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XIII.
Rassenmerkmale

Lukas Delmege hatte seine erste Erziehung an einer Volksschule erhalten, seine weitere Bildung auf der höheren Schule, und nun war er an der großen Universität der Welt inskribiert. Bücher waren seine Professoren, und Menschen waren seine Bücher. Die ersteren waren ziemlich folgerichtig in ihrer Lehre; die letzteren aber verwirrten und quälten ihn mit ihren seltsamen Widersprüchen. Die Fragmente vom Besten, was an menschlicher Literatur dem Zahn der Zeit getrotzt hatte, konnten zusammengestellt werden und bildeten dann ein harmonisches Ganzes; aber nicht einmal die Nächstenliebe, die beste und klügste Künstlerin, war imstande, mit sich oder irgend einem Maßstab der Wahrheit oder einem Grundsatz die ewig wechselnden Exzentrizitäten der Menschen in Einklang zu bringen. Von dieser Seite kam auch Lukas' letzte Versuchung, der er unterlag, wie wir sehen werden – nämlich die Versuchung, in Gedanken zu leben, nicht in Taten; und daher sehnte er sich auch hier, im Babylon der Welt, von Zeit zu Zeit nach mehr Gedankenfreiheit fern aller Tätigkeit, nach ein wenig Einsamkeit, um müde Nerven und eine verworrene Seele zu beruhigen.

Eine Rätselfrage, die Lukas in der ersten Zeit seiner Seelsorge beschäftigte und quälte, war die Tatsache, daß trotz der Verausgabung von so unendlich viel moralischer und geistiger Kraft, trotz der Betätigung von Energie und Eifer in jeder Pfarrei Englands, die Erfolge doch so außerordentlich gering waren. Er konnte es nicht fassen, warum nicht ganz England in der einen Hürde zusammenströmte, wie Schafe in einen bergenden Stall beim Herannahen eines Sturmes. Hier war Wahrheit; hier war Friede; hier war Gnade! Warum wohnten sie in den Tälern der Finsternis, wo der Berg des Lichts so nahe war? Warum gingen sie in die Irre, wo doch der gute Hirte zur sicheren Hürde rief? – Er nahm die Wochenblätter zur Hand. Ueberall trat ihm Leben und Energie entgegen. Feurige Predigten, wohlgemeinte Ermahnungen, lebenskräftige, großartige Organisationen, – aber man pflügte nur das Meer und streute den Samen in Wüstensand.

So dachte und fühlte Lukas. Er ergriff ein anglikanisches Zeitungsblatt. Sein Blick fiel auf die Worte:

»Und während wir so mit Stolz und Genugtuung die Geschichte unserer Kirche von den Tagen des heiligen Augustinus bis heute verfolgen können, die Reinheit ihrer Lehre, frei von Aberglauben, ihre Festigkeit und Größe, ihr schönes Ritual, das nie zu Mummenschanz ausartet, und die große Zahl heroischer Seelen überblicken, die sie der Welt und ihren heiligsten Zwecken geschenkt hat, sind wir sprachlos vor Erstaunen über die Anmaßung dieser römischen Mission, die unter uns unglücklicherweise bereits Fuß gefaßt hat. Es ist gerade, als ob eine Kolonie von Bauern eine Universität kolonisieren und zivilisieren wolle.«

Lukas las es nochmals mit flammenden Augen. Dann ballte er das Blatt zu einem Knäuel zusammen und spielte die nächste halbe Stunde Rugby Fußball in seinem Zimmer umher, wobei er die Belustigung mit folgendem Monolog begleitete: »Die Engländer sollen ehrlich sein? Sie sind die größten Lügner und Heuchler auf der Welt! Sie schämen sich im Privatleben auch der kleinsten Lüge; aber in der Politik, im Handel, in der Religion, überall da, wo ein Gewinn herausschaut, da lügen sie wie der Teufel!« Bei Tisch kam er auf diesen Gegenstand wieder zurück. Seine Mitbrüder lachten. Es war ja nur das Aufbrausen des Kelten.

