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VIII.
Albion

Nicht die weißschimmernden Felswände von Dover, sondern der rote Lehmboden Devonshires begrüßte am andern Morgen den jungen Verbannten. Er hatte sich schon früh erhoben und war aus der schlechten Luft seiner Kabine nach oben geeilt, gerade als die Matrosen das Deck säuberten. Er atmete tief die frische Seeluft ein und ließ das Auge über das ewige Auf und Nieder der Wellen gleiten oder betrachtete die weißen Städte, die so malerisch unter den roten Hängen lagen. Das ist also England, dachte Lukas. Dieses England, dessen Name so furchtbar ist und dessen Macht von weißen, schwarzen und braunen Rassen anerkannt wird; dieses England, dessen Herrschaft von den Gipfeln des Himalaya bis zu den Alpen Neuseelands reicht! Lukas konnte das nicht recht verstehen. Es lag so ruhig da im Schimmer der Morgensonne, so friedlich und heiter, daß nichts das meerbeherrschende Albion verriet.

»Ich glaubte,« sprach Lukas laut zu sich selber, »jeder Einschnitt in Englands Meeresküste sei eine Schießscharte, und die Mündungen seiner Kanonen wären wie Vogelnester in seinen Felsen.«

»Das ist der Löwe, der ruht und schläft,« erklang es hinter ihm. Lukas wandte sich um und sah einen Schiffsoffizier neben sich stehen, eine schlanke, schmucke Gestalt in der kleidsamen blauen Dienstuniform mit den Goldschnüren. Sein Antlitz war nicht rot und bronzefarben wie die Gesichter der Matrosen, sondern hatte eine olivenfarbige Tönung, aus der zwei glühende, glänzende Augen brannten, die eben die Küste musterten, wie um nach einem Signal zu suchen.

»Ich habe oft dieselben Gedanken gehabt wie Sie, Sir,« fuhr er fort, »wenn wir bei schlechterem Wetter und stürmischerer See als heute hier vorüberfuhren. Es ist Englands schweigende und friedliche Macht, die furchtbar ist. Ich habe anderer Länder Macht zu Wasser und Land in all ihrer Größe gesehen, und sie hat mich kalt gelassen. Der Küste Englands aber nähere ich mich stets mit einem gewissen Gefühle banger Ehrfurcht.«

»Das ist wohl etwas, worauf man stolz sein darf,« erwiderte Lukas, der diesen Enthusiasmus wohl schätzte, aber nicht teilte.

»Vielleicht auch nicht,« gab der Offizier zurück; »das ist Schicksal.«

»Da ist Cornwalls Küste,« fuhr er fort und deutete auf einen weit zurückliegenden Nebelstreifen, in dem nur schwache Umrisse eines Landes zu erkennen waren. »Können Sie das glauben, daß zu Anfang dieses Jahrhunderts die ganze Halbinsel noch katholisch war? Die Leute hatten ihren katholischen Glauben seit der Reformation treu bewahrt. Dann waren keine Priester mehr da, Wesley kam, und nun sind sie die fanatischsten Dissenters in England. Und Cornwall wird die letzte Grafschaft sein, die zur Kirche zurückkehrt.«

»Das ist aber schrecklich!« sagte Lukas traurig.

»Und noch jetzt ist der protestantische Firnis so schwach, daß ihre Kinder immer noch katholische Namen führen, wie Angela, Ursula oder Therese; und sie haben noch so viele heilige Brunnen wie Sie in Irland.«

»Was muß das für ein Herzeleid für die Priester sein, die in solcher Umgebung ihre Seelsorge ausüben müssen!«

»Ich erwähnte das nur als eine Fügung des Schicksals,« meinte träumerisch der Offizier. »Es ist ein Beweis der assimilierenden Gewalt, die das protestantische England besitzt.«

»Sie sind gewiß stolz auf Ihr großes Vaterland?« fragte Lukas.

»Nein, das bin ich nicht.«

Lukas sah ihn erstaunt an.

»Irland ist mein Vaterland,« erwiderte der Offizier, »und das sind unsere Landsleute.« Er deutete auf das Hinterdeck, wo vier oder fünf Viehhändler betrunken am Boden lagen. Sie hatten während der Nacht die Wärme des Dampfkessels aufgesucht und wirkten in ihrem ungewaschenen und ungekämmten Zustande recht abstoßend. Unterdessen brüllte ihr Vieh und schrie nach Futter. Lukas wandte sich mit einem Seufzer von dem häßlichen Bilde ab.

