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XXXV.
Eine Vorlesung über Biologie

Es war ein Glück für Lukas Delmege, daß diese flüchtige Berührung mit der besten Seite der menschlichen Natur seine Gefühle gegen die Menschen gemildert hatte. Er stand nämlich jetzt der tödlichen Versuchung gegenüber: der Versuchung, die Menschen zu verachten und zu fliehen und in einer solchen Gedankeneinsamkeit zu leben, daß ihm kaum mehr Zeit blieb, seine hehren Berufspflichten zu erfüllen. Die große Abstraktion »Menschheit«, die er in der hohen Atmosphäre des Gedankens fast angebetet hatte, war rauh zerstört worden und hatte nur den schmutzigen Niederschlag einiger elender Reste von Knochen und Staub zurückgelassen. Und die schrecklichen Enthüllungen des Grabes hatten ihn die ganze Nichtigkeit des menschlichen Lebens erkennen lassen. Auch die eingehende Betrachtung zeigte ihm, daß das gleiche Gesetz überall obwaltete: Das Leben entspringt dem Schoße des Todes und verfällt dann durch die Wirkungen eines unerbittlichen Gesetzes wieder dem Tode. Mit tiefem Mitleid sah er mit an, wie im Frühling die Knospen sich zu zarten, seidigen Blättern entwickelten und wie dann Frost oder Brand oder Mehltau ihre jungfrische Schönheit zerstörten; und kaum hatten sich durch den Frost des Oktobers die Blätter gefärbt, als auch schon kleine Knospen hervorschossen, um vom eisigen Atem des Winters wieder vernichtet zu werden. So offenbarten sich auch im schönsten Kinde Tod und Verfall. Kaum hat das Leben begonnen, so steht schon der Tod an der Wiege und sein Bote, die Krankheit, umflattert mit tausend Schwingen das junge Wesen, um sein Wachstum aufzuhalten und es zu zerstören. Faule Zähne und blutleere Lippen an jungen Knaben und Mädchen ergriffen ihn seltsam. Eine Drogerie mit all ihren Waren und Gerüchen – ihrem Jodoform, ihrem Chreosot und Karbol, den übelriechenden Mitteln gegen Zersetzung und Auflösung – machte ihn förmlich krank. Tod und Verfall verfolgte die ganze Natur wie ein schreckliches Gespenst. So gab auch Lukas in seiner Lektüre alles auf, was nur ephemer war. Geschichte konnte er nicht ausstehen. Was war sie denn anders als der Bericht menschlicher Leidenschaft und Torheit – das Dilettantenspiel einer Rasse, die Zeit und Langeweile mit ihren Schlachten und ihrer Diplomatie betrügen muß und deren Bühnennachäffung eine Tragödie wäre, wenn ihre Bedeutungslosigkeit sie nicht lächerlich machte? Nein. Es gab nichts Bleibendes als die Idee und die Seele; und Lukas wandte sich mit Ekel von seiner Rasse ab und suchte der Erde einzigen Friedenssegen in Einsamkeit und Nachdenken. Durch die Haltung seiner Mitbrüder wurde er noch mehr dazu getrieben, sich in sich selbst zurückzuziehen. Sie waren liebenswürdig, aber kritisch. Ihre rasche, ungestüme Art, die immer Handlung wollte, Handlung – ihre emphatischen Grundsätze, ihre Unduldsamkeit gegen Abstraktion und ihr Bestehen auf Tatsachen, und alles das, verbunden mit einem Idealismus, der ihm äußerst visionär und unpraktisch schien, nahm ihnen seine Sympathien. Er war in Gesellschaft stets unglücklich, außer wenn er mit seinem geliebten Pfarrer zusammen weilte, dessen liebevolle Güte all sein stürmisches Fragen hintanhielt. Und er ging oftmals in die Berge, die Bäche entlang und in die Tannenwälder und kam glücklich durch die Vereinigung mit dem Frieden der Natur wieder heim. Ein Tag auf den einsamen Bergen, wenn er auf der einfachen Brücke saß, die den gelben Gießbach überspannte, und Farren und Ginster ihn umwogten, und ein Hase aus dem Walde sprang und verwundert nach ihm sah, und das Vorbeischwirren eines Rebhuhns über seinem Haupte, und die reine, frische Luft, die ihn einhüllte wie den Fieberkranken ein kühles Gewand, und die schönen Fernsichten, die sich bis zu den in Duft verschwindenden Hügeln erstreckten, die den Lauf des majestätischen Shannon krönten, war ein unsagbares Vergnügen. Aber es war ungesund. Nicht im Handeln allein, oder im Denken allein, sondern in der Abwechslung von Denken und Handeln besteht das wahre Leben. Von dieser Krankheit wurde Lukas für einige Zeit dadurch geheilt, daß sich ihm Menschenherzen erschlossen. Und wenn er wieder in den Fehler zurückfallen wollte, dann bewahrte ihn die großmütige Zuneigung seines Volkes vor der Versuchung zur Verachtung.