»Ich möchte Ihnen raten, Delmege,« sagte ihm Artur, ein witziger junger Geistlicher, »wenn Sie wieder einen pas seul ausführen oder einen irischen Tanz wagen wollen, so gehen Sie, bitte, ins Kapitelzimmer, und werfen Sie meine Decke nicht herunter!«

Einige Tage später überschritt Lukas die Westminsterbrücke und kreuzte eine Reihe enger Straßen, bis er vor einer mittelalterlichen Kirche stand. Er trat ein. Die herrlich bemalten Fenster blendeten ihn fast mit ihrer Farbenfülle; er warf aber nur einen einzigen forschenden Blick umher, sprach ein kurzes Gebet und verließ dann das Gotteshaus wieder. Er war ja nicht der Kunst wegen gekommen.

Er klopfte an die Türe des Pfarrhauses an und wurde in ein kleines, düsteres Sprechzimmer geleitet, das sehr bescheiden eingerichtet war. Es war so dunkel, daß Lukas nicht einmal sein Complet beten konnte. Kurz darauf trat ein Priester ein. Es war ein schlanker, hübscher Mann, mit buschigen, dunklen, graumelierten Haaren und großen, brennenden Augen, die von scharfer Energie zeugten. Man empfing auf den ersten Blick den Eindruck: Das ist ein Riese, einer, der seiner Zeit den Stempel seines Geistes aufdrücken wird. Aber ach! Es war, als ob eine Tonfigur plötzlich ihre Stützen verliere; denn nach der ersten flüchtigen Begrüßung ließ sich der weltmüde Priester mit dem Ausdrucke unendlicher Schwäche oder Qual aufs Sofa niederfallen.

Lukas stellte bescheiden einige theologische Fragen, die höflich beantwortet wurden; dann aber fuhr sich der große Konvertit mit der Hand nervös über die Stirne und sagte aufgeregt: »Ich weiß, Sie entschuldigen mich, Vater, wenn ich Ihnen sage, daß ich nicht wohl bin, daß mir selbst jede Unterhaltung wehetut und mich anstrengt. Ich bin krankhaft nervös von Ueberarbeitung und soll fort von London. Lassen Sie mich Ihnen guten Abend sagen!«

Lukas ergriff die dargebotene Hand und stammelte eine Entschuldigung. Er blickte in das feingeschnittene, müde Gesicht, und bei dem Gedanken, daß dieser Mann ein Einkommen von Tausenden geopfert, alle Familienbande um der Wahrheit willen zerschnitten hatte und nun ein Märtyrer der Arbeit für Christus war, bereute er tief sein vorschnelles Urteil über die englische Rasse, und mit keltischer Lebhaftigkeit beugte er sich nieder und küßte die weiße Hand, die in der seinen lag, und ging seltsam bewegt von dannen.

Nun war es Abend geworden. Die Lampen waren angezündet, und Lukas trat wieder in die Kirche ein. Die Sitze füllten sich, und er beschloß, bis zum Segen zu bleiben. Er setzte sich unter eine Gasflamme, zog sein Brevier heraus und betete sein Completorium zu Ende. Punkt sieben Uhr trat derselbe müde, gebrochene Priester mit mehreren Ministranten aus der Sakristei zum Hochaltar hin. Er sah gebeugt und zusammengefallen aus, und als er den Rosenkranz vorbetete, hörte man ihn kaum. Es folgte dann eine Hymne zur heiligen Jungfrau, worauf der Priester mühsam die Stufen der Kanzel emporstieg.

»Neurasthenie! Gott sei Dank! Davon haben wir in Irland nie etwas gehört. Aber ist das ein Grund, Gott zu danken? Ist es nicht besser, sich zu verzehren statt zu rosten? Und findet sich in der eigentümlichen Philosophie des Apostels Paulus nicht das Wort vom ›verzehren und verzehrt werden für Christus‹? Und › Omnia detrimentum feci, et arbitror, ut stercora?‹ Was würdest du von den beiden wählen, Lukas? Fortzuschreiten auf deinem Wege in sanfter und ruhiger Achtbarkeit, bis du Kanonikus wirst, wie es dir der Kanonikus bereits in Aussicht stellte, oder in den besten Mannesjahren ganz und gar zugrunde gerichtet zu werden wie dieser Priester und Märtyrer, der nun seinen Posten verlassen und bis zum Ende seines Lebens von der Nächstenliebe unterhalten werden muß?«

Daß das letztere das Heroischere ist, darüber besteht kein Zweifel. Aber ist es auch klug? Ist es vereinbar mit dem gesunden Menschenverstand?

