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XVII.
Ein letzter Aphorismus

Es war leider so gekommen. Vater Tim war tot. Er hatte seinen kleinen Anteil an Weisheit besessen und ihn nun in den Born der ewigen, himmlischen Weisheit versenkt, die oh! so sicher, wenn auch unmerklich, die kleinen Strömungen unseres Lebens lenkt. Niemals war ein Philosoph so stolz auf seine Weltweisheit wie Vater Tim; niemals wußte ein Mann aber auch so wenig von der Welt. Seine glückliche Kenntnis des ersteren Umstandes und seine glückliche Unkenntnis des letzteren Mangels oder Segens machten ihn zu einem äußerst liebenswerten Manne.

Es war Frühling. In Vater Tims Pfarrei wütete die Influenza, die damals ebenso gefürchtet wie neu war. Vater Tim trottete Tag und Nacht auf seinem kurzbeinigen, dicken Pferde von einer Hütte seiner Gebirgspfarrei zur andern. Als die Epidemie dann nachließ und die Schäflein gerettet waren, da packte die tückische Krankheit den eifrigen Hirten und warf ihn tödlich darnieder.

Sein Freund und Nachbarpfarrer Vater Martin war darüber außer sich vor Kummer. Sein anderer Freund, Vater Pat, besaß zu viel medizinische Kenntnisse, um allzusehr besorgt zu sein. Aber er tat alles, was ihn seine Wissenschaft lehrte; und die Rezepte, die er verschrieb, waren in der Tat wunderbar. Aber ach! Vater Tim war ein Fatalist.

»Wenn eines Menschen Stunde geschlagen hat, was nützt es dann, die Zeiger der Uhr zurückrücken zu wollen?« sagte er. Darauf konnte man allerdings nichts entgegnen.

Und so entschloß sich denn Vater Martin an einem Märzabend dieses traurigen Jahres, seine Pflicht als Freund und Priester zu tun. Er machte seinen lieben Nachbar in aller Schonung darauf aufmerksam, daß seine Stunden gezählt seien und daß es hohe Zeit sei, sich zur letzten großen Reise zu rüsten.

»Du hast recht, Martin,« erwiderte schwach der Kranke, »es ist ein langer Weg, und da gibt es kein Zurück mehr. Es gibt aber auch keine Kreuzwege dort, Martin, auf denen man sich verlaufen könnte.«

»Das ist richtig,« gab Vater Martin zurück. »Nun wollen wir erst das Geistliche erledigen und dann das Weltliche.«

Die Zeremonie nahm nicht viel Zeit in Anspruch, und dann betete er das Glaubensbekenntnis.

»Es ist kein bloßer Glaube bei mir, lieber Martin,« schluchzte er; »ich sehe alles, Gott sei's gedankt!«

»Das ist gut, Tim!« sagte Martin tief gerührt. »Ich bin überzeugt, die seligste Jungfrau selbst wird dir nahe sein.«

»Ha, ha!« erwiderte überzeugt der sterbende Mann, »kein Wunder, wenn sie's täte, kein Wunder! Es wäre auch recht undankbar von ihr, und weißt du, das ist nicht ihre Art, wenn sie nicht am Fußende des Bettes stände, sobald das Licht verlöscht.«

»Und fürchtest du auch wirklich den Tod nicht?«

»Fürchten? Was denn fürchten? Nein! Besser bald als plötzlich, sagte ich immer. Und es ist eine Gnade, mit vollem Bewußtsein vor Gott hinzutreten.«

»Das ist richtig,« entgegnete Martin ernst. »Jetzt, wie steht's mit deinem Testament? Wo hast du es?«

»Da, im Schreibtisch liegt's,« murmelte der Kranke.

Vater Martin trat hin und fand nach kurzem Suchen das Gewünschte unter alten Quittungen und Papieren. Es war auf ein Notizblatt geschrieben und lautete, wie folgt:

»Im Namen Gottes, Amen.