Gleich nach den im letzten Kapitel erzählten Vorgängen machte Lukas auch zwei tapfere Versuche, in Berührung mit der Außenwelt zu kommen. Einige unzarte Bemerkungen, die über ihn gefallen waren, hatten ihn dazu veranlaßt. Es waren nur zwei einfache Phrasen, aber sie sagten so viel. » Sub nube!« Er hatte es nur flüstern gehört; aber wie viel lag nicht in diesen Worten! Und der grausame und ungerechte Ausspruch des Lactantius: » Literati non habent fidem,« der so gänzlich unrichtig war und doch so leicht über die Lippen eines Lieblosen floß, traf ihn zu tiefst, da er die bischöfliche Warnung in einen schweren Tadel erhöhte, der nur von der Mutter Kirche, aber nie von der Welt wieder genommen werden konnte. Er entschloß sich daher, in die Arena hinauszutreten, wie er so oft ins palaestrum seines Seminars getreten war, und vor der Öffentlichkeit zu zeigen, was er wert war. Zwei Wege lagen ihm offen: die Literatur und die Kanzel; zwei Waffen: das Wort und die Feder.

Er nahm seine Bücher wieder vor und begann emsig zu arbeiten. Er ließ sich volle Zeit zur Ausarbeitung, und in sechs Wochen hatte er einen Artikel für die Presse fertig. Es waren die glücklichsten sechs Wochen, die er verlebte, seit er nach Irland zurückgekehrt war. Arbeit ist Segen! Und voll Segen das Gebot: »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen alle Tage deines Lebens!« Er ließ seinen Essay sorgfältig maschinenschreiben, obgleich das damals eine kostspielige Neuheit war, und sandte ihn dem Redakteur einer großen Vierteljahrsschrift, die eben damals kühn ins Leben getreten war als das Organ für Wissenschaft, Literatur, Politik und Kunst, und alles, was im Lande Kultur hieß.

Nach einigen Wochen aber kam der Artikel wieder zurück mit folgendem Begleitschreiben:

»Redaktion des Indicator, 6. April 188–.

Mein lieber Lukas!

Ihrer Bitte gemäß und den Geboten des redaktionellen Gewissens folgend, habe ich Ihren Artikel von A bis Z gelesen. Wie dem berühmten Kritiker, der zum ersten Male das Werk ›Der Ring und das Buch‹ aufschlug, stieg auch mir dabei der schreckliche Verdacht auf, ich sei plötzlich verrückt geworden. Auf den Rat meines Mitredakteurs lasen wir den Artikel von hinten nach vorn; und da ging uns dann ein großes Licht auf. Nichts würde mir größeres Vergnügen machen, als einen alten Schulkameraden zu verpflichten; aber wenn ich Ihr Manuskript veröffentlichte, würde sofort im ganzen Lande eine Nachfrage nach weiteren Irrenanstalten entstehen, und die Aerzte hätten endlich eine greifbare Ursache für den Zuwachs an Irrsinn, statt ihn auf so etwas Harmloses, wie es der Tee ist, zurückzuführen. Wie ich jedoch Ihre Theorie über die Identität der Gegensätze akzeptiere, akzeptiere ich auch Ihren Essay, und in demselben Sinne finden Sie auch anliegend einen Scheck über 20 Pfund Sterling.

Ihr ergebener N., Redakteur.

P. S. Verzeihen Sie mir den redaktionellen Scherz, aber Sie sind wirklich hundert Jahre vor unserer Zeit zurück oder hundert Jahre ihr voraus. – Schreiben Sie mir doch etwas Praktisches, Sie landwirtschaftlicher Kaplan – z. B. über die Menge Nitrogen, die in einem Kubikfuß echten Guanodüngers enthalten ist oder etwas Aehnliches, das dem materiellen Gedeihen des Landes auf die Beine hilft. Lassen Sie aber Ihren Idealismus, und nicht nur zeitweilig, sondern für immer! Wie ich Sie beneide!

O fortunatos nimium, sua si bona norint!