Und Lukas stand vor einem neuen Rätsel. Und wenn er auch fühlte, daß die erhabene Philosophie des Christentums ganz und gar zugunsten der Selbstverleugnung und des Leidens sprach, so war auf der andern Seite »der gesunde Menschenverstand aller Welt« doch ebenso nachdrücklich dagegen. Und was ist das Rechte? O Gott, o Gott! Welch ein Rätsel ist doch das Leben! Aber diese müde Gestalt und dieses durchfurchte Antlitz verfolgten Lukas noch manchen langen Tag.

»Er wird doch nicht predigen wollen?« dachte Lukas.

Und doch, er tat es. Seine Stimme klang wie aus dem Grabe, so sanft, so traurig. Und der Priester schien solche Mühe zu haben, seine Gedanken zusammenzuhalten, daß Lukas jeden Augenblick fürchtete, er müsse der Anstrengung erliegen. Es war klar, der Geist versagte seinen Dienst. Er hatte zu hart arbeiten müssen und lehnte sich nun auf. Lukas konnte dieses Stammeln, Versprechen und krampfhafte Suchen nach Ausdrücken nicht ertragen; er sah hinweg und dachte: Was ist in wenig Jahren aus diesem Manne geworden, dem die Wege zu den höchsten Ehren offen standen! Welch ein Opfer! Welcher Wechsel! – Nur die Schlußworte sprach der Prediger klar und deutlich: »Ihr werdet die Wahrheit kennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.«

Dann folgte der Segen; Lukas sah nur gebeugte Häupter, hörte aber nicht das leiseste Beten; nur während jenes so erhebenden Gebetes für die Bekehrung Englands, wo man sich in die Katakomben und in den heidnischen Imperialismus zurückversetzt wähnt, glaubte Lukas etwas wie Seufzen zu hören.

»Es ist nicht möglich,« murmelte er, »diese Engländer sind zu unempfindlich.«

Einige Augenblicke später aber sah er, wie die Gesichter eleganter Damen von Tränen gefeuchtet waren. Aber die Damen wischten sie sofort ab; sie waren ja Engländerinnen – und da darf man doch seine Gefühle nicht zeigen. Lukas aber dachte: Rasseeigentümlichkeiten sind Unsinn; das menschliche Herz ist überall das gleiche.

Auf Lukas' Heimweg schob sich plötzlich ein Arm in den seinen, und in ausgesprochen irischem Dialekt rief jemand seinen Namen.

Ueberrascht blickte er in das Gesicht eines alten Studienfreundes, der ein erfolgreicher Journalist geworden war und nun als Parlamentsmitglied in London weilte.

»Komm, laß uns eine Tasse Tee zusammen trinken, und dann mußt du mit ins Parlament. Keine Ausreden! Es liegt Elektrizität in der Luft und heute Abend wettert's noch.«

»Warum bist du dann nicht auf deinem Posten? Beginnen denn die Sitzungen des hohen Hauses nicht schon um vier Uhr?«

»Gewiß, alter Junge, aber wir gewähren gnädigst den Herren Tieren eine Fütterungszeit von sieben bis halb neun Uhr. Wenn sie dann gut angefressen sind, sind sie eine um so leichtere Beute.«

»Und bleibst du nüchtern?« fragte Lukas. Der Freund nickte bezeichnend, indem er einen Schluck Tee trank.

»Sag mir mal,« begann Lukas wieder, »du könntest wohl darin Bescheid wissen: glaubst du an ›Rasseeigentümlichkeiten‹? Das Problem beschäftigt mich fürchterlich.« Das Parlamentsmitglied stellte seine Tasse auf den Tisch, zog eine Zigarette heraus, zündete sie an und sah Lukas lange ins Gesicht.