Im Laufe des Vormittags kam dann das herrliche Panorama von Plymouth in Sicht. Hier sollte Lukas wieder enttäuscht werden. Alles schien so ruhig und friedlich, daß er es kaum verstehen konnte, daß hier zur Linken eine der größten Werften und Marineanlagen der Welt sein sollte. Und sein Auge schweifte das ganze Ufer entlang, bis es endlich unter dem dichten Buschwerk des Mount Edgecumbe einen langgezogenen Wall mit Englands Kanonenschlünden entdeckte.

»Wollen Sie landen?« fragte ihn der Offizier, mit dem er sich eben unterhalten hatte.

»Nein!« sagte Lukas unschlüssig.

»Nun, so lassen Sie mich Ihnen noch meine Frau und mein kleines Töchterchen vorstellen, wir steigen aus, da ich Margarete hier ins Kloster ›Unserer lieben Frau‹ zu den Nonnen bringen möchte.«

»Reisen Sie noch weiter, Vater?« fragte die Frau in der offenen irischen Art.

»Ja! Ich gehe nach London. Ich habe auch eine Schwester, die Margaret heißt.« Dabei sah er dem Kinde warm in die Augen.

»Wir werden rechtes Heimweh nach unserem kleinen Frauenzimmerchen bekommen, aber sie wird in guten Händen sein,« bemerkte der Offizier.

»Weißt du, was Marguerite heißt, liebe Kleine?« fragte Lukas.

»Nein, Vater!« erwiderte das Kind.

»Es heißt soviel wie Perle. O sei du,« sagte er ungewöhnlich feierlich, »eine Perle von hohem Werte!«

»Bitte, segnen Sie sie, Vater!« flehte die katholische Mutter.

Und Lukas segnete das Kind.

Diesen ganzen Tag verfolgten ihn fortwährend zwei Gedanken, sobald er sein Brevier weglegte. Einmal das widerliche Schauspiel der betrunkenen Männer, die er am Morgen gesehen hatte. Sie waren dann von ihrem heißen und harten Lager aufgestanden und noch halbtrunken an ihm vorbeigetaumelt mit einem »'Nen Morgen, Vater!« Und er mußte unausgesetzt dem großen Problem nachsinnen, das die Welt schon mehr beschäftigt hat als die meisten andern Probleme. Woher denn dieser entsetzliche Hang zur Trunksucht, der der ganzen Rasse eigen zu sein scheint? Ist's Trägheit, Gedankenlosigkeit oder der fatale Altruismus des Stammes? Was kann's sein? Vielleicht gar nur eine politische Verleumdung?

Und gleichzeitig mit diesen bitteren Gedanken drängte sich ihm die Frage auf: Warum lassen irische Mütter ihre Kinder nicht in der Heimat erziehen? Haben wir denn keine Klöster und Erziehungsanstalten? Und sind es denn nicht irische Nonnen, die hier in Plymouth und überall in England lehren? Liegt's etwa in der englischen Luft, daß dieselben Lehrer hier besser wirken können als in der Heimat? Oder ist es die ewige Knechtschaft der unterdrückten Rasse, das feige Kriechen vor dem Eroberer, das mangelnde Vertrauen zum eigenen Können? Grüble nicht, Lukas, laß es gehen! Aber Lukas war nicht aus solchem Stoff. Er hatte eine entschiedene Vorliebe für unlösbare Probleme.

Spät abends hörte Lukas denselben Offizier, mit dem er sich unterhalten, im geläufigsten Französisch mit einer Erzieherin reden, die eben von Irland in ihre Heimat zurückkehrte. Er horchte hin, nicht aus Neugier, sondern nur um zu sehen, ob er die französische Unterhaltung verstände. Er verstand kein einziges Wort, und doch hatte er in seinem philosophischen Jahre den Preis im Französischen erhalten! An den Galgen mit Wegscheider und den Monophysiten! dachte Lukas.

Wegscheider und Monophysiten liegen zwar weit auseinander; aber so geht's, wenn die Schulmeister zuviel von ihren Zöglingen verlangen.