Meine einzige Möglichkeit, mir Bewegung zu machen, besteht aus einem Klavierstuhl, der mein Dreifuß ist, und auf dem ich jeden Tag gewissenhaft dreitausend Drehungen mache. Und Sie lassen auf Ihrem feurigen Rosse die Erde hinter sich und erklimmen den Himmel. Weh mir!!!«

Lukas las den Brief drei- oder viermal. Er war enttäuscht; aber er konnte nicht zornig werden. Der Humor seines Schulkameraden entwaffnete ihn. Und es war gewiß ein guter Witz, daß Lukas Delmege, der Methodiker, Praktiker und Realist, vor den Gefahren einer überwuchernden Einbildungskraft gewarnt werden mußte.

»Der Mensch bleibt doch ewig rätselhaft,« sagte er, während er das Manuskript in die Tiefen seines Bücherschrankes warf.

Einige Monate später wurde er zu einem Vortrag in einem großen literarischen Klub in der Stadt eingeladen. Der Einladebrief gab zu verstehen, daß Lukas' Zurückziehen vom aktiven Leben der Kirche um ihn herum so gar nicht mit dem übereinstimmte, was man von ihm in England gelesen habe, und deutete leise an, daß ein Verharren in diesem einsamen Leben unfehlbar zur Einseitigkeit und Verschrobenheit führen müsse. Der Gegenstand des Vortrages wurde ihm selbst zur Auswahl überlassen, mit der einen Bedingung, daß er ein modernes Thema behandeln müsse.

Lukas durchsuchte sein Gedächtnis und seine Bibliothek nach einem modernen Sujet und entschied sich zuletzt für die Biologie, diese neueste Wissenschaft, als seinem Geschmack und den Fähigkeiten der Zuhörer am meisten angepaßt. Er arbeitete seinen Vortrag sorgfältig aus und sagte sich, dies sollte der letzte Versuch sein.

Es gab ein volles Haus; Priester wie Laien hatten sich sehr zahlreich eingefunden. Der Vorsitzende sprach von Lukas' glänzender Laufbahn im Kolleg und seinen späteren Erfolgen in England; und er redete so warm, so anerkennend, daß Lukas all seinen Aerger gegen die Menschheit hinschwinden fühlte, und all die bitteren Dinge, die ihm zu Ohren gekommen waren und die das heimliche Hinterbringen noch bitterer gemacht hatte, schwanden allmählich vor dem glücklichen Gefühl des Vertrauens, der Liebe und Dankbarkeit. Wann wird die Welt einmal den Zauber guter Worte verstehen lernen? Lukas machte sich Selbstvorwürfe. »Es ist nur Selbsterkenntnis,« murmelte er, »die mich unfreundlich gemacht hat.« Wahrlich, das Herz verbirgt Mysterien und Geheimnisse, die es selbst nicht ahnt!

Diese großherzige Einführung hatte es ihm angetan, und er sprach in der Trunkenheit seines angefeuerten Geistes. Auch seine Aufnahme seitens der Zuhörerschaft war herzlich, ja fast begeistert. Man erwartete von ihm etwas Außergewöhnliches und sollte nicht enttäuscht werden. Es war ein klar durchdachter, wohlgegliederter Vortrag, der immer Tatsachen und Gründe ins Feld führte; und als Lukas seine Rede damit schloß, daß er jede wissenschaftliche Tatsache willkommen hieß, moderne Hypothesen ablehnte und erklärte, daß der Ruf der Kirche stets gelautet habe, besonders aber jetzt lautet: »Licht! Mehr Licht! Damit alle Erkenntnis sich mehr und mehr ausbreite und schließlich aufgehe im ewigen Licht!« – Da erhob sich die Zuhörerschaft – meist junge Leute – und bereitete ihm eine Ovation, die ihn für all die langen Jahre unfreiwilliger Abgeschlossenheit entschädigte. Ein Mitglied des Klubs nach dem andern erhob sich und gab seiner Dankbarkeit und Genugtuung Ausdruck; schließlich gab es aber doch einen »kleinen Sprung in der Laute«, die so musikalisch in seine Ohren tönte. Denn ein Mitglied hielt eine komische Rede über die »Keimhäute«, »Keimsporen« und »Amöben«, die Lukas in seinem Vortrag behandelt hatte, und ein anderer gab seiner Befürchtung Ausdruck, der Vortrag sei nicht gesund und orthodox gewesen. Lukas errötete vor Aerger. Der Vorsitzende schritt ein. Er ergriff energisch Lukas' Partei, und da er ein Mann von ebenso umfassender Bildung wie tadelloser Ehrenhaftigkeit war, galten seine Ausführungen als entscheidend. Aber der Stachel blieb zurück. Und noch manchen Monat quälte sich Lukas mit der Frage ab, warum er desto mehr mißverstanden wurde, je genauer und tiefer er forschte und je sorgfältiger er sich ausdrückte. Er sprach sich einem Konfrater gegenüber ärgerlich über diese Tatsache aus.

