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XVIII.
Entzauberung

Lukas fuhr mit dem Nachtdampfer von Holyhead aus über den Kanal. Er war noch vorher in London gewesen und hatte den lieben, alten Generalvikar und Vater Sheldon besucht.

»Bedeutend zivilisierter,« dachte der Vikar, »aber nicht mehr so anziehend, wie früher.«

»Natürlich statten Sie auch den Wilsons einen Besuch ab,« bemerkte Vater Sheldon. »Sie sind jetzt –«

»Ich würde es sehr gerne tun,« erwiderte Lukas, »aber ich habe wirklich keine Zeit. Der Zug geht schon um 5 Uhr oder 6 Uhr ab, und ich habe noch Einkäufe zu machen.«

»Miß Wilson wird aber dann sehr enttäuscht sein,« meinte Vater Sheldon.

Lukas zuckte die Achseln.

Am nächsten Morgen wanderte er schläfrig und verdrossen durch die Straßen Dublins und wartete auf den Zug in seine Heimat. Wenn er Zeit gehabt hätte, hätte er seiner ehemaligen Alma mater einen Besuch abgestattet; aber dazu reichte die Zeit nicht aus. Er fand, daß Dublin – dasselbe Dublin, das ihm in seinen Studententagen, die jetzt so weit, so unendlich weit hinter ihm lagen, als eine Stadt von feenhaftem Glanz erschienen war, – schmutzig und gemein sei. Er fuhr ganz zusammen, als er sah, wie schmutzige Männer in Hemdärmeln wirklich über die Trottoirs der Graftonstraße gingen. Die Menschenpyramide, welche die Armut um die Statue O'Connels und um das Standbild Nelsons aufgehäuft hatte, schien ihm ein empörendes Bild. Er fand die Teiche, Kaskaden und Blumen zwar sehr schön, aber das Volk schien so schäbig gekleidet. Und dann stolperte er fast über zwei Leichen – doch nein! es waren nur Vagabunden, die im Grünen schliefen. »Wie schrecklich!« murmelte Lukas vor sich hin.