Am andern Tage bog das Schiff in die mächtige Seestraße ein, die London mit dem Meere verbindet. Der Gang des Schiffes wurde verlangsamt, denn man befand sich auf einer Hochstraße des Welthandels, wo man nur mit größter Vorsicht vorwärts kommen konnte. Denn überall die Ufer entlang befanden sich in kurzen Zwischenräumen, wo die tätige Menschenhand Werften und Quais erbaut hatte, Wälder von Masten und Segelstangen, die in den Himmel aufragten. Und hin und wieder tauchte ein stattlicher Dampfer aus dem ewigen Nebel auf und schwoll und wuchs rasch zu kolossalen Dimensionen an; dann wurde er wieder kleiner und kleiner, bis er nur mehr ein Wasservogel schien, der die ruhigen Wasser mit flüchtigem Schreie stört. Schiffe für den Orient, mit Waren aller Art beladen – vom Mechanismus einer Lokomotive bis zum Götzenbild aus falschem Golde fürs ferne Cathay; Schiffe für den Occident, bis zum Wasserrand voll beladen und gedrängt voll mit Tuchballen und Leinwand aus den Webereien Manchesters gepfropft; Schiffe fürs Kap der guten Hoffnung und die stillen Inseln des Großen Ozeans; Schiffe nach West-Indien und den Bermudasinseln, von wo die Natur vergeblich sie mit fürchterlichen Erdbeben und der Gewalt ihrer Teifune zu vertreiben gesucht hatte; Schiffe, die heimkamen aus fernen Zonen und die rauhen Zeichen überstandener Stürme noch an ihrem Rumpf trugen, und deren Matrosen auf die altvertrauten Bilder von Land und See starrten – wie Weberschiffchen in Feenhänden, die durch das Gewebe vieler Wasser hin- und herschossen, so kamen und gingen die Flotten des großen Reiches, und Lukas war es, als sähe er die ganze weite Welt wie in einem Zauberspiegel, und er roch die Spezereien von Sultanen und den Moschusduft der Gärten Persiens, als die stattlichen Handelsschiffe vorbeifuhren. Es war ein großartiges Schauspiel und erinnerte an die Zeiten, als das Mare Magnum von den Rudern römischer Dreiruderer durchfurcht wurde und schwarze Aethiopier auf den Galeeren ihrer römischen Herren schwitzten. Dann zerrann die Vision, und in der rauhen Kälte eines ausnahmsweise kühlen Morgens schritt Lukas durch den Durchgang und blickte auf den mächtigen Abzugskanal eines Flusses hinab, und trat dem Schmutz und Auswurf Londons entgegen.

In der Metropole angekommen, wurde er höflich, aber kühl im Pfarrhof, der nächst dem Dome lag, empfangen. Er war nicht wenig überrascht, daß man seiner Ankunft nicht mehr Bedeutung beimaß, als etwa dem Schließen einer Türe oder dem Ticken einer Uhr. Ebenso verwunderte er sich, daß man seiner Anwesenheit bei Tisch keine größere Beachtung schenkte, als ob er schon seit zwanzig Jahren dort gesessen hätte.

Es überraschte ihn, als man ihm sagte: »Delmege, wenn Sie Brot wollen, dort am Seitentisch liegt es. Aber bitte, schneiden Sie immer glatt ab!«

Und es amüsierte ihn, als einer fragte: »Ist es wahr, Delmege, daß es irische Kapläne gibt, die Diners zu einer Guinea pro Kopf veranstalten?«

»Ich habe schon mit Kaplänen und selbst mit Pfarrern gespeist, und das Kuvert kostete keinen Cent.«

»Das können Sie Matrosen aufbinden,« war die Antwort.

Es berührte ihn angenehm, und doch verblüffte es ihn wieder, als ihn derselbe Konfrater sofort nach dem Diner in die Slums führte und ihm heimkehrend eröffnete, er müsse abends noch eine Predigt halten.

Was ihm aber am meisten imponierte, das war die ruhige Gelassenheit, mit der jeder seine Meinung aussprach, und wie jede Meinungsverschiedenheit und jeder Widerspruch von allen respektiert und ruhig hingenommen wurde. Das blieb eine Quelle steten Staunens für Lukas während seines ganzen Aufenthalts in England.

Am nächsten Freitag mußte er sich einem kleinen Examen unterziehen. Der Generalvikar und der Diözesaninspektor, ein anglikanischer Konvertit, waren seine Examinatoren.