»Ich würde Ihnen raten, Lukas,« sagte der, »sich an Grattan oder O'Connell zu halten oder an ein ehrwürdiges Thema wie: Die Vorzüge einer Republik im Vergleiche mit denen einer Monarchie, oder: War Napoleon ein größerer Feldherr als Wellington? Da können Sie nicht irren.«

»Ich habe aber nicht geirrt,« protestierte der arme Lukas.

»Natürlich nicht! Natürlich nicht!« erwiderte der Konfrater.

Unter der Zuhörerschaft befand sich an diesem denkwürdigen Tage auch einer, der durchaus unbefriedigt und geekelt war. Mathäus Shaugnessy war privatisierender Kaufmann, der sich durch Verkauf von Schinken und Butter ein hübsches Vermögen erworben hatte. Und nachdem dadurch für seine Familie bestens gesorgt war, hatte er den weisen Entschluß gefaßt, sich von seinem Geschäft zurückzuziehen und mit seinem prächtigen Weibe den Lebensabend in Frieden zu verbringen. Er war ein sehr frommer Mann, lieb, gut und wohltätig fast in übertriebener Weise. Aber er besaß eine Unvollkommenheit, nur eine, und die war sehr verzeihlich. Er war kritisch veranlagt, besonders in Dingen, welche die Religion oder die Kirche betrafen. Er zog immer seinen Hut – denn er war ein schrecklicher Formenmensch und gehörte noch zur alten Schule – wenn er einem Priester auf der Straße begegnete: sehr freundlich, wenn es ein bekannter, und sehr ostentativ, wenn es ein fremder war. Aber nie würde er einen Priester gegrüßt haben, der radelte. Er fand das unwürdig und unpassend.

An den Sonntagen saß er stets in der Nähe der Kanzel; und zwar so nahe, daß er den Priester gut verstehen konnte, da er etwas schwerhörig war, besonders auf dem linken Ohre; und doch wieder in solcher Entfernung, daß er ihn sehen und jeden Ausdruck und jede Bewegung beobachten konnte. Wenn das Tagesevangelium, das er in seinem Gebetbuch Wort um Wort mitlas, um zu konstatieren, daß es ganz genau stimmte, verlesen war, neigte er den Kopf etwas gegen die Wand und legte die rechte Hand übers Ohr, um besser zu hören. Wenn die Bemerkungen des Predigers ihm gefielen, begleitete er sie mit lebhaftem Kopfnicken und halblauten Bemerkungen wie: »Das ist gut!«, »Bravo!«, »Das glaub' ich ihm gern!« Wenn der Prediger belanglose oder unbedeutende Dinge berührte, kehrte er sich um, wischte seine Augengläser aus und las in seinem Gebetbuch. Er war ein scharfer Gegner der »politisierenden Geistlichen«, und fragte oft: »Was treiben denn nur eigentlich die Bischöfe?«

Am Abend vor Lukas' Vortrag hätte Mathäus, da er Ehrenmitglied des Komitees war, mit den Priestern und hervorragenden Laien vorn an den Ehrensitzen Platz nehmen sollen; und die Enttäuschung vieler, die sich einen Hauptspaß von seinen Bemerkungen über Biologie versprochen hatten, war groß. Aber er kam erst spät an – wie man sagte, absichtlich – und mußte sich mit einem Platz am äußersten Ende des Saales zufrieden geben. Er nahm ihn höflich ein, verbeugte sich liebenswürdig vor den jungen Leuten ringsum, zog sein rotseidenes Taschentuch hervor, legte es über seine Kniee, beugte sich etwas vor, faltete seine rechte Hand über sein Ohr und lauschte. Lukas führte gerade aus, daß Männer der Wissenschaft noch nicht völlig entschieden hätten, ob der Mensch ein regenerierter und voll entwickelter menschenähnlicher Affe oder ob der anthropoide Affe nur ein degenerierter Mensch sei. Und er führte Experimente an, die kürzlich in London an einem Affen, Sally genannt, vorgenommen worden waren; dieser Affe war imstande, bis zu zehn zu zählen, wenn man ihm Strohhalme in den Mund steckte. Mathäus' Gesicht zog sich bedenklich in die Länge, wie er so mit offenem Munde lauschte. Er traute seinen Ohren nicht. Er blickte vorsichtig herum, um zu sehen, welchen Eindruck diese sonderbaren Feststellungen auf den Gesichtern der umsitzenden jungen Leute hervorriefen. Diese waren übernatürlich feierlich. Er lauschte von neuem. Dieses Mal führte Lukas offenbar eine ganz gewöhnliche Sprache. Mathäus sah wieder im Kreise herum. Die jungen Leute schüttelten traurig ihre Köpfe und stießen einander an. Dann blickten sie auf Mathäus, wie um von ihm Aufschluß zu erhalten. »Ich hab' mir's ja gleich gedacht,« knurrte er. »Meine Ahnung hat mich nicht getäuscht. Hat je ein Mensch gehört, daß ein Priester solches Zeug redet?« Und dann gratulierten Präsident, Vizepräsident und Komitee um die Wette.