Ich, Timotheus Hurley, mache hiemit meinen letzten Willen und mein Testament. Ich hinterlasse meinen lieben Freunden, Vater Martin Hughes und Vater Pat Casey, fünfzig Pfund Sterling jedem zu Messen für meine Seelenruhe, die sofort gelesen werden sollen. Bis dat qui cito dat. Ich hinterlasse meinem Nachfolger fünfzig Pfund für die Armen der Pfarrei. Dispersit, dedit pauperibus. Ich hinterlasse der ehrwürdigen Mutter des Präsentationsklosters in Limerick hundert Pfund für die Kinder der Klosterschulen. Sinite parvulos ad me venire. Ich hinterlasse der Oberin des Klosters vom guten Hirten in Limerick hundert Pfund für ihre armen Büßerinnen. Erravi sicut ovis quae periit. Ich hinterlasse meine Pfarrei, mit des Bischofs Einwilligung, Vater Pat Casey, denn er ist ein stiller und sparsamer Mann. Und mein Brevier vermache ich Lukas Delmege mit dem Abschiedswort: Halte deinen Kopf hoch und schätze dich immer selbst gut ein! Meine Seele vermache ich dem allmächtigen Gott und seiner heiligen Mutter, denn sie haben das beste Recht darauf.

Gezeichnet:
Timotheus Hurley, Pfarrer von Gortnagoshel.«

Vater Martin las das Dokument, ohne eine Miene zu verziehen. Dann meinte er: »Das ist eine gute Portion Legate, Tim. Nun, wo hast du denn diesen Reichtum aufbewahrt?«

»Reichtum? Was für einen Reichtum? Ich besitze keinen Pfennig, du findest denn einen in meiner Rocktasche.«

»Aber du hast doch, laß mich sehen, in diesem Testament über dreihundertfünfzig Pfund Sterling verfügt. Wie konntest du ein solches Testament machen, wenn du, wie ich schon ahnte, nichts besitzest?«

»Befahl uns denn der Bischof nicht bei Androhung der Suspension, innerhalb dreier Monate nach den Exerzitien unsern letzten Willen aufzusetzen?« verteidigte sich Vater Tim, mühsam nach Atem ringend.

»Natürlich! Das setzt aber doch voraus, daß man etwas zu testieren hat. Du bist sehr freigebig gewesen mit nichts, lieber Tim.«

»Nun, ich dachte, ein volles Maß sei besser als ein leerer Sack. Das ist sicher: wenn nichts da ist, können sie nichts bekommen.«

»Pat und ich werden die Messen jedenfalls lesen,« meinte Vater Martin.

»Gott segne dich, lieber Freund! Ich wußte es schon, daß Ihr es tun würdet.«

»Ich glaube auch kaum, lieber Tim, daß dir der Bischof das Recht einräumen wird, deine Pfarrei zu besetzen.«

»Nun ja, um die Wahrheit zu sagen, so habe ich auch gar nicht daran gedacht, daß er damit einverstanden wäre. Aber er liebt einen guten Witz. Und da sagte ich mir denn: Gut, Tim! Wenn seine Gnaden das hört, wird er sich die Hände reiben und sagen: Das ist ein guter Witz, und ich will ihn nicht verderben.«

»Aber Pat kann ja nicht predigen!« warf Vater Martin ein.

»Laß gut sein, Martin! Es wird überhaupt zu viel gepredigt. Wenn ich irgendetwas bedaure, so ist's, daß ich zu viel gesprochen habe.«

»Ganz recht, Tim, aber die Bischöfe brauchen eben Leute zum Predigen. Denk nur an deinen Selva; da steht's als erste Pflicht eines Pfarrers verzeichnet.«

»Und glaubst du, der Bischof wird den Witz durchgehen lassen?« fragte Tim schwach.

