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Als Fischke mit seiner traurigen Geschichte fertig war, war es schon Abend geworden, und unsere Pferde fuhren gerade über den grünen Hügel, der sich vor Glupsk erhebt.
Der Glupsker grüne Hügel ist wohl der ganzen Welt bekannt. Seit Urzeiten wird er in einem Liedchen besungen, das alle, groß und klein, kennen und mit dem die Mütter ihre kleinen Kinder in den Schlaf zu singen pflegen. Auch meine Mutter – sie möge ein lichtes Paradies haben! – sang mir in meiner Kindheit dasselbe Lied:
Auf dem grünen Berg,
Auf dem hohen Gras
Stehen ein paar Deutsche
Mit den langen Peitschen.
Große Männer sind sie,
Kurze Kleider tragen sie,
Owinu Melech . . .
Dieses Liedchen gefiel mir immer besser als alle andern. Der grüne Berg erschien mir in meiner kindlichen Vorstellung so wunderbar schön! Ich dachte mir, daß er nicht einfach aus gewöhnlicher Erde bestehe, wie alle die Hügel um meine Stadt herum. Nein, er ist wie himmlisches Mannah . . . Er ist wie der Ölberg, wie der Libanon aus Erez-Jissroel-Erde gemacht. Und die »Deutschen«, die auf diesem Berge stehen, kamen mir als seltsame Fabelwesen vor, als riesige Ochsen, sie möchten es mir nicht übel nehmen, wie der Schor-Habor. Sie knallen mit ihren langen Peitschen und lassen niemand in die Stadt Glupsk hinein, genauso wie der Fluß Sambation den Zutritt ins Land der »Roten Juden« verwehrt. Wer nach Glupsk will, bekommt die Peitsche zu kosten. Darum sehen auch alle Leute in Glupsk wie ausgepeitscht aus. Später, als ich größer war und eine Menge Städte und auch die Stadt Glupsk kennen gelernt hatte, verstand ich schon den richtigen Sinn dieses Liedes. Der »grüne Berg« ist ein gewöhnlicher Hügel, weniger grün als schmutzig, voller Löcher und Gräben, und die »Deutschen mit den langen Peitschen« sind die Kerle mit den langen Händen und klebrigen Fingern, die unterwegs die Reisenden bestehlen und das Gepäck hinten vom Wagen herunterschneiden. Es ist schon einmal Sitte, daß jeder Reisende zum erstenmal ohne Gepäck in Glupsk ankommt. Wenn man diese Erfahrung einmal gemacht hat, wird man das nächste Mal einige Werst vor Glupsk unruhig. Man blickt unwillkürlich hinter den Wagen, hält sein Gepäck fest, betastet jeden Augenblick seine Brusttasche und knöpft den Rock auf alle Knöpfe zu. Ich will damit nur sagen, daß, als wir den grünen Hügel erreicht hatten, alle unsere Glieder und auch die Nase die Nähe der Stadt Glupsk spürten. Erst später, als wir uns nach unserem Gepäck umgeschaut hatten, erinnerten wir uns an Fischke, der traurig und niedergeschlagen dasaß.
Ich beginne ihn zu trösten, ihm Mut zuzusprechen, stelle mich dabei lustig und sorglos und schließe meine Trostrede mit dem zweiten Teil des bekannten Liedchens:
Owinu Melech –
Das Herz ist mir fröhlich,
Fröhlich wollen wir sein,
Trinken werden wir Wein,
Krapfen werden wir essen,
Und unsern lieben Gott
Niemals vergessen!
»Tröste dich, Fischke: unsern lieben Gott soll man niemals vergessen, denn Er kann helfen.«
»Ich möchte nur das eine wissen, Reb Mendele«, sagt Fischke tief betrübt: »Warum hat mich Gott mit ihr zusammengebracht, um uns gleich wieder voneinander zu trennen? . . . Warum ließ Er das Glück vor unseren Augen aufleuchten, um uns gleich darauf jeden Lichtschimmer zu nehmen? . . . Es sieht ja so aus, als ob alles uns zum Trotz geschähe! Und