Ohne jede Einleitung sagte der Vikar: »Was würden Sie mit einem Konvertiten tun, von dem Sie wissen, daß er niemals getauft wurde, jedoch heiratete und erwachsene Kinder besitzt?«

»Ich würde mit äußerster Vorsicht zu Werke gehen,« antwortete Lukas, dem die Frage sehr dreist und weit hergeholt schien. Er hatte entschieden erwartet, darnach gefragt zu werden, wie viele gelehrte Professoren auf der einen und wie viele hervorragende Schriftsteller auf der andern Seite irgend eines abstrusen theologischen Problems ständen.

»Sehr gut,« sagte der Generalvikar, »und dann?«

»Ich würde die Sache auf sich beruhen lassen.«

»Sehr gut. Aber diese guten Leute sind doch nicht verheiratet. Dürften Sie sie in diesem Zustand belassen?«

»Es hängt davon ab, ob sie bona fide oder mala fide sind,« antwortete Lukas errötend.

»Natürlich sind sie bona fide. Informieren Sie sich mal über den Fall, sobald Sie Zeit finden,« schloß der Generalvikar.

»Wie würden Sie die Gründe für die Kontinuität der anglikanischen Geistlichen widerlegen?« begann setzt der Inspektor.

»Wie soll man denn einem Irrsinnigen beweisen, daß schwarz nicht weiß und gestern nicht heute ist?« gab Lukas gereizt zurück.

»Das wird kaum gehen,« erwiderte der Inspektor und lächelte überlegen; »denken Sie, daß Sie Laud und die Elisabethaner und Pusey mit dem Heer der Theologen der Viktorianischen Aera jetzt vor sich haben.«

»An derlei Dinge haben wir gar nie gedacht,« entgegnete Lukas; »wir glaubten, die alten Lehren von der Transsubstantiation, vom Fegfeuer, der Beichte usw. seien die Gegenstände der heutigen Kontroverse. Kein Mensch in Irland denkt auch nur im Traum daran, zu leugnen, die Reformation sei keine vollkommene Scheidung gewesen.«

»Schon gut, schon gut. Noch eine andere Frage. Ich nehme an, Sie hätten einen Versehgang ins St. Thomasspital zu machen und bei Ihrer Ankunft fänden Sie die Aerzte im Begriff, eine Operation an einem katholischen Kranken zu vollziehen, die voraussichtlich tödlich verläuft; was würden Sie in diesem Falle tun?«

»Ich würde sie höflich bitten, die Operation für ein paar Minuten zu unterbrechen –«

»Und meinen Sie denn, sie würden ihre Messer einfach beiseite legen und den Kranken im Stich lassen?«

»Ich würde dem Patienten bedingungsweise die Absolution erteilen,« gab Lukas schüchtern zurück.

»Sehr gut. Sie würden also nicht – – die Aerzte so einfach niederschlagen und das Zimmer räumen?« fragte der Generalvikar lächelnd.

»Nein,« erwiderte Lukas, der ernstlich aufgebracht war. Gütiger Himmel! Hatte denn hier noch niemand eine Ahnung von Wegscheider?

»So ist's recht,« sagten die Examinatoren. »Sie werden heute Nachmittag Ihr gedrucktes Formular erhalten. Morgen von 2-6 und von 7-10 Uhr haben Sie Beichte zu sitzen. Guten Tag!« –

Lukas ging auf sein Zimmer zurück. Er war noch nie in seinem Leben so übler Laune gewesen. Er hatte erwartet, sein Wissen zeigen zu können. Aber ach! Nicht eine einzige gelehrte Frage, wie er sie in alten, staubigen Folianten studiert hatte, war an ihn gerichtet worden! Statt dessen waren Nichtigkeiten und Alltagsvorkommnisse verhandelt worden. Nicht ein einziges Mal hatte er sein » Sic argumentaris, Domine!« vorbringen können. Diese Leute hatten jedenfalls noch nie in ihrem Leben etwas von Syllogismen gehört. Und dann war alles so kurz und bündig. Augenscheinlich hatte man hier mehr zu tun, als Haarspaltereien mit einem jungen Irländer zu treiben. Lukas war ärgerlich über sich selber, über sein irisches Kolleg, über diesen lächelnden anglikanischen Expfarrer, der wahrscheinlich nur zwei Jahre Philosophie und Theologie vor seiner Ordinierung studiert hatte; und nicht zuletzt über diesen schrecklichen, spöttischen alten Generalvikar, der jedenfalls keine Abhandlung mehr gelesen hatte seit seiner Studienzeit in Douai oder Rheims. So kam es, daß Lukas bei Tisch, als ein fremder Priester gelegentlich fragte, wie viel Prozent Analphabeten in der Diözese seien, und der alte Vikar bitter antwortete: »Ungefähr fünfzig Prozent – meist Iren und Italiener,« auffuhr und heraussprudelte: »Nicht wahr, damals waren wir keine Analphabeten, als wir einst den christlichen Glauben euren Ahnen predigten, die Eicheln aßen mit den Bären ihrer Urwälder und ihre schmutzigen Leiber mit Waid färbten; damals, als eure Könige froh waren, in unsern Klöstern eine Erziehung zu bekommen, wie sie sie sonst nirgends auf der Welt erhalten konnten!«

