England kann ich Ihnen sagen, Herr Doktor, daß das einzige Geheimnis der Kirche in der Formel liegt: Bewahre, was dir überkommen ist, und entwickle es, und vergeude deine Kräfte nicht damit, daß du auf steinigen Boden säest!«

»Nach Ihren Erfahrungen?« erwiderte Doktor Drysdale milde. »Sie sind wohl schon recht lange im Lande?«

»Zwei Jahre und ein halbes,« stammelte Lukas, der jetzt über seine Anmaßung errötete.

»Ich stimme ja sonst ganz mit Ihnen überein, mein lieber junger Freund,« fuhr der Pfarrer fort; »aber es sind nur einige praktische Schwierigkeiten da, die sich ja vielleicht mit der Zeit heben lassen. Wußten Sie zum Beispiel, daß hier eine akatholische Gasgesellschaft existiert, die darauf besteht, alle Vierteljahre bezahlt zu werden? Daß der Organist, trotzdem er ein guter Katholik ist, Brot und Butter braucht? Daß der Sakristan, trotzdem er ein sehr frommer Mann ist, doch wie ein Brite leben muß? Daß last not least ein sehr geschätzter junger irischer Konfrater, der vielleicht auch – oder habe ich nicht recht? – Oder können unsere idealistischen Mitbrüder jenseits des Kanals von der Luft leben, wie ein Ballon?«

»Ihr habt ihnen so schon nicht viel mehr übrig gelassen,« erwiderte Lukas, halb ärgerlich, halb belustigt.

Seine Erfahrungen hatten ihn schon so viel gesunden Menschenverstand gelehrt, daß er den Pfarrer fast bewunderte.

Am Sonntag Abend predigte Lukas und predigte gut. Er setzte kein sehr hervorragendes oder besonders intelligentes Publikum voraus, und seine Ruhe tat seinen Nerven wohl. Als aber sein geübtes Auge ein recht aristokratisches und gebildetes Auditorium entdeckte, nahm er sich zusammen und paßte seinen Gedankengang der gewählten Form an, die ihm entsprechen mochte.

»Sie haben jedenfalls schon von mir gehört,« flüsterte das liebe Selbst, »und erwarten sich etwas. Ich darf sie daher nicht enttäuschen.«

Und hier möge es auch hervorgehoben werden, daß Lukas in diesen zwei und ein halb Jahren aus Zeitschriften und Broschüren mehr theologisches Wissen auflas, als er sich in den vier Jahren seines theologischen Studiums erworben hatte. Und jetzt mußte er auch genauer studieren und seine Studien auf besondere Gegenstände anwenden, da er schon nach ein paar Wochen herausfand, daß er es nicht nur mit einer Gemeinde von Konvertiten zu tun habe, sondern daß seine Zuhörerschaft jeden Sonntag zu einem großen Teile aus Protestanten von jeder Art und Gestalt bestand, vom eifrigen Anwalt oder Doktor oder Bankier bis hinab zum Dragoner aus den Kavalleriebaracken, der während der Predigt Orangen für sein Herzensmädel schälte. Dieser letztere Zwischenfall störte Lukas' Gleichmut zuerst in bedenklicher Weise, und sein keltisches Temperament war schon daran, mit ihm durchzugehen; aber nach und nach gewöhnte er sich an diese unbeabsichtigte Unehrerbietigkeit, und nach ein paar Sonntagen bemerkte er sie gar nicht mehr.

Sodann fand er, daß Montag morgens oder am Dienstag ein Baptist, Sozinianer oder Unitarier ihn um eine Unterredung bitten konnte, um irgend eine Feststellung in der Predigt vom vorhergehenden Abend zu diskutieren; und Lukas wurde sich plötzlich gewahr, daß es noch viel zu studieren und zu bedenken gab, bevor er die Kruste des Eigendünkels durchbrechen konnte, die das Recht des eigenen Urteils umwuchert.

Doch wir eilen voraus.

Als er an diesem ersten Sonntag abends ins Pfarrhaus zurückkehrte und die Glückwünsche seines Pfarrers zu empfangen vermeinte, fand er das kleine Sprechzimmer voller Pfarrkinder.