»Ich fürchte, nein. Gerade wegen des Predigens ist er schon sehr hart gegen Vater Pat gewesen.«

Es entstand eine längere Pause, während der der Atem des sterbenden Priesters nur stoßweise kam und ging. Dann trat wieder auf einen Augenblick eine Erleichterung ein.

»Martin!«

»Ja, Tim!«

»Martin, ich möchte dir so gern was hinterlassen,« sagte stockend der arme Priester.

»Ich zweifle nicht daran, lieber Tim.«

»Martin, nicht wahr, wir waren immer gute Freunde?«

»Allzeit, Tim.«

»Martin!«

»Ja, Tim!«

»Ich würde dir gern Tiny hinterlassen.«

Nun wurde Martin ebenso gerührt wie sein Freund, und er sagte: »Ich nehme sie aber nur unter einer Bedingung.«

»Was ist das für eine?«

»Daß du Tony dreingibst.«

»Gott segne dich, Martin! Ich wußte ja, daß ich mich auf dich verlassen konnte.«

Hier mag bemerkt werden, daß Tiny und Tony christliche Namen führten und christlich getauft worden waren. Sie waren die Kinder eines jungen Arztes, der nach Gortnagoshel gezogen war und sich nach verzweifelten Anstrengungen eine Praxis sicherte, die ihm jährlich hundert Pfund eintrug. Als er sich dann mit Mühe und Not diese Lebensexistenz verschafft hatte, holte er sich ein junges Weib heim, eine zarte Treibhauspflanze aus einem luxuriösen Dubliner Hause, der das neue Heim am Meeresufer wie ein Libyen vorkam. Aber die beiden Gatten waren trotzdem sehr glücklich zusammen, und ihr Glück wuchs noch, als Christine am Weihnachtstag getauft wurde und ein Jahr später Anton den Namen des Lieblingsheiligen seiner Mutter erhielt. Aber eines Tages breitete sich die düstere Wolke des Unglücks über sie. Der junge Arzt wurde in Ausübung seines Berufes vom Typhus angesteckt und starb. Und die junge Mutter ertrug trotz ihrer überquellenden Liebe zu ihren Kindern diesen Schicksalsschlag nicht und starb ihm bald nach. Und an diesem traurigen Abend, als ihre Seele zwischen Gott und ihren Kindern kämpfte, war es Vater Tim, der diese fromme Seele Gott zueilen ließ, indem er die Sorge für die Waisen auf sich nahm.

»Wahrlich,« sagte er, »es ist nicht schwerer, zwei zu speisen wie eines.« Und sie zogen mit ihm in sein Heim und wuchsen ihm immer mehr an sein liebreiches Herz.

»Weißt du wohl, Martin,« sagte er mit verlöschender Stimme, »du tust eigentlich zu viel. Aber Gott wird dich segnen.«

»Weißt du was, Tim, ich will die Kinder in mein Heim führen. Dann komme ich gleich wieder zu dir zurück.«

»Gott segne dich, Martin!« hauchte der Sterbende.

Das war leichter gesagt als getan, um eine banale Redensart zu gebrauchen.

Die Haushälterin kleidete Tiny und Tony um und führte sie feierlich ins Zimmer. Tiny strahlte in Rot und Weiß. Tony sah fast stolz aus. Er hatte die toga virilis angezogen bekommen und instinktmäßig seine beiden Hände in die Hosentaschen versenkt. Er sah neugierig von Martin zu seinem Pflegevater hin und jauchzte fast vor Vergnügen, als man ihm sagte, er müsse jetzt Abschied nehmen und von nun an bei Vater Martin am Meeresstrande wohnen. Tiny war anders geartet. Als man sie aufs Bett hob, um ihren Pflegevater zum Abschied zu küssen, schluchzte sie laut auf.

»Komm jetzt, Tiny,« mahnte Vater Martin, »wir wollen nach Hause gehen!«

»Nein, nein, nein, nein,« jammerte sie und schlug ihre Aermchen um Vater Tims Nacken. Wer sagt da noch: La donna è mobile?