Und das ist also die Kapelle des Universitäts-College! Das klingt gut. Schon die Worte haben einen eigenen Zauber und eine eigene Bedeutung. Er trat ein, um sein Brevier zu beten und einen kurzen Besuch zu machen. Er war entzückt. Der ganze Bau, der Marmor der Wände und Pfeiler, das Düster, in dem der Altar verborgen lag, die Kanzel, wo Newman gepredigt hatte, alles sprach seine neugebildeten Ideen an. Er trat ins Düster der Seitenkapelle hinüber, und erinnerte sich, gelesen zu haben, daß auf dem Altare dort mit demselben kleinen runden Fenster, das da Sonnenlicht, Mondschein und Dunkel hereinließ, der große Oratorianer Messe zu lesen pflegte. Er rief sich die Szene wach und was hinter ihr, über ihr und um sie lag, er sah, was gewesen sein könnte; und die Geister erstanden unter dem Zauber der Phantasie, die Gespenster herrlicher Möglichkeiten, die niemals mehr als Gedanken gewesen waren. Er glaubte, er höre die Glocke zur Vesper rufen – eine süße, sanfte, traurige Glocke, die aus den Nebeln und Schatten eines Traumlands herausklang. Und ein Murmeln von Stimmen wurde vernehmbar, das plötzlich wieder schwieg, und das Schlürfen von Füßen, und einer nach dem andern, strömten viele Menschen zur Kirche. Sie waren in akademische Tracht gekleidet, ihre langen Gewänder oder Togas fielen lose über ihre gewöhnlichen Kleider herab und die wohlbekannten viereckigen Mützen trugen sie in ihren Händen. Einige hatten blaue Umschläge am Talar, die anmutig auf ihre Schultern herabfielen; und einer oder zwei, die vor ihren Kollegen besonders ausgezeichnet waren, trugen rote Umschläge. Aber es herrschte da ein Ernst, eine Sammlung, ein Gefühl persönlicher Würde und Ehrfurcht über allem, daß es Lukas dünkte, er habe seit dem Tage seiner Priesterweihe in Maynooth nichts Aehnliches gesehen. Als alle Platz genommen hatten, trat ein Priester im Chorrock, dem viele Akolyten folgten, an den Altar und stimmte das Deus in adjutorium meum intende an. Der Chor nahm den Gesang auf, die Orgel ertönte und dann brachen glorreiche Männerstimmen los, die bald von einer, bald von der andern Seite erklangen als Strophe und Gegenstrophe in einem großen christlichen Chore, von den Wänden widerhallten und sich auf zur Decke schwangen; und die Pause bei den Antiphonen wurde fast peinlich, bis sie zum rhythmischen Donner von tausend Stimmen sich wieder erhoben. Aber alle süßen, schönen Erinnerungen an sein College fielen Lukas wieder ein, als das Magnificat angestimmt wurde und die große Prophezeiung der jungfräulichen Mutter und Königin in die tiefen, durchdringenden Töne ihrer Verehrer und Anhänger ausklang. Dann gab es wieder eine peinliche Pause; und Lukas vernahm eine Stimme, die zuerst klagend und schwach erklang, dann aber fest und klangvoll ward und wie Lichtblitze in jede Ecke des Gotteshauses und jeden Winkel des menschlichen Herzens drang, das da unter der Gewalt mächtiger Worte und dem seltsamen, überwältigenden Einflusse eines großen und erhabenen Charakters laut pochte. Es war keine Beredsamkeit von der Art, wie Lukas sie damals verstand; es gab keine schönen, wohlgebauten Perioden, die durch die Gesten des Predigers noch gehoben wurden, sondern nur einfache, schlichte Wahrheiten, die in einer Weise vorgebracht wurden, als ob sie keinen Widerspruch und keine Frage zuließen, denn selbst für Kritiker und Skeptiker brachten sie Ueberzeugung, wenn solche überhaupt den Weg in diesen Kreis gefunden hatten. Und alles handelte vom Leben und seinen Zwecken; von seiner Wertlosigkeit in se, von seiner furchtbaren relativen Wichtigkeit und der heiligen Verantwortlichkeit, mit der eine schwache, ohnmächtige und hinfällige, aber mit unendlichen Möglichkeiten begabte Rasse ausgerüstet ist, eine Rasse, mit Fähigkeiten fürs Gute oder Böse, die in der Zeitlichkeit gar nicht gemessen werden können, denn die Zeit besitzt nur das durchsichtige Gewebe einer Wolke, sondern die bloß auf dem Hintergrund der Ewigkeit ihrer Natur und Wichtigkeit nach abgeschätzt werden können. Aber Lukas nahm alle seine Geisteskräfte, die jetzt in Bewunderung und Begeisterung verloren waren, zusammen, als der Prediger zur Behauptung kam, daß jeder einsehe, wie vollkommen nichtig diese Welt und des Menschen Leben sei, bis auf beide ein Licht aus der Ewigkeit geworfen werde. Kein Mensch würde für eine armselige und vergängliche Rasse arbeiten und leiden wollen. Alle die großen Zeiträume menschlicher Geschichte sind nur ein Punkt in der Zeit, gerade wie unsere Erde und das sichtbare Universum nur Sandkörnchen im Meere der Unendlichkeit sind. Alle Träume der Sterblichen, alle Bestrebungen großer Idealisten, alle Musik der Poesie und alle hohen und erhabenen Träume von menschlicher Vollkommenheit sind daher nur Märchen ohne Sinn und Moral, wenn man nicht des Menschen Unsterblichkeit voraussetzt. Die Religion ist deshalb eine absolute Notwendigkeit, wenn das Leben überhaupt einen Sinn haben soll; und daher muß die Metaphysik in jedem freien Studienplan einen Platz einnehmen, nein, den Hauptplatz innehaben, wenn es auch nur dazu wäre, um dem reinen Materialisten zu zeigen, daß es sogar außerhalb der Religion und über sie hinaus Geheimnisse gibt, die auf immerdar ihrer Lösung harren. Und dann ging der Prediger auf Irland, auf seine Geschichte, sein Martyrium und seine Sendung über und sagte diesen jungen Seelen, daß das letzte Kapitel noch nicht geschrieben sei und wohl auch einige Jahrhunderte lang noch nicht geschrieben werde. Denn eine Rasse mit einer unschätzbaren Geschichte und einer Gegenwart, die mit materiellen Problemen nicht belastet ist, muß notwendig eine reiche und ruhmvolle Zukunft haben. Wie diese Zukunft beschaffen sein sollte, konnte Lukas nicht mehr hören, denn sein Geist beschäftigte sich schon mit vielen Fragen, die des Predigers Worte in ihm wachgerufen hatten, und zum hundertsten Male stand Lukas Rätseln gegenüber. Dann verschwand die Vision und Lukas war allein. Er schüttelte den Traum von sich ab und sah zwei junge Mädchen, die ihn neugierig anblickten. Er nahm seinen Hut und ging das Schiff hinunter. Unter der Empore hielt er an, schaute sich um und wunderte sich, wohin sein schöner Traum verschwunden war. Er sah aber nur den Sakristan, der die eisernen Verschlüsse an den Opferstöcken untersuchte und ihn verdächtig anblickte.