»Ich würde das nicht dulden, wenn ich an Ihrer Stelle wäre,« flüsterte ihm ein junger Mann zu, der in Mathäus' Gedanken wie in einem offenen Buch las. »Das ist eine arge Schande und Sie sind einer vom Komitee.«

Doch gerade jetzt griff der eine Kritiker den Vortrag an und äußerte schweren Zweifel an der Rechtgläubigkeit des Vortragenden. Mathäus war darüber entzückt.

»Der edle Mensch!« flüsterte er. »Nur zu! Greif' ihn an! Recht hast du! Leucht' ihm heim!«

Dann faltete er sein seidenes Taschentuch mit einem Seufzer zusammen, setzte seinen Zylinder auf und wandte sich um. Er sah erwartungsvolle Gesichter.

»Na!« sagte er, »wenn das nicht noch über Banagher geht, will ich – will ich – ein – Straßenprediger sein! Zum Kuckuck – was ist nur über unser Land gekommen?«

Er trat in die Nacht hinaus. Es war eine mondhelle, strahlende Nacht, mild und dufterfüllt. Die Straßen waren menschenleer. Das Auditorium war noch zum Schluß zusammengeblieben. Mathäus war verwirrt, erzürnt und beleidigt. Er mußte seinen Gefühlen freien Lauf lassen. Und da niemand sonst um ihn war, wandte er sich an den Mond.

»Beim Teufel! Das ist doch eine böse Geschichte! Man weiß ja nicht, steht man auf dem Kopf oder auf den Füßen mit diesen jungen Leuten! Hat man je so etwas aus dem Munde eines römisch-katholischen Priesters gehört? Pfui Teufel! Jim, der Maulesel, und Mike, der Schelm, Mathäus hat statt » gemmule« = Keimsporn » Jim, the mule« = Jim, der Maulesel, verstanden; ebenso statt microbe = die Mikrobe » Mike, the rogue« – Mike, der Schelm. (Anm. d. Uebers.) und Sally, die Aeffin! War das arme Weib nicht so gut genug, wie Gott sie schuf? Und wenn er sie nicht so hübsch machte wie eine junge Kokette, war das nicht seine Sache? Und warum soll jetzt so ein armer Mensch ein Affe genannt werden?«

Der Mond sah feierlich hernieder auf die kleinen Lebewesen der Erde, seiner eigenen Schönheit bewußt, aber er gab keine Antwort. Mathäus schritt weiter seinem Heim zu. Dann überwältigten ihn seine Gefühle abermals. Er schlug mit seinem schweren Stock auf die Steinfließen und wandte sich wieder an den Mond.

»Das war schlimm genug; aber als er zu fluchen und Gott zu lästern begann, meinte ich, das Dach müsse sich wegheben. Bei Gott! Das Ende der Welt ist nahe! Ich bin nur begierig, was Marie sagen wird!«

Marie war gerade am Kaminfeuer eingenickt, während die Katze zu ihren Füßen schlief und der Teekessel sang. Sie erwachte, als Mathäus eintrat, rieb ihre Augen und sagte schlaftrunken:

»Wirklich, Mattes, ich glaube, ich war gerade eingeschlafen. Nun, wie hat dir der Vortrag gefallen?«

Marie sah in ihrem schwarzen Seidenkleid und der goldenen Halskette sehr nett aus; aber Mathäus war zu aufgeregt, um solche Sachen jetzt zu beachten.