»Martin!« sagte Vater Tim, mit dem Kinde weinend.

»Ja, Tim!«

»Ich meine, ich behalte Tiny bei mir, bis alles vorüber ist.«

»Ganz recht, alter Freund! In ein paar Minuten bin ich wieder da. Komm, Tony, alter Junge!«

Aus den paar Minuten wurden aber ein paar Stunden, und als Vater Martin wiederkam, war das Ende augenscheinlich ganz nahe.

»Martin!« hauchte der sterbende Mann.

»Ja, Tim!«

»Glaubst du, daß dieser Einfaltspinsel, der Daly, auch bei meinem Requiem zugegen sein wird?«

»Höchstwahrscheinlich, Tim. Die ganze Diözese wird sich einfinden.«

»Könntest du ihn nicht vom Chore fernhalten? Er ist ein greulicher Brüller.«

»Ich fürchte, nein. Du weißt ja, daß er gewöhnlich das Ganze leitet.«

»Wenn ich aber seine gellende Stimme höre, Martin, und sehe, wie er seinen Kopf im Kreise herumdreht, um zu sehen, ob die Leute ihn bewundern, dann drehe ich mich noch in meinem Grabe herum.«

»Sei nur beruhigt, Tim! Er stört dich nicht, ich verspreche es dir.«

»Martin!«

»Ja, Tim!«

»Willst du mir einen Psalm vorbeten!«

»Welchen, Tim?«

»Das Benedic – Martin! Du hast mir sein Verständnis erschlossen.«

Vater Martin griff nach dem abgenutzten Brevier und las den herrlichen Psalm. Er murmelte Vers um Vers, bis er zu der Stelle kam: Quomodo miseretur pater filiorum misertus est Dominus timentibus se; quoniam ipse cognovit figmentum nostrum. Recordatus est quoniam pulvis sumus; homo, sicut foenum, dies ejus; tanquam flos agri, sic efflorebit.

»Martin!«

»Ja, Tim!«

»Ich war nicht klar bei Sinnen, als ich vorhin von Daly sprach. Gib mir nochmals die Absolution!«

Vater Martin spendete ihm ein zweites Mal das Sakrament. Dann hauchte Vater Tim nach einer Pause: »Martin!«

»Ja, Tim!«

»Bist du da?«

»Ja, Tim!«

»Ich sehe – nichts – mehr. Aber sagte ich dir's – nicht – Martin?«

»Was?«

»Daß die – seligste Jungfrau – zu mir – kommen – würde!«

»Ja, das sagtest du.«

»Da – ist – sie, Martin!«

»Wo?« fragte Vater Martin starren Blickes.

»Sieh – hier – über ihrem Bilde! Ja,« fuhr er fort, zur Unsichtbaren hinsprechend, »ich bin bereit. Nimm – mich gnädig – a –«

Und Vater Martin blieb allein im Sterbezimmer.

Eine große Menge beteiligte sich an dem Begräbnis. Vater Daly sang die Antiphonen und die großartige Musik des katholischen Begräbnisrituals. Und ich muß leider sagen, daß er seinen Kopf ein paarmal im Kreise herumdrehte, um die Wirkung auf die Zuhörerschaft zu beobachten; aber der still im Sarge Schlummernde rührte sich nicht. Diese Dinge waren von nun an von keinem Belang mehr für ihn.

Als der weiße Kreis, den die versammelten Priester um das Grab schlossen, sich aufgelöst hatte, der Klagegesang des Benedictus verklungen und nur mehr der Tote und Vater Martin von der Geistlichkeit zurückgeblieben war, da drängte sich das Volk um das Grab. Und dann erhob sich allenthalben großes Klagen. Die Männer weinten stumm vor sich hin; die Frauen zeigten ihren Schmerz mehr nach außen. Die einen knieten nieder und schlugen mit flachen Händen auf den Sarg ein; andere erhoben die Hände gen Himmel; alle aber schrien: »Gott sei mit ihm, der dahingegangen!« Und dann erzählte man sich seltsame Geschichten von seiner Güte und Selbstaufopferung; und seine Lebensweisheit war zum Sprichwort geworden im Munde eines Sprüche liebenden Volkes.