Im besten Falle und unter den günstigsten klimatischen Umständen ist die Fahrt auf der großen Südbahn entschieden uninteressant. Irlands schöne Punkte liegen an seiner Küstenlinie, wie die Juwelen an der Außenseite eines kostbaren Bechers. Aber die grauen Nebel eines Aprilhimmels hingen noch hernieder auf das braune Moor und das magere Feld, und obschon die Verheißung des Mai in der Luft lag, so hüllten sich doch Blume und Knospe warm in ihre Wiegen und wagten sich nicht ans Licht hervor. Sie »liebten diese weinende Amme nicht; sie brauchten ihre lachende Mutter«.

Und so dachte auch Lukas, er habe noch nie etwas so Melancholisches und Trauriges gesehen.

Das stimmte ihn unsagbar traurig und melancholisch. Und diese Gemütsverfassung blieb dieselbe, als er mit der Südbahn seiner Heimat zufuhr. Die grauen Aprilnebel hingen über Feld und Wald, und weder Knospe noch Blume wagte sich ans Licht. Dabei machte die ganze Landschaft den Eindruck des Alters und Verfalles. Da und dort fuhren sie an den Ruinen einer alten Abtei oder eines Schlosses vorbei, die nur noch der Efeu, mit dem sie ganz überwachsen waren, vor gänzlichem Zerfall bewahrte. Dann erblickten sie wieder die öden Lehmmauern einer Hütte, deren Dach eingefallen war und deren Löcher, einst Fenster und Türen, wie die Augenhöhlen eines Totenschädels aussahen. Wo waren sie nun, die hier geweint und gelacht, gesungen und getrauert, während sie um ihr heiliges Herdfeuer saßen? Vielleicht plagten sie sich in Kansas oder Dakota um ihr täglich Brot, das ihnen ihre Heimat geweigert! Vielleicht ist es ein unverlöschlich Bild in der Erinnerung irgend eines Großkapitalisten in Omaha oder Chicago; vielleicht ist dieser wilde Hagedorn vor der Türe für ihn der Lebensbaum Igdrasil, der seine mächtigen Aeste bewegt und ins Lied des Nachtwindes einstimmt, obschon seine Wurzeln tief drunten bei den Toten sind.

Es war rauher, kalter Abend geworden, als Lukas dem Eisenbahncoupé entstieg und den wunderlichen alten Wagen und das kräftige, struppige Pferd erblickte, die ihn heimbringen sollten. Den alten Diener sah er nicht gleich, als eine Stimme, die von weither zu kommen schien, neben ihm sagte: »Yerra, Masther Lukas, es freut mich, Sie wiederzusehen.«

»Ho, Larry,« rief Lukas nicht ohne Anstrengung und suchte dem alten Mann die rauhe Hand zu schütteln, »wie geht's denn? Sie sind aber alt geworden, Larry!«

»Ja, die Jahre zählen, Masther Lukas,« gab der Alte zurück, den das feine Auftreten und vornehme Aussehen dessen, den er von Kindsbeinen an gekannt, etwas befremdete, »wir werden nicht jünger, Masther Lukas!«

»Und die Kutsche sieht so alt und schäbig aus! Warum läßt man sie denn nicht auspolstern?«

»Erst letzten Sommer ließen wir sie herrichten,« erwiderte Larry etwas beleidigt, da Lukas' Bemerkung auch einen Tadel über ihn zu enthalten schien, »aber der Winter und der Regen haben sie so mitgenommen, Hochwürden!«

»Und der arme, alte Gaul! Wann wurde er denn das letzte Mal geschoren, Larry? Er macht eurer Fürsorge gerade nicht viel Ehre.«

»Er war den ganzen Frühling am Pfluge, Hochwürden, und das Wetter war zu kalt, um ihn zu scheren.«

Larry dachte, sein alter »Masther Lukas« habe sich arg verändert, und unterließ von nun an diesen familiären Titel.

