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Unsere Denkfaulheit

Ich habe schon viel Zeit meines Lebens daran gewendet, es den Engländern begreiflich zu machen, daß wir an einer verhängnisvollen Trägheit des Denkens leiden, einer üblen Hinterlassenschaft aus der Zeit, da unser Monopol auf Kohle und Eisen es uns möglich machte, reich und mächtig zu werden, ohne zu wissen wie: Einer Trägheit, die jetzt sehr gefährlich für uns wird, da unser Monopol entweder gebrochen oder von neuen Quellen mechanischer Kraft überholt worden ist. Wir wurden reich, indem wir instinktiv unsern eigenen nächstliegenden Vorteil wahrnahmen, das heißt aus natürlicher, kindischer Eigenliebe. Wenn eine Frage über unsere Berechtigung aufkam, wurde es uns leicht, sie mit irgendeinem einleuchtenden Geschwätz zur Ruhe zu bringen (solange es uns nur schmeichelte und weder Mühe noch Opfer erheischte). Unsere Pfarrer sorgten dafür, für £ 70 im Jahr, oder unsere Journalisten zu einem Penny die Zeile, oder unsere kommerziellen Moralisten, die deren Axt schliffen. Schließlich wurden wir dickköpfig und verloren nicht nur jedwede geistige Bewußtheit von dem, was wir taten, und damit die Kraft objektiver Selbstkritik, sondern wir häuften Plunder von frommen Redensarten für uns auf, die nicht nur unsere verdorbenen und halb abgestorbenen Gewissen befriedigten, sondern uns das Gefühl gaben, daß es besonders ungentlemanlike und politisch gefährlich sei, diese frommen Redensarten durch Anwendung zu prüfen. Wir übertrieben Luthers Lehre der Rechtfertigung durch den Glauben bis zur ungesunden Grenze, sie so auszulegen, daß, solange ein Mann sagt, was wir übereingekommen sind, als richtig anzuerkennen, es nicht im geringsten darauf ankommt, was er tatsächlich tut. Wir sehen tatsächlich nicht, warum ein Mann das Thema der Moral überhaupt anschlagen sollte, wenn irgend etwas Fragliches zu entschuldigen wäre. Der vorurteilslose Fremde nennt das Heuchelei, und das ist es, weswegen wir ihn vorurteilsvoll nennen. Aber ich, der ein armer Mann war in einem armen Lande, ich verstehe den Fremden besser.

Nun vom Allgemeinen zum Besonderen. Indem ich den Verlauf diplomatischer Verhandlungen beschrieb, durch welchen unser Auswärtiges Amt seinen Plan erreichte, in dem vom militärischen Gesichtspunkt günstigsten Augenblick endlich mit Deutschland abzurechnen, muß ich unsern Minister des Äußern als jemand bezeichnen, der sich fast genau so verhält, wie nach unserer Anschuldigung der Kaiser. Und doch sehe ich ihn durchaus als ehrlichen Gentleman, gänzlich überrascht, wohlmeinend, im letzten Moment vor den Schrecken des Kriegs entsetzt sich an die Hoffnung klammernd, daß er auf irgendeine Art die andern überreden könnte, vernünftig zu sein, wenn sie nur kommen und mit ihm reden wollten, wie damals, als die Großmächte dem Balkankrieg ferne blieben. Aber wiederum hoffnungslos, unfähig zu irgendeiner entschiedenen Politik und deshalb außerstande, denen zu widerstehen, die entschieden vorgingen. Und man soll nicht für einen Moment glauben, daß ich denke, der bewußte Edward Grey sei ein Othello und der unbewußte ein Jago. Ich denke, daß dieses Auswärtige Amt, in dem Sir Edward lediglich das Aushängeschild ist, ebenso überlegt und bewußt einen lange hinausgeschobenen militaristischen Krieg mit Deutschland wollte, als die Admiralität, und das will viel sagen. Wenn Sir Edward Grey nicht wußte, was er wollte, Mr. Winston Churchill war nicht in einer solchen Verlegenheit. Er gehörte nicht irgendeinem »ismus« an, sondern war ein ausgesprochener Bekenner der volkstümlichen Anschauung, daß, wenn man bedroht wird, man zuschlagen soll, soferne man kein Hasenfuß ist. Hätte er die Sache zu führen gehabt, es wäre wohl möglich, daß er den Krieg vermieden und damit sich selbst und England sehr enttäuscht hätte, indem es ihm gelungen wäre, den Kaiser abzuschrecken. So hatte er für das Zusammenwirken der französischen und englischen Flotte gesorgt. Er brannte nach dem Kampf und muß sich mit großer Mühe zurückgehalten haben, nicht in der Öffentlichkeit die Hemdärmel aufzustreifen, während Mr. Asquith und Sir Edward Grey dem Land die Versicherungen gaben, die man dahin mißdeutete, daß wir nicht notwendig in den Krieg geraten müßten und diesem nicht näher wären als sonst. Doch da Sir Edward Grey das Mißverständnis nicht aufklärte, denke ich, er ging in den Krieg mit dem schweren Herzen eines liberalen Junkers (es gibt solche Zentauren) und nicht mit dem Frohlocken eines Jingo-Junkers.

Ich kann nun mit dem unvermeidlich kleinsten Maß von Ungerechtigkeit gegen Sir Edward Grey dazu übergehen, die Geschichte der diplomatischen Verhandlungen zu erzählen, wie sie dem Kongreß erscheinen wird, der vermutlich die Bedingungen festzusetzen hat, nach welchen Europa künftighin mehr oder weniger glücklich wird leben müssen.


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