Eine Frau meinte: »Wischa, was wird jetzt wohl aus seinen kleinen Waisen werden? Die haben wohl jetzt niemand mehr als den großen Gott!«

»Die sind jetzt bei Vater Martin drunten, Weib,« erwiderte jemand.

»Gott segne ihn! Er hat ein gütiges Herz. Aber der arme Vater Tim! Der arme Vater Tim! Der Himmel sei seine Ruhestätte heute Nacht!«

Es ist nichts Schlimmes, ein Gefühl gerechten Stolzes zu empfinden, wenn man eine große Entdeckung macht. Deshalb beglückwünsche ich mich selber zu der einzigen Entdeckung, daß das einzige Kennzeichen der Heiligsprechung eines Mannes durch das irische Volk das Wörtchen »arm« ist.

Wenn das irische Volk jemand heilig sprechen will, so nennt es ihn »arm«. Der Mann, den man mit diesem Eigenschaftswort belegt, ist eine bewunderte und geliebte Persönlichkeit. »Der arme Vater Tim!« »Der arme hl. Josef!« »Der arme Papst!« Ist es nicht bezeichnend für eine verarmte Rasse, der die Armut, die nicht selten in Hungersnot ausartet, das Erbteil ihrer Väter und ihr täglich Brot seit fast sieben Jahrhunderten ist, daß sie gerade dieses Wort wählt, wenn sie ihre Liebe und Zuneigung ausdrücken will? Glücklich der Priester, auf den man es anwendet; er hat des Volkes Herz gewonnen.

Auf den großen Kanonikus wandte man es nie an. Er war so erhaben, so groß und würdig, daß jeder fühlte, es würde unpassend sein. Aber wir haben eine Zuneigung zu ihm gefaßt, denn er war ein höchst ehrenwerter Mann; und diesmal wollen wir des Volkes Verdikt unbeachtet lassen oder vielmehr seine Unterlassung wett machen.

Der arme Kanonikus befand sich auf dem Wege der Genesung. Auch er war von diesem frechen, demokratischen Eindringling, der Influenza, angefallen worden. Aber er hatte einen Kaplan und Vater Tim keinen. Das machte den ganzen Unterschied in der Welt aus. Vater Tim eilte gen Himmel, der Kanonikus aber blieb im Tale der Zähren zurück. Und er war schwach und schlaff und niedergedrückt. Er hatte von seines Nachbars Hinscheiden gehört.

»Ein guter, armer Kamerad,« meinte er, »aber etwas ungeschliffen. Er war sonderbar und fast – hm – mittelalterlich; man konnte ihn kaum einen – hm – Weltmann nennen. Aber er war ein einfacher, ungeschminkter Priester.«

Das sagte er zu Barbara, die von Dublin herbeigeeilt war, um ihren Onkel zu pflegen.

»Wie ich höre,« gab diese zurück, in ihrer Herzensgüte immer bestrebt, etwas Liebes zu sagen, »war er der Pflegevater von Anna Bedfords kleinen Kindern. O, es war so traurig!«

»Unklug war es, mein liebes Kind!« bemerkte der Kanonikus. »Oder vielmehr eine ganze Reihe von – hm – Unklugheiten. Denke nur an die junge Dame, die die – hm – Bequemlichkeit und den Luxus ihres Heims in Dublin verläßt, um an solch einem entlegenen und – hm – unkultivierten Orte zu leben. Und noch dazu mit hundert Pfund Sterling im Jahr! Und dann die Unklugheit dieses – hm – ausgezeichneten Geistlichen, der die schwere und ernste Verpflichtung auf sich nimmt, die Waisen – hm – zu ernähren und zu erziehen. Wir werden nie hausbackene – hm – Klugheit in Irland lernen.«

»Sie haben einen Brief von Louis erhalten, nicht wahr, Onkel?« fragte Barbara, die dem Gespräch eine andere Wendung geben wollte.