Wie sie zusammen weiterfuhren, schien der Anblick der Landschaft unerträglich melancholisch und düster. Die grauen Felder, die sich noch nicht mit Grün überzogen hatten, die strohgedeckten Hütten, die verfallenen Mauern, die verwilderten Hecken, alles schien Lukas, der eben vom sauberen, modernen Aylesburgh herkam, so unsagbar alt und elend. Ueberall herrschte nur Verfall und Zerstörung.

»Ein Land der Gräber und der Verwüstung!« dachte er. Und als er die lange, von Hagedorn eingefaßte Straße, die zu seiner Eltern Haus führte, entlang fuhr, da wurde seine Melancholie noch größer. Wie hatte einst sein Herz immer geklopft, wenn er zu den Ferien heimkam! Er hatte stets schon von Ferne einen grünen Zweig in den Händen geschwungen, um seine Ankunft zu vermelden, und aus Leibeskräften Hallo! dazu gerufen, in das alle Köter der Nachbarschaft einstimmten. Und da war immer im Hintergrunde die betagte und gebückte Gestalt seines guten Vaters zu sehen gewesen und das liebe Antlitz seiner Mutter unter ihrer schönen weißen Haube, und Lizzie und Margaret – doch, es ist ja noch ganz dasselbe! – Ach nein! Die Enttäuschung ist eingetreten. Die Hunde bellen zwar und die lieben alten Gestalten stehen da und Lizzie bei ihnen, denn Margaret ist ja im Kloster des guten Hirten zu Limerick. Aber es ist nicht mehr dasselbe, und wird es auch nie mehr sein. Er hat gegessen vom Baume der Erkenntnis, und das Eden seiner Kindheit ist verschwunden. Sie nahmen alle die große Veränderung wahr. Lizzie schrie fast. Der Vater sagte gar nichts. Die Mutter, stets voll Vertrauen, vermochte nur stolz zu sein über ihren prächtigen Jungen.

»Er ist so würdig und ernst. Ah! Wischa! Wie schade, daß der arme Vater Pat nicht da ist! Wie stolz würde er heute sein!« dachte sie.

Aber die andern fühlten wohl, daß ein Fremder zu Besuch gekommen war, und man war zurückhaltend und zeremoniös.

»Ist der Hochwürdige gekommen?« fragte Peggy, als Larry das Pferd in den Stall zurückführte.

»Jawohl,« gab Larry kurz zurück.

»Wie sieht er denn aus?« fragte Peggy.

»O, ganz wie ein großer Herr! Aber wir müssen vom Kanonikus die Kutsche für ihn borgen. Begor, ich soll Metallknöpfe und eine hohe Borte tragen.«

Peggy schaute ihm kopfschüttelnd nach. »Behalte deine Späße für andere Leute!« sagte sie dann.

* * *

»Also Lizzie,« sagte Lukas am Teetisch, »du willst heiraten, wie ich höre?«

»Ja,« erwiderte Lizzie, rot werdend und den Kopf senkend.

»Du hast jedenfalls eine recht gute Wahl getroffen?« fragte Lukas.

»Ja, das hat sie,« fiel die Mutter ein; »er ist der beste Bursche von hier bis Cork, und das will viel heißen. Er hat zwar nicht so viel Geld, wie wir erwarteten, aber er ist ein lieber, hübscher Kerl und kommt aus guter Familie.«

»Und Margaret ist euch davongelaufen? Ich hätte das nicht geahnt, daß sie eine Klosterfrau werden würde.«

»Die lustigen Kinder,« erwiderte die Mutter, »sind die ersten, die ins Kloster gehen. Sie tun, als ob sie immer nur scherzen und tändeln; dann gehen sie plötzlich auf und davon und lachen über uns alle. Aber du ißt ja gar nicht, Vater Lukas.«

»O doch! Danke sehr, ich lasse mir's nicht schlecht gehen,« entgegnete er. »Vater Casey ist also wirklich versetzt worden?«

»Ja, Gott segne ihn! Manch einer wird ihn vermissen, und der Platz ist einsam ohne ihn.«

»Und der Kanonikus? Wie geht's ihm?«

»Er hat eine Krankheit gehabt – die Influenza heißen's die Doktoren –, die hat ihm weh getan. Er geht jetzt etwas gebückt, ist aber noch vornehmer. Gott möge ihn seinem Volk noch viele Jahre erhalten!«

»Und wer ist der Nachfolger Vater Pats geworden?«

»Ach, das ist ein Herr! Gott sei gelobt! Vor dessen Predigten muß man den Hut abziehen!«

»Er ist ein entschiedener Mann,« sagte Mike Delmege. »Der glaubt, was er sagt!«

»Ich weiß nicht, ob er und der Kanonikus gut zusammenpassen,« bemerkte darauf Mrs. Delmege.