»Rasseeigentümlichkeiten? Ja, und wie! Ich glaube zum Beispiel, daß wir Iren die kühlste, berechnendste und weitestblickende Rasse der Welt sind. Wir übertreffen Odysseus an List und Prometheus an Weisheit; was aber die Beständigkeit anlangt, so werden wir nur von den – Austern übertroffen! Laß uns aufbrechen!«

Sie gingen rasch an Trafalgar Square und Whitehall vorbei, und als sie sich dem Westminsterpalast näherten, staute der riesige Verkehrsstrom der Durchfahrt plötzlich wie durch Zauber. Stattliche Equipagen, Fußgänger, Einspänner, Reiter, alles stand still wie auf Kommando. Der Abgeordnete sah einen Augenblick ruhig auf die ihm geltende, wahrhaft königliche Ehrenbezeigung, ging dann rasch durch den freigewordenen Raum und ließ Lukas' Arm los.

»Geh du zum öffentlichen Eingang hinein! Ich treffe dich dann in der Vorhalle.«

Lukas hatte dort nicht lange zu warten. Sich überallhin verneigend, fröhlich und heiter, und doch eine gewisse Zurückhaltung zur Schau tragend, erschien sein Freund. Dann geleitete er Lukas in die innere Halle, wo er ein Billet für ihn verlangte.

»Sie können einen Galeriesitz haben, Sir,« erwiderte der Beamte mit demütiger Höflichkeit, »aber ich bedaure, daß unter der Galerie schon alle Plätze vergeben sind.«

»Bitte sehr, es ist noch ein Sitz frei, und den verlange ich.«

»Der ist schon für Lord Vavasour reserviert, Sir. Er ist gerade beim Diner mit dem Unterstaatssekretär und hat ihn bis zu seiner Rückkehr belegt.«

»Sie sollten doch die Gepflogenheiten des Hauses kennen,« gab der Abgeordnete zurück. »Kein Fremder kann in seiner Abwesenheit einen Platz belegen.«

»Ganz richtig, Sir,« erwiderte der Beamte. »Ich bitte mich nicht für unhöflich zu halten. Ich hoffte, die Sache ließe sich machen. Der Name, bitte?«

»Delmege!« sagte der Abgeordnete, während der Beamte Lukas das Billet einhändigte, der, halb beschämt halb erschrocken, verwundert die engen Stufen emporschritt, die ins »Haus« führten. Und gleich darauf saß Lukas in seinem schmalen Sessel und starrte.

»Bitte, nehmen Sie Ihren Hut ab!«

Lukas hatte in seiner Ueberraschung auf alle Höflichkeit vergessen.

»Bestimmt diese – diese – Versammlung die Geschicke von 300 Millionen Menschen?« fragte er den Beamten.

»Glaub' schon!« entgegnete der Mann.

Jetzt traten die Anhänger der Regierung ein. Lukas war auf der ministeriellen Seite des Hauses; nur eine niedrige Balustrade trennte ihn von ihr. Sie hatten alle rote Gesichter und breite, weiße Vorhemden; in kleinen Gruppen standen sie beieinander und plauderten. Ein leichter Duft von Whisky und Patschuli zitterte in der Luft. »Ich dachte, die Engländer tränken keine Spirituosen,« sagte Lukas. »Die Rasseeigentümlichkeiten sind ein Rätsel.«

Ja, die Luft war elektrisch. Man konnte aber nicht sagen, weshalb. Die Anzeichen fehlten vollständig. Keine große Debatte war im Gange. Die Abgeordneten gingen auf und ab oder plauderten und lachten. Nirgends drohende Anzeichen eines nahenden Gewitters. Und doch war die Luft elektrisch. Man fühlte es förmlich in den Fingerspitzen. Selbst der Diener fühlte es.

»Es geht heut abend etwas vor,« sagte er.

Dicht bei Lukas an einer der kleinen Säulen, die die Galerie stützten, stand ein kahlköpfiger, schmächtiger Mann in einem langen Rock in eifriger Unterhaltung mit einem Kollegen. »Der Vorsitzende des Hauses,« flüsterte der Diener Lukas zu.

Es wurde schließlich elf Uhr, und Lukas dachte, es sei höchste Zeit, heimzugehen. Sein Freund, das Parlamentsmitglied, kam herüber, setzte sich auf die Balustrade und begann ein lustiges Geplauder. Er wechselte kein Wort mit dem Mob, der ihn umgab. Die Leute würden ihn in Fetzen gerissen haben, wenn sie gedurft hätten.