Der Fremde klopfte Lukas auf die Schulter und rief: »Bravo!« Der Vikar aber warf den Bierkrug um. Doch wurden sie Freunde von diesem Augenblick an. Er war ein richtiger, derber alter Berserker, dieser Vikar; seine stahlblauen Augen funkelten ununterbrochen unter seinen mächtigen grauen Brauen hervor, und seine helle, metallische Stimme, der alles Einschmeichelnde und Süßliche fremd war, erging sich in einem sarkastischen Sprühregen auf Bischof, Kanonikus und Kaplan ohne Unterschied. Er war der Mann, einen niederzudonnern und im nächsten Augenblick vor ihn hinzuknien und seine Schuhriemen zu knüpfen. Er besaß auch einen ausgeprägten Sinn für das Haushalten. Nicht daß er sparsam oder gar geizig gewesen wäre! O nein! Er konnte es nur nicht sehen, wenn einer Marmelade auf den Aermel seiner Soutane fallen ließ oder die Suppe aufs Tischtuch verschüttete.

Der Samstag nahte heran, und Lukas bereitete sich auf den zweiten großen Akt seines Priesteramtes vor, seine erste Beichte. Die letzte Nacht hatte er noch flüchtig eine Abhandlung über das Bußsakrament gelesen; dann schritt er Schlag zwei Uhr, mit Furcht und Zittern, zu seinem Beichtstuhl. Ein kurzes, inniges Gebet verrichtete er noch vor dem Tabernakel, dann glitt er an den Beichtenden vorbei ins Dunkel des Beichtstuhles hinein. Er sammelte sich da einen Augenblick, dann zog er den Schieber. Eine vor Erregung bebende Stimme begann das Confiteor auf irisch. Lukas fuhr auf bei den wohlbekannten Lauten und flüsterte: Deo gratias! Es war ein alter Matrose und seine Beichte war kurz.

Aber Lukas fielen da alle die schrecklichen Dinge ein, die man ihm über schweigsame und zurückhaltende Beichtkinder erzählt hatte. Die Folge war, daß der arme Ire eine Lektion erhielt, wie er sie noch nie in seinem Leben gehört hatte.

»Ich muß doch ein größerer Sünder sein, als ich mir immer eingebildet habe,« murmelte der Mann. »So wurden mir die Leviten noch nie gelesen!«

Lukas schob jetzt den Schieber der linken Seite zurück, und diesmal flüsterte die Stimme eines jungen Mädchens in irischem Dialekt: »Ich wollte eigentlich nicht zur Beichte, Vater; aber ich hörte, Sie kämen von Irland herüber, und da wollte ich Sie um Ihren Beistand bitten, mich aus der Hölle zu befreien.«

»Ich will Ihnen gern helfen, mein Kind, soviel ich's vermag; warum sagen Sie aber, daß Sie nicht beichten wollen?«

»Weil ich nicht vorbereitet bin, Vater. Ich bin seit fünf Jahren nicht mehr zur Beichte gewesen; seitdem ich die Klosterschule verließ, nicht mehr.«

»Waren Sie die ganze Zeit in London?«

»Ja, Vater. Ich bin sehr schlecht gewesen. Aber das ist die Hölle, Vater, und ich will aus ihr herauskommen.«

»Aber inwiefern kann ich Ihnen helfen?«

»Wenn Sie mir die Ueberfahrt nach Waterford zahlen wollen, Vater, dann will ich mich vollends durchbetteln zu meinem Onkel in der Grafschaft Kilkenny. Und so wahr mir Gott helfe, Vater –«

»O!« seufzte Lukas, während ihm der kalte Schweiß aus allen Poren brach. Es war das erste Mal, daß er der Verkörperung des Lasters ins Angesicht sah.