»Laß' mich in Ruhe, Weib!« knurrte er. »Wo ist das Essen?«

Marie sagte nichts, zog aber die Klingel. Sie war an diese Launen schon gewöhnt. Das Essen wurde hereingebracht, und unter allerlei brummigen Bemerkungen mischte er sich sein Getränk. Dann beugte er sich vor, schob seine Fingerspitzen zwischen die Kniee und sagte feierlich:

»Marie O'Shaugnessy, du und ich, wir leben schon lange auf dieser Welt, und werden vielleicht auch noch länger leben, wenn es Gott gefällt. Aber alle Vorträge und Darlegungen, die je da waren, sind heute Abend übertroffen worden.«

Er nahm jetzt einen Schluck. Marie wachte auf.

»Wenn es ein Methodist wäre, oder ein Presbyterianer, oder einer von den neuen Sekten, wie man sie manchmal da drunten reden hörte, wäre ich nicht überrascht. Aber ein römisch-katholischer Geistlicher, ein geweihter Priester Gottes, der morgen früh wieder am Altar stehen wird –«

Hier wurde Mathäus von seinen Gefühlen übermannt. Er streckte seine Hände mit einer Gebärde des Abscheus und unsagbaren Ekels aus, und trank dann wieder einen Schluck.

»Und von was handelte es denn?« fragte Mary, die ihrem Gatten in seiner Schwerfälligkeit, sich zu erklären, zu Hilfe kommen wollte.

»Wovon? Das will ich dir gleich erzählen! Es scheint, dieser junge Mann war in England; und dort, wie hier, nennen die Schufte Namen. Und was sollte das heißen, vor einer anständigen Versammlung über Jim als von einem Esel, und Mike als einem Schelm zu sprechen? Und das war noch nicht alles. Es war da eine arme geistesschwache Person, namens Sally; und was meinst du, was sie mit der gemacht haben? Sie führten das arme Weib auf einer Bühne vor und verlangten von ihr, sie solle bis zehn zählen. Und als sie es nicht fertig brachte, schoben sie ihr Strohhalme in den Mund und ließen sie dann einen Halm um den anderen wieder herausnehmen und sie so zählen. Aber«, fuhr Mathäus fort und setzte sein Weinglas nieder, »das war noch nicht das Schlimmste an der Geschichte. O Maria O'Shaugnessy, hast du je einen Priester fluchen hören?«

»Um Gotteswillen, Mattes, wie kommst du mir denn vor?« fragte Marie und blickte ihren Mann scharf an. »Fluchen? Ein Priester fluchen? Nein, weder ich noch du!«

»Auch ich nicht?« fragte Mathäus. »Bei Gott, ich hörte es. Und das nicht ein oder zweimale, sondern bei jedem zweiten Wort aus seinem Munde.«

»Wenn ich dich nicht so gut kennen würde, Mattes O'Shaugnessy«, bemerkte seine Frau, »so sagte ich, du träumtest.«

»Ich träumte ebensowenig wie du in diesem Augenblick«, erklärte Mathäus. »Egor, ich glaubte, das Dach würde über mir zusammenstürzen. ›Fluch dir, Johanna Ettik!‹ sagte er; ›Fluch dir, Jer Minahal! Fluch dir, Dermody!‹« Mathäus verstand auch hier Lukas' Worte » blastogenetic« = aus Keimen entstanden; » blastogerminal« = im Keime befindlich; » blastoderm« = die Keimhaut, ganz falsch. (Anm. d. Uebers.)

Mrs. O'Shaugnessy trat mit ihrem Pantoffel heftig gegen das Schutzgitter des Kamins; und ihre Augen sprühten Funken; aber Mathäus fuhr fort, mit der ganzen Ahnungslosigkeit eines dem Schicksal verfallenen Sterblichen, des armen Lukas' wissenschaftliche Terminologie gräßlich zu profanieren. Dann brach der Sturm aber plötzlich los.

»Weißt du, was ich nach all dem denke, Mr. O'Shaugnessy?« fragte sie mit erzwungener Ruhe.

»Gewiß etwas Gutes, Marie,« erwiderte Mathäus etwas erschreckt und überrascht.

»Ich glaube, Mattes O'Shaugnessy, daß du heute das Glas schon zu oft zum Munde gehoben hast«, sagte Marie und schlug mit ihrem Pantoffel auf den Boden.

»Wenn du damit meinst, Mary,« verteidigte sich Mathäus, »daß ich getrunken habe, so bist du arg auf dem Holzwege. Seit dem Tage, an dem mir Vater Mathäus vor fünfundvierzig Jahren das Versprechen abnahm, nur zweimal des Tages geistige Getränke zu mir zu nehmen, habe ich nie einen Tropfen getrunken und wenn ihn mir der Doktor auch als Medizin verordnet hat.«

»Warum kannst du aber dann deine Priester nicht in Ruhe lassen?« schrie Marie ihn zornig an.