»Ja, mein Kind!« Der Kanonikus schien eine Ahnung zu haben. Wie um etwas längst Gefürchtetem die Spitze abzubrechen, fuhr er fort: »Ich wünsche, Barbara, daß du – hm – immer bei mir bleibst, denn ich brauche dich. Ich werde dir die Schlüssel des Hauses übergeben.«

»Es tut mir sehr leid, Onkel, aber die Pflicht ruft mich anderswohin. Ich würde ja so gern Ihre Gefährtin sein, und das ruhige Landleben hier hat so viele Anziehungskraft für mich!«

»Die Mutter kann auch ohne dich auskommen, mein liebes Kind,« erwiderte er. »Und denke doch nur, wenn du dich verehelichst, dann müßte sie dich ja auch entbehren.«

»Es ist nicht die Mutter, die meiner bedarf,« antwortete Barbara unter Tränen, »sondern der arme Louis.«

»Dann hast du etwas gehört, was zu schwerer Befürchtung Anlaß gibt?« gab der Kanonikus zurück. »Ich dachte, Louis verspreche eine sehr gute –.« Er vollendete seine diplomatische Phrase nicht, um keine Lüge sagen zu müssen.

»Ich weiß nicht,« entgegnete Barbara, »aber ich habe Vorahnungen und bin ängstlich.«

»Du willst damit doch nicht sagen, daß er jetzt – hm – zu schlechter Gesellschaft neigt?«

»Ich weiß nicht,« murmelte sie. »London ist ein gefährlicher Ort.«

»Würdest du nicht vermuten, er hätte einen Hang zu – hm – ich kann mich schwer ausdrücken – zu – hm – Spirituosen?«

»Ich wage daran kaum zu denken!«

»Natürlich kam dir auch nie der Gedanke,« fuhr der Kanonikus mit vollendeter Diplomatie, in der er sich selbst für unübertroffen hielt, fort, »daß er vielleicht – hm – daß er – es ist das aber nur ein angenommener Fall – die Selbstvernichtung ins Auge gefaßt hat?«

»O Onkel, Onkel!« schrie Barbara im Uebermaß des Kummers, »warum sagten Sie mir das nicht früher? O Louis, Louis, ich werde es mir nie verzeihen können!«

Der Kanonikus war sehr gequält. Er haßte alle Szenen. Sie störten sein seelisches Gleichgewicht, und seine Nerven vibrierten noch stundenlang nachher. Und er hatte nun das Gefühl, es sei unvernünftig von Barbara, seine diplomatischen Andeutungen nicht ebenso diplomatisch entgegen zu nehmen. Frauen sind überhaupt so unvernünftig; ihre Ahnungen und Instinkte sind so viel schneller, als die Vernunft.

»Aber, Barbara, das ist doch unvernünftig und so gar nicht das – hm – was ich von dir erwartete. Eine junge Dame mit deiner Erziehung sollte sich ein – hm – gesetzteres Betragen angeeignet haben.«

»Aber, liebster Onkel, wenn das, was Sie angedeutet haben, auch nur im entferntesten wahr wäre, es würde über alle Maßen schrecklich sein! Der arme Louis! Wir haben ihn nicht richtig behandelt!«

»Bitte, Barbara, bitte, lassen wir jetzt den peinlichen Gegenstand! Mir ist nicht wohl. Ich bin ganz deprimiert – und solch quälende Gesprächsthemen sind – hm – sehr aufregend.«

»Es tut mir so leid, Onkel; aber wann könnte ich gehen?«

»Schon gut, liebes Kind,« antwortete der Kanonikus jetzt wieder in seiner natürlichen Güte, »ich denke, du hast recht. Ich darf jetzt wohl auch sagen, daß ich schon vor Monaten deiner hm – vortrefflichen Mutter bedeutet habe, daß Louis eine beschützende Hand – hm – brauche.«

»Die Mutter hat mir nie gesagt – o Gott – o Gott!« seufzte Barbara in ihrer Qual.