»Was, du willst heimgehen?« schrie er Lukas an. »Das läßt du aber hübsch bleiben! Ein solches Glück, wie heute, hast du in deinem ganzen Leben nicht wieder.«

In demselben Augenblick redete ein alter, grauhaariger Offizier das Parlamentsmitglied an. Er kam als Bittsteller und brachte seine Wünsche sehr demütig und unterwürfig vor. Er flehte den Abgeordneten an, eine Pensionserhöhung zu beantragen oder wenigstens zugunsten einer solchen Bill zu reden.

»Ich werde nichts dergleichen tun,« gab der Angeredete hochmütig zurück. »Wir haben heute wichtigere Dinge zu verhandeln.« Der Militär zog sich niedergedrückt und enttäuscht zurück. Lukas' Meinung von seinem Vaterland stieg.

»Jetzt muß ich fort,« sagte der Abgeordnete. »Sitz gut fest, alter Junge! Und paß auf! Laß dich aber ja nicht von deinen Gefühlen fortreißen! Wenn du Bravo rufst oder den Hut schwenkst, werfen sie dich hinaus.«

Und so wartete denn Lukas geduldig und teilte seine Aufmerksamkeit zwischen der ängstlichen, aufgeregten Masse auf der ministeriellen Seite des Hauses und der schweigsam auf den untersten Bänken zur Linken des Sprechers zusammengedrängten Schar. Und hier in der Ecke saß ruhig und schweigsam der Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit, der geheimnisvolle Mann, zu dem die Minister ängstlich hinblickten, ob sie ein Zeichen oder einen Laut erhaschen könnten, der ihnen seine Absichten verriete. Schließlich erhob sich einer seiner Stellvertreter und beantragte die Vertagung des Hauses. Der Vorschlag wurde mit einem Schrei des Unwillens aufgenommen. Lärmend forderte man namentliche Abstimmung, und Lukas mußte mit den andern auf die Vorhalle hinaustreten. Nach einigen Minuten war die Sache vorüber, und sie durften wieder eintreten. Die Regierung hatte eine überwältigende Majorität, was mit lautem Jubel begrüßt wurde. Die ersten Linien des Feindes waren zurückgetrieben worden. Die Debatte nahm wieder ihren Fortgang. Da erhob sich von neuem ein Abgeordneter und beantragte Vertagung. Diesmal gab es wütendes Geschrei auf der Seite der Anhänger des Ministeriums. Die Vertagung wurde entschieden und nachdrücklichst abgelehnt. Wieder namentliche Abstimmung und ein neuer Pyrrhussieg. Großer Beifallslärm darob in den ministeriellen Reihen! Ruhig und unbeweglich saßen die irischen Guerilleros auf ihren Plätzen, während ihre Gegner sich in immer größere Wut hineinarbeiteten. Wieder ging die Debatte weiter, bis die Uhr Mitternacht schlug und aufs neue namentliche Abstimmung verlangt wurde. Da rief der Sprecher des Hauses mit schlecht verhaltener Leidenschaftlichkeit: »Und wenn wir achtundvierzig Stunden beieinander bleiben müssen, so will die Regierung diese Maßregel doch durchbringen; und das hohe Haus wird jede Vertagung abweisen, solange das nicht geschehen ist.«

Der Führer der Guerilleros saß still und grimmig an seinem Platz. Die Debatte hatte kaum wieder begonnen, als ein neuer Kämpe dieser irischen Phalanx sich erhob und Vertagung beantragte. Und wieder das Wutgeschrei der Rechten und die Erklärung des Sprechers: »Ich versichere die hochverehrten Herren auf der linken Seite des Hauses, daß die Regierung unnachsichtlich auf ihrem Verlangen besteht, und daß das hohe Haus die Sitzung nicht eher schließen kann, als bis diese Maßregel durchgeführt ist.«

Da erhob sich der große Schweiger der Opposition, und achthundert Männer, die geistige Blüte der englischen Nation, hingen atemlos an seinen Lippen. Er sagte nur wenig und auch das nur leise; und doch hörte man jede Silbe im ganzen Saal: »Der hochgeehrte Herr Vorsitzende weigert sich, das hohe Haus zu vertagen. Ich kann ihm nur sagen: das Haus wird sich vertagen, und zwar je eher desto besser.«