Aber das war Ketzerei in den Augen von Mike Delmege, der von seinen Priestern nichts anderes als nur das Vollkommenste denken konnte.

»Laß sie doch gehen!« rief er. »Die kommen besser mit einander aus als wir.«

»Ich sage ja nur, was die ganze Welt sagt,« verteidigte sich Mrs. Delmege. »Aber Vater Lukas, wie geht's denn dir? Wir lasen deinen Namen schon in der Zeitung; und mein Herz schlug lauter, als Vater Pat das Blatt brachte und auf die Stelle hinzeigte. ›Da,‹ sagte er – Gott segne ihn, den armen, lieben Mann! – ›Da steht's von eurem Sohn! Der wird nimmer in dies unglückliche Land zurückkommen! Die werden ihn noch zum Bischof machen da drüben in England!‹ Der arme Vater Pat! Der arme Vater Pat!«

»Nun ja, uns geht's ganz gut. Viel Arbeit zwar; und gearbeitet muß drüben werden, das kann ich euch versichern! Zustände wie hier gibt's da nicht!« Das war Lukas' erster, aber beileibe nicht sein letzter Tadel an seinem Vaterland.

»Aber Vater,« fuhr er fort, »warum läßt du denn das alte Haus nicht wieder herrichten? Es sieht jetzt schon recht schäbig und baufällig aus.«

»Wir haben ebenfalls schon daran gedacht,« erwiderte der Vater; »aber wir verschoben es immer von Tag zu Tag. Wir könnten's auch ganz leicht machen, denn wir haben uns heuer allein von der Butter ein schönes Stück Geld gemacht. Seit uns der Kanonikus, Gott segne ihn dafür, zeigte, was wir tun müssen, um uns mit den Eiern, und der Butter, und dem Geflügel hübsch Geld zu verdienen, waren wir, Gott sei Dank, niemals besser daran, und jede Familie in der Pfarrei kann dasselbe sagen.«

»Der neue Kaplan hat es aber nicht gern,« wandte Mrs. Delmege ein. »Er sagt immer, es werde eines schönen Tages zusammenstürzen, wie ein Kartenhaus. Er glaubt an die Liga.«

»Die Liga?« sagte Lukas ärgerlich. »Ich glaube, ihr hört in diesem unseligen Lande nie zu kämpfen auf. Immer Agitation und wieder Agitation! Der Kanonikus scheint mir nicht nur an Stellung und Fähigkeit euer bester Priester, sondern er allein hat wohl auch das Richtige getroffen, um aus dem Lande ein Arkadien zu machen.«

»Ja, er ist ein guter Mann, und Gott erhalte ihn seiner Pfarrei recht lange!«

»Und wann soll Lizzies Hochzeit sein?« fragte Lukas. Er war daheim bereits ungeduldig geworden, und sehnte sich nach Aylesburgh zurück.

»Nächsten Donnerstag, so Gott will,« antwortete die Mutter.

»Und ich hoffe,« erklärte Lukas, »daß es dabei keine lärmenden, ungehörigen Szenen geben wird, sondern daß alles in christlicher, anständiger Weise vor sich geht.«

»Natürlich! Das versteht sich,« gab die Mutter zur Antwort. »Wir werden nur ein paar Nachbarn einladen, und ich denke, der Bräutigam wird auch nur einige Freunde mitbringen. Wir halten einen kleinen Schmaus in der Scheune ab, und vielleicht werden die Buben und Mädels ein bißchen tanzen wollen, das ist alles.«

Das war jedoch nur das Miniaturbild dessen, was die gute Mutter wirklich meinte; aber sie fürchtete, die rauhe Wahrheit würde ihren so würdigen, vornehmen Sohn beleidigen.