»Macht nichts, mein Kind; das hat nichts geschadet. Du kannst deine Vorbereitungen sofort treffen und nach London abreisen – hm – sobald es dir möglich ist.«

»Dank, tausend Dank, lieber Onkel!« rief Barbara; »ich werde, wenn Sie es erlauben, noch heute abend abreisen. Und Sie müssen mich nicht für grausam oder undankbar halten, daß ich Sie so verlasse. Aber Sie wissen –«

»Schon genug, mein Kind! Ich verstehe dich, Barbara. Ich werde dir Geld für die Reise mitgeben; und dann habe ich noch einen sehr schätzenswerten – jungen Freund – oder vielmehr ein Pfarrkind in London – einen jungen Priester, – ich denke, daß du ihn da einmal triffst.«

»Sie meinen gewiß Vater Delmege, Onkel,« rief sie. »O ja! Er ist sehr gütig gegen Louis gewesen – das heißt, ich meine – ich denke – er ist –«

»Ich gebe dir einen Brief an diesen trefflichen jungen Geistlichen mit und bitte ihn, dich in der – hm – außerordentlich schwierigen Aufgabe zu unterstützen, die du unternommen hast.«

Er schwieg einige Minuten.

»Noch etwas, Barbara!«

»Ja, lieber Onkel!«

»Wenn du es für gut hältst, oder es für – hm – vorteilhaft erachtest, Louis zurück nach Irland –«

»Vater und Louis scheinen einander nicht zu verstehen,« erwiderte sie traurig.

Der Kanonikus überlegte wieder.

»Ich meine,« sagte er dann, »Louis und du – aber es ist nur ein Vorschlag – möchten hier bei mir bleiben, solange bis eine gründliche Besserung – ich meine – Genesung eingetreten ist.«

»O Onkel, Sie sind zu gut; Sie sind wirklich zu gut! Ja, ich werde Louis zurückbringen; dann werden wir so glücklich zusammen sein!«

Und Barbara ergriff rasch die Hand ihres Onkels und drückte einen Kuß darauf. Er zog seine Hand nicht zurück und war auch nicht beleidigt.

Einige Tage später starrte Louis Wilson mit weitgeöffneten, farblosen Augen, in denen die Pupillen wie Nadelspitzen aussahen, und mit einem geisterhaft bleichen Gesicht auf eine Erscheinung, die zu ihm ins Zimmer trat. Und er träumte, es fasse jemand seine zitternde Hand und küsse ihn. Und die gute alte Haushälterin teilte nach ein paar Tagen den übrigen Inwohnern mit, daß ein Engel von Irland herübergekommen sei, um den armen jungen Herrn zu pflegen, und daß ihr Gewissen jetzt beruhigt sei. Und Barbara war sehr glücklich, denn die Sache stand doch noch nicht so schlecht, wie sie gefürchtet hatte; und sie wußte auch, daß sie einen guten Freund in London besaß, nämlich den hochwürdigen Herrn Lukas Delmege.

Und der Kanonikus erhielt einen Brief von seinem Bischof des Inhalts, daß Seine Lordschaft seinen Kaplan, den hochwürdigen Herrn Patrick Casey zum Pfarrer in einem fernen Teile der Diözese befördert habe und daß er ihm einen andern Kaplan senden wolle. Wer will nun behaupten, ein Bischof könne keinen guten Witz ertragen? Natürlich nur halbwegs! Denn Vater Pat wurde nicht Tims Nachfolger in Gortnagoshel, wie sein guter Freund gewünscht hatte. Er bekam aber doch schließlich seine Pfründe, und er verdankt seine Pfarrei dem tollsten und formlosesten Testament, das selbst ein Lordkanzler ausklügeln könnte.


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