»Zum Teufel, ich, Weib?« schrie Mathäus zurück. »Bei Gott, ich sterbe für meine Priester.«

»Warum schmähst du sie dann immer und kritisierst sie und beschimpfst sie? Meiner Treu, die armen Herren können's dir doch nie recht machen. Wenn sie in den Straßen ihrer Pflicht nachgehen, sollten sie zuhause sein; und wenn sie zuhause sind, ja, warum laufen sie denn nicht in den Straßen herum? Wenn sie zur Erholung nach Kilkee oder Lisdoonvarna gehen, dann verprassen sie das Geld der Armen; und wenn sie daheim bleiben, sind sie knauserig und armselig. Und wenn sie ein bischen ausgehen, nachdem sie den ganzen Tag über an der Arbeit gewesen sind, dann ziehen fromme Freßbäuche und Kirchenrutscher nicht einmal ihren Hut vor Gottesdienern herunter.«

»Um Gotteswillen, Weib, laß mich in Ruh'!« schrie Mathäus in Todesangst. »Ich will ja gern in den Straßenstaub liegen und die Priester über meinen Körper gehen lassen –«

»Ich sag's ja,« fuhr Mary, jetzt vollständig erregt, fort, »bei euren Parnelliten und euren Independeten und euren Feniers, da ist kein Respekt vor Gott und den Menschen. Ihr werdet bald dem Papst in Rom vorschreiben, was er tun soll. Aber es geschieht den Priestern eigentlich recht. Wie oft sagte ich nicht: ›Macht es, wie die alten Priester – gebt ihnen ein Stück ungebrannter Asche auf ihr Hinterteil, und sie werden euch achten.‹ Aber beim Himmel, die Priester der Kirche müssen ja jetzt ihre Hüte vor jedem jungen Ding abnehmen, das aus dem Institut heimkommt –«

»Nur zu!« sagte Mathäus resigniert und wandte sich seiner einzigen Tröstung zu. »Was die hl. Schrift sagt, ist wahr: Man kann weder ein brennendes Haus, noch ein scheltendes Weib aufhalten.«

»Und was wäret ihr denn ohne eure Priester?« fuhr Marie unbeirrt fort. »Wer schaut nach den Armen und Kranken? Wer geht in die Häuser, wo Krankheit und Fieber und Luftröhrenentzündung und Masern herrschen? Und wer steht hinten, vorn und in der Mitte von allem, was gut und schön – in unserm Lande – ist?«

»Aber Weib, ich leugne ja nicht, daß unsere Priester gut sind,« flehte Mathäus in Verzweiflung.

»Und ihr seid wie eine Schar kleiner Kinder, die ihren Mund aufsperren, um gestillt zu werden. Und es sind die Priester da und die Priester dort, die ihr braucht. Und recht wenig Dank bekommen sie für all ihre Mühe! Aber glaub' mir, Mattes O'Shaugnessy,« fuhr sie sehr feierlich fort, »und glaub es mir nochmal, daß einmal der Tag der Vergeltung kommen wird, und daß manch armes Geschöpf, das nicht so fromm tut wie du oder deinesgleichen, vor dir in den Himmel eingehen wird. Drum laß dir raten: Laß' die Priester in Ruhe! Sie gehören Gott an, und wenn sie irre gehen, so überlasse nur ihm die Sache!«

Nach diesem Sturmesausbruch herrschte zehn Minuten lang tiefes, feierliches Schweigen. Mathäus hatte die Sprache verloren. Was kann ein armer Mensch tun, als sich nach dem Cyklon in den Staub werfen? »Tik-tak« – machte feierlich die Uhr auf dem Kaminsims. »Tik, tik, tik, tik, tik,« machte Maries goldene Uhr in ihrem Gürtel. Schließlich erhob sich Mathäus mit einem tiefen Seufzer und begann einen Versöhnungstrank zusammenzumischen. Als er fertig war, flüsterte er voll liebenswürdiger Ergebenheit:

»Marie!«

Keine Antwort.

»Marie!«, sagte er jetzt etwas lauter.

»Nun?« erwiderte sie, ohne aufzublicken.

»Marie, ich will gerade einen guten Schluck für dich herrichten.«

»Laß das!« bemerkte Marie unfreundlich.

»Nein! Nein!« erklärte Mathäus. »Marie, ich habe schon lange beobachtet, daß du nicht mehr so ganz wie du selber aussiehst. Du hast zu deinem Frühstück heute nicht mehr als ein vierjähriges Kind gegessen. Du mußt zum Doktor gehen und jeden Tag etwas Nahrhaftes zu dir nehmen. Da, nimm' das!«

»Das ist zu stark!« erwiderte Marie und verzog das Gesicht über dem dampfenden Weinglas.

»Es ist nicht zu stark,« bemerkte Mathäus im Tone gerechten Unwillens. »Es wird dich aufrappeln!«

»Gieße etwas warmes Wasser dazu«, bat Marie.

»Nein, das werde ich nicht tun«, sagte Mathäus. »Soll es dich denn krank machen?«

»Ich lasse es einstweilen da, bis es kühl wird«, bemerkte Marie und stellte das Weinglas auf den Kaminsims.

Nach einer langen Pause, während der die Temperatur normal geworden war, sagte Marie:

»Der junge Priester ist ein Vetter von mir!«

»Welcher junge Priester?« fragte Mathäus mit erkünsteltem Unwillen.

»Der junge Prediger!«

»Du meinst Vater Delmege?« fragte er.

»Jawohl«, erwiderte Marie. »Er ist mütterlicherseits nahe mit mir verwandt.«

»Ja, warum hast du denn das nicht gleich gesagt?« fragte Mathäus. »Gibt es komischere Leute als die Frauen? Sie ziehen einen aus und aus und aus wie ein Fernrohr, um ihn zum Besten zu haben, und dann schieben sie einen wieder mit einem Schnapper zu. Aber deswegen sage ich es dir nicht ins Gesicht hinein, daß wir alle Ursache haben, stolz auf ihn zu sein.«

»Ich habe sagen hören, er sehe fein aus«, sagte Marie.

»Fein? Fein, das ist keine Bezeichnung für ihn! Er ist einer der vornehmsten Männer weit und breit.«

»Ich glaube, er wird mich aufsuchen, und wenn es auch nur seiner armen Mutter wegen ist«, bemerkte Marie.

»Meinst du, er kommt vielleicht noch heute abend?« fragte Mathäus aufgeregt.

»Wohl möglich, wenn er sein Abendessen beendet hat, könnte er leicht noch herkommen.«

»Dann tue ich besser, die Dinge da aus dem Wege zu räumen,« meinte Mathäus und entfernte hastig die Gläser. »Wie ich gehört habe, haßt er das, wie der Teufel das Weihwasser.«

Im selben Augenblicke hörte man ein fürchterliches Pochen an der Haustüre.

»Da ist er ja schon,« rief Marie, richtete sich auf und glättete die Falten ihres Kleides. »Schau ich so gut aus, Mattes?«

»Prächtig! Er wird stolz auf dich sein, wenn er dich sieht.«

Man hörte ein kurzes Zwiegespräch im Hausgange; dann tönte ein schwerer Tritt auf der Treppe. Auf ein furchtsames Pochen rief Mathäus: »Herein!« Die Türe öffnete sich aber nur ein wenig, die Magd steckte ihr zerzaustes Gesicht herein und sagte:

»Der Milchmann sagt, er wolle die zwei Pence für die Morgenmilch haben!«

»Zum Kuckuck mit dir und dem Milchmann!«, sagte Marie, in ihren Taschen herumgreifend. »Da!«

Aber am nächsten Tage sprach Lukas vor; und er war sehr vornehm, aber auch freundlich und sogar herzlich. Er hatte die Erkenntnis gewonnen, daß es in seinem alten Heimatlande und unter seinem schlichten, einfachen Volke große Schätze von Wärme und Liebe gab, gegen die der kalte, eiserne Schliff anderer Länder nur ein ärmlicher Ersatz war. Und Mathäus und Marie lebten noch tagelang von der Ehre, die ihnen widerfahren. Den Artikel in der Zeitung über den »Vortrag über Biologie« schnitten sie heraus und Mathäus ging damit herum und fragte alle Leute: »Haben Sie je so etwas schon gehört?« und »Wie ist es denn nur möglich, daß der Bischof diesen großartigen jungen Mann nicht in die Stadt versetzt?« Und Marie stellte auf ihren Kaminsims direkt neben das Porträt des Bischofs Lukas' prachtvoll eingerahmte Photographie. Und wenn jemand sie fragte, wen das Bild darstelle, erwiderte sie bescheiden:

»Meinen Vetter, Vater Lukas!«


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