Das war eine offene Herausforderung der Allmacht Englands und wurde als solche auch entgegengenommen. Diesmal war alles still, als die Glocke zur namentlichen Abstimmung rief. Wieder hatte die Regierung gesiegt; aber der Sprecher des Hauses erklärte diesmal fast unterwürfig: »Es hat keinen Wert, angesichts solcher Obstruktion die nutzlose Debatte noch weiterzuführen. Das hohe Haus ist vertagt.«

Die Beamten lachten. Die Anhänger des Ministeriums waren verwirrt und fluchten auf ihre Führer, als sie ihre Niederlage erkannten. Aergerlich, beschämt und enttäuscht verließen sie den Sitzungssaal. Die Sieger jubelten nicht einmal. Lukas aber dachte: »Ich glaube nie mehr an Rasseneigentümlichkeiten. Ich wußte, daß sie stets Humbug waren!«

Sein Freund, der Abgeordnete, kam jetzt wieder auf ihn zu.

»War es nicht hübsch? Haben wir sie nicht zerknüllt wie ein Blatt Seidenpapier?«

»Werdet ihr die Obstruktion auch erfolgreich zu Ende führen können?« fragte Lukas entgegen. Sein Freund sah ihn lange ernsthaft an.

»Jawohl, bis wir, die Abkömmlinge von Königen, ihnen großmütig den Sieg überlassen. ›Habe ich dir wirklich wehe getan, lieber John Bull?‹ wird es dann heißen. ›Es tut mir aber schrecklich leid.‹ Das ist das Finale zur Geschichte, wie du sie eben mitangesehen. Gute Nacht!«

Die Uhr von St. Stephan schlug eben eins, als Lukas über die Westminsterbrücke schritt.

»Gut, daß ich einen Torschlüssel bei mir habe,« murmelte er, »der alte Vikar hat eine Störung nicht gern, und er schläft so leise.«

Einige Nachtschwärmer kamen ihm entgegen. Sie suchten ihn vom Trottoir herunterzustoßen. Sonst würde ihnen Lukas aus dem Wege gegangen sein, aber heute lag der Bann einer Siegesstimmung über ihm. Er setzte sich zur Wehr und wurde tätlich mit einem der Burschen, der fast ganz betrunken war. Es war Louis Wilson. Er erkannte Lukas ebenfalls sofort. Sich losmachend, sagte er zu seinen Begleitern: »Es ist nur ein irischer Landgeistlicher. Ich kenne den Kerl oberflächlich. Er hat eine hübsche Schwester.«

Im nächsten Augenblick hatte ihn Lukas' starke Faust schon am Kragen gepackt.

»So hört doch auf,« rief einer von Wilsons Begleitern, »wir sind in Westminster und nicht in Donnybrook!«

»Ihre Namen, meine Herren, bitte!« rief da die Stimme eines herbeieilenden Polizisten.

Lukas hörte wie im Traum: »Albemarle Buildings Nr. 11, Victoria Street.«

Wilson war bereits weitergegangen.

»Lassen Sie nur!« sagte der Beamte, als Lukas nach einer Visitenkarte suchte. »Es macht weiter nichts, wenn er nicht klagt. Nehmen Sie aber in Zukunft keine Notiz von den Burschen.«

Für Lukas war es für diese Nacht mit dem Schlaf vorbei. Scham und Reue quälten ihn, und er dachte an die Heimat und seine Lieben. Er sah die Ruhe und den Frieden Irlands wie in einer Wolke über diesem Tartarus hier. Welten würde er darum geben, wenn er daheim sein könnte, daheim in Lisnalee an der geliebten, nebelumsponnenen See. Jahre seines Lebens würde er opfern, wenn er unter den lieben, guten Menschen der Heimat sein könnte, weit weg von diesen englischen Automaten! Mit Tränen in den Augen gedachte er des traulichen Raumes, wo die »Unzertrennlichen« lebten und Vater Tim Aphorismen fallen ließ. Und brennende Scham erfaßte ihn wieder, und in unruhigen Schlaf versinkend, murmelte er: »Es gibt doch Rasseeigentümlichkeiten.«

Als er aber am Morgen aufstand, verschwanden mit der unruhigen Nacht auch ihre Gespenster. London lag wieder vor ihm, und das Leben, der Ehrgeiz und eine große Zukunft! Lisnalee war nur noch ein grauer, verschwommener Schatten der Vergangenheit.


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