Drei oder vier Familien waren da, vom ernsten, schweigsamen Vater und der lächelnden Mutter angefangen bis zu den erwachsenen Söhnen und Töchtern, mit ihren großen, schwarzen Augen und bleichen Gesichtern, ja bis zu den kleinen Kindern sogar, die forschende Blicke auf den neuen Kaplan hefteten. Das Gespräch drehte sich um die Frage, wer diesen hübschen, jungen Iren heute abend zu Gast haben sollte.

»Sie nehmen die Priester immer für sich ganz allein in Anspruch, Mr. Godfrey. Vater Collins haben wir nie zu uns bekommen können.«

»Das ist nicht schlecht! Wir sagten immer, Vater Collins lebe förmlich bei Ihnen.«

»Wir müssen einmal allen Ernstes eine Regel aufstellen, Mr. Godfrey, die nicht verletzt werden darf. Wir müssen Mr. Del – Del –«

»Delmege,« sagte Lukas, fröhlich dieser Schlacht zu seinen Ehren zulächelnd.

»Wir müssen Mr. Delmege jeden Sonntag abend und jeden zweiten Donnerstag haben.«

»Sie sind aber sehr habsüchtig und intolerant, Mrs. Bluett. Ich wende mich an den Doktor.«

Der Doktor streichelte eben einem fünfjährigen Mädchen die Haare und schaute jetzt auf.

»Ich mische mich nicht hinein,« meinte er achselzuckend. »Wenn ihr ihn teilen könntet, wie Salomon es mit dem Kind machen wollte, wäre es das beste.«

Mr. Godfrey trug indessen den Sieg davon. Lukas flüsterte seinem Pfarrer zu: »Soll ich mitgehen?«

»Auf alle Fälle. Aber bleiben Sie nicht länger als bis zehn Uhr. Man hat Sie dann um so lieber.«

Das war Lukas' erste Einführung bei einem guten Pfarrer, den er später immer als einen seiner teuersten und besten Freunde betrachtete, und in einen Kreis der besten und liebenswürdigsten Menschen, die er je kennen gelernt hatte. Von Zeit zu Zeit gab es zwar zwischen ihm und dem Pfarrer akademische Erörterungen, gewöhnlich über Politik, aber auch die wurden bald schweigend vermieden. Eine Zeitlang waren Lukas auch die Eigenheiten der englischen Lebensführung recht befremdend. So konnte er kaltes Roastbeef, Käse und Bier abends acht Uhr nicht mehr recht vertragen. Auch war es ihm unverständlich, wie ernste Männer von vierzig oder fünfzig Jahren stundenlang über dem stupiden Dominospiel sitzen konnten. Das Whist war ihm geradezu unerträglich. Ein andermal saß vielleicht die ganze Familie in tiefem Schweigen um den Kamin, in dem ein lustiges Winterfeuer flammte.

»Ist das nicht urgemütlich, Vater Delmege?« mochte dann wohl John Godfrey sagen, indem er seine lange Tonpfeife aus dem Mund nahm und eine mächtige Rauchwolke vor sich hin blies.

»Sehr gemütlich,« konnte Lukas antworten und bei sich selber hinzufügen: »Nicht gerade so schlimm wie im Zuchthaus, aber viel schlechter als im Kolleg.«

Aber er gewöhnte sich auch daran, und seine Nerven wurden allmählich zu der sanften Glätte herabgestimmt, die rings um ihn herrschte. Und Abgründe von Zuneigung und Liebe taten sich unter der eisigen Oberfläche vor seinen Augen auf; und jeder Tag zeigte ihm von neuem ihre sanfte, stille, zurückhaltende Güte, bis er sie liebte, diese ernsten, lieben Leute, und sie ihn wieder liebten.

»Pah!« pflegte er ärgerlich zu sich selbst zu sagen, »das ist nur ein Blatt Seidenpapier zwischen zwei Rassen, das Politiker und Journalisten mit Teufelsfratzen bemalt haben. Wann wird der große Mann auftreten, mit eiserner Faust die Hindernisse beseitigen und die zwei Völker einander in ihrem wahren Lichte sehen lassen?«

Und der große, weißhaarige Kanonikus daheim begann fortwährend in seiner Achtung zu steigen, und Lisnalee trat mehr als je in den Hintergrund.

Lukas hätte jetzt »Die Musterung« nicht mehr gesungen.

»Ich muß wirklich an Sheldon schreiben,« dachte er. »Ich bin bös mit ihm umgesprungen. Fast wäre ich versucht, auch an den Bischof zu schreiben und ihm zu danken. Doch das werde ich später tun.«


 << zurück weiter >>