Am folgenden Tag sprach Lukas beim Kanonikus vor. Es war schon Abend, als er den wohlbekannten, kiesbestreuten Weg dahinschritt und am Pfarrhaus anpochte, nicht mehr schüchtern wie früher, sondern selbstbewußt, ja fast verächtlich. Man führte ihn ins Sprechzimmer, wie ehedem. Alles war noch so, wie er es gekannt hatte; und doch war irgendwo eine große Veränderung. Wo? In ihm selber. Er blickte jetzt mit kritischer Verachtung auf das Cenciporträt, und taxierte die Madonna als gewöhnliche Ware. Und dieser Glaskasten mit den künstlichen Vögeln! Olivette Lefevril würde ihn sofort dem nächstbesten Vagabunden geschenkt haben. Und hier hatte er gesessen, vor nicht ganz drei Jahren, ein schüchterner, nervöser, erschreckter Priester, und da am Kaminsims hatte dieser elende, junge Roué gelehnt, der dann noch so frech war, mit ihm zu rechten. Ja, wirklich, da war eine Veränderung vor sich gegangen. Der sanfte, schüchterne junge Levite war verschwunden; und statt seiner stand nun ein selbstbewußter, erfahrner und unabhängiger Weltmann da. Die Vögel schüttelten ihre Schwingen wie ehedem und sangen. Das Gong ertönte und der Kanonikus trat ein.

»Wie geht es Ihnen, Mr. Delmege?« fragte er wie einstmals.

»Danke, sehr gut,« erwiderte Lukas mit prononciertem Akzent. Der Kanonikus fuhr zusammen. Lukas erbarmte sich.

»Ich hoffte, Sie in bestem Wohlbefinden anzutreffen,« sagte er. »Es tat mir sehr leid, von meinem Vater hören zu müssen, daß Sie immer noch etwas an den Folgen dieser unseligen Epidemie laborieren.«

»Ja, in der Tat!« erwiderte der Kanonikus. »Ich kann nicht behaupten, daß ich mich von den Folgen dieser Krankheit – hm – ganz erholt hätte.« Dabei beobachtete er Lukas genau. Er hoffte, irgendein Stottern, irgendeine kleine Schwäche wahrnehmen zu können. Aber nein! Voll Selbstbewußtsein und kühler Ruhe saß Lukas bolzengerade auf seinem Sessel und hielt Hut und Handschuhe mit nervöser Korrektheit vor sich.

»Sie haben Ihren Kaplan verloren?« erkundigte sich Lukas.

»Jawohl!« gab der Kanonikus artig zurück; »endlich, endlich! erbarmte sich der Bischof seiner grauen Haare und warf ihm – wie das Volk sagt – eine Pfarrei an den Hals.«

»Und Vater Tim ist auch geschieden?«

»Ja, der arme Mann! Er war ein guter, lieber Mensch, besaß aber keine Erfahrung. Es fehlt,« fuhr der Kanonikus mit einem scharfen Blick auf seinen Besucher fort, »unsern Geistlichen die vornehme – hm – Lebensart und Weltkenntnis, die die – hm – Berührung mit andern Völkern hervorzubringen und zu entwickeln scheint.«

»Ich wage in dieser Hinsicht kaum eine Meinung zu äußern,« erwiderte Lukas, der das Kompliment wie einen süßen Bissen verschluckt hatte; »aber ich bin überzeugt, daß wir eine Menge Gewohnheiten und Bräuche haben, die wir außer Gebrauch setzen würden, wenn wir mehr Erfahrung hätten. Ich habe es schon meinen guten Leuten daheim gesagt und wiederhole es mit Ihrer Erlaubnis auch hier, daß ich nirgends solch verständige Bemühungen um die Förderung der Wohlfahrt des Volkes angetroffen habe wie in Ihrer Pfarrei und unter Ihrer Anleitung und Aufsicht.«

»Ich danke Ihnen, Sir,« sagte der Kanonikus; »und doch gibt es hier Leute, die nicht nur diese Ansicht nicht teilen, sondern alles tun, was in ihren Kräften steht, um meine Bemühungen, die – hm – wirtschaftliche Lage des Volkes zu heben, wieder zu – hm – vereiteln. Doch lassen wir diesen Gegenstand. Sie sind wohl viel mit den besseren Klassen – mit der Aristokratie in England in – hm – Berührung gekommen?«