Sein nächstes Beichtkind war ein kleines Ding, mit einem ruhigen englischen Gesicht und langen, goldblonden Locken. Ihre schwarzgekleidete Mutter führte sie an den Beichtstuhl und blieb, bis sie dort eingetreten war. Im Gegensatz zu den irischen Kindern, die voller Lebhaftigkeit sind, kühn ihre schwarzen Locken zurückschütteln und gönnerhaft ihrem Freund, dem Beichtvater, zulächeln, als wollten sie sagen: »Nicht wahr, du kennst mich?« sprach dieses Kind langsam und deutlich das vorgeschriebene Gebet, brachte seine Beichte vor und wartete sodann. Hier war Lukas in seinem Elemente. Er hob diese Seele bis in den Himmel durch die schmeichelnden, lieben, feurigen Worte über unsern Herrn, seine Liebe und die Dankbarkeit, die wir ihm schulden. Und das Mädchen ging mit dem Lächeln eines Engels auf seinem Antlitz aus dem Beichtstuhle. –

»Wischa, Hochwürden, mir ging das Herz auf, als ich Sie sah. Er ist gewiß vom alten Land, sagte ich zu mir selber. Auf seinen Wangen liegt noch das Rot der irischen Heimat, und der Geruch des alten Landes hängt noch in seinen Kleidern. Wischa, Hochwürden, darf ich mir die Freiheit nehmen und fragen, aus welcher Gegend des alten Landes Sie sind?«

Lukas nannte seinen Geburtsort.

»Dacht's mir doch gleich, daß Sie nicht vom Norden oder Westen sind. Wischa, Hochwürden, sollt' mich wundern, ob Sie nicht von einem Mick Mulcahy von Slievereene gehört haben, der vor dreißig Jahren nach Norden zog?«

Lukas bedauerte lebhaft, von diesem hervorragenden Menschen nie etwas gehört zu haben.

»Er war nämlich mein weitläufiger Vetter mütterlicherseits, und ich glaubte, Hochwürden hätten vielleicht von ihm gehört –«

»Ich bin kaum erst dreiundzwanzig Jahre alt,« sagte Lukas artig, trotzdem es ihm leid tat, so viel kostbare Zeit zu verlieren.

»Wischa, Gott segne Sie! Ja, ja, das hätt' ich merken müssen. Ich sollte es wohl nicht sagen, Hochwürden, aber das ist schon ein schlimmer Ort hier. Unter Fremden, unter Franzosen und Italienern, unter Juden und Heiden, die nie den Namen Gottes und seiner heiligen Mutter gehört haben – da gehört schon viel dazu, seine arme Seele zu retten –«

»Sie sollten nach Irland zurückgehen –«

»O, Wischa, wenn das nur ginge, so flög' ich gleich noch diesen Morgen übers Meer in das heilige und gesegnete Land. Aber, Hochwürden, mein kleines Mädel ist hier verheiratet, und ich muß ihre Kinder hüten, wenn sie der Arbeit nachgeht, um nur das Essen herbeizuschaffen.«

»Im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes, Amen!«

»Vater,« sagte eine weiche Stimme, als Lukas sich wieder auf die andere Seite wendete, »ich bin Ihnen so unendlich dankbar, daß Sie zu meinem Töchterchen so gütig waren. Sie ist an den Marienaltar getreten, und ich habe sie nie vorher so glücklich gesehen. Sie müssen sehr lieb mit meinem teuren Kind gewesen sein.«

Lukas' Herz war geschwellt von frohen und süßen Empfindungen. Ja, hier vor allem empfängt der Priester seinen Lohn! Gewiß, das heilige Meßopfer hat seine eigenen Tröstungen, hehr und unaussprechlich, wie auch das Brevier mit seiner großartigen Poesie, die die Seele über alle Nichtigkeiten des Lebens hinaushebt und sie mit den Heiligen verbindet. Aber nirgends sonst fließen menschliche Empfindungen in so süßes und glückliches Entzücken zusammen, als wenn Seele zu Seele spricht, wenn der Segen der Verzeihung sich vereint mit dem Glück, von Sünde frei geworden zu sein, und dem Schauer des Entschlusses, sein Versprechen zu halten und dankbar gegen Gott zu sein. Das ist das einzige, was der Protestantismus, das System des Individualismus, nie wird ergründen können.

Wie verzückt legte Lukas Delmege Stola und Chorhemd nach seiner schweren Nachmittagsarbeit ab, und niederkniend dankte er Gott, daß er ihn einen Priester hatte werden lassen.


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