»Mit den besseren Klassen? Ja! Mit der Aristokratie des Geistes? Ja! Mit der Aristokratie der Geburt? Nein! Meine Mission liegt in einer Bischofsstadt, und da gibt es viel feine Gesellschaft, sowohl unter Anglikanern wie Katholiken.«

»Wohl ohne allen Unterschied der Konfession?«

»Gewiß! Einen solchen Unterschied kennt man dort gar nicht. Man begegnet sogar einem katholischen Priester mit mehr Achtung als einem anglikanischen. Ich habe es auch schon wiederholt ausgesprochen, daß zwischen den zwei Rassen, den Iren und Engländern, und zwischen den zwei Religionsformen nur ein dünnes, halbdurchsichtiges Blatt Papier liegt, das gewissenlose Demagogen auf beiden Seiten mit den gräßlichsten Karikaturen bemalt haben.«

»Ich stimme von Herzen mit Ihnen überein, mein – hm – lieber junger Freund,« erwiderte der Kanonikus ganz entzückt. »Es freut mich außerordentlich, daß Ihre – hm – Erfahrungen bei unseren englischen Brüdern ganz und gar mit der – hm – Ueberzeugung übereinstimmen, die ich mir durch ruhiges Nachdenken über diese brennende Frage gebildet hatte.«

»Uebrigens,« fuhr er nach einer kleinen Pause wieder fort, »haben Sie nie meinen Neffen Louis in London getroffen?«

Diese Frage brachte Lukas doch ein wenig in Verlegenheit.

»Ich habe ihn allerdings getroffen, aber leider unter Verhältnissen, die der Anknüpfung näherer Beziehungen nicht recht günstig waren. Und wie Sie wissen, bin ich ja nicht mehr in London, sondern vor mehreren Monaten nach Aylesburgh versetzt worden.«

»Meine Nichte ist jetzt hinüber, um Louis' kleines – hm – Hauswesen zu leiten. Nach seinen Briefen zu schließen, verkehrt er in sehr guter Gesellschaft und ist überhaupt ein – hm – musterhafter junger Mann.«

»Ich habe ihm einmal einen formellen Besuch gemacht; er war aber leider nicht zuhause, sondern wahrscheinlich im Spital.«

»Sehr wahrscheinlich. Ich möchte sogar behaupten, sicher. Er ist in seinen Beruf ganz vernarrt.«

Lukas antwortete nicht. Er fand es allzu schwierig, die Konversation in diesem Tone weiterzuführen und der Wahrheit nicht ins Gesicht zu schlagen.

»Sie sind wegen der Heirat Ihrer Schwester herübergekommen?« fragte schließlich der Kanonikus.

»Jawohl. Sie will von mir getraut werden.«

»Diesen Wunsch müssen Sie ihr auch erfüllen, mein lieber junger Freund! Unbedingt! Wie man mir sagt, ist ihr Bräutigam ein sehr ordentlicher Mensch.«

»Hab' auch so gehört,« erwiderte Lukas und erhob sich. »Ich hätte gern, wenn meine Eltern es recht gut bekämen in ihrem Alter.«

»Natürlich sind Sie bei mir Sonntag zum Diner geladen. Wollen Sie mir da um fünf Uhr die Ehre geben?«

Und Lukas dachte bei sich, als er den Kiesweg wieder hinabschritt: Auch da solche Veränderung! Der Kanonikus ist alt, sehr alt geworden! Er diniert nicht mehr um sieben Uhr, sondern schon um fünf. Welcher Rückschritt! Hoffentlich laden mich Vater Pat und Vater Tim nicht ein. Doch was sage ich? Sie sind ja nicht mehr da!

Trauerte Lukas wirklich um seine lieben alten Freunde? Er hätte es tun sollen, und das wußte er. Aber was kann ein Mann, der genötigt war, neue Ideen vom Leben sich anzueignen, schließlich dagegen tun? Man muß sich eben seiner Umgebung anpassen – das ist ein Fundamentalprinzip. Man muß mit der Strömung gehen – das ist ein anderes. Aber er war seiner Sache doch nicht ganz sicher. Er blickte nachdenklich über die geheimnisvolle See hin. Sie war kalt, eisig, stumm. Keine Stimme antwortete ihm. Oder kam das davon her, daß das innere Gefühl des Mannes erstickt war und daß die Natur, da die menschliche Sympathie ihr nicht entgegenkam, ihr Echo zu geben sich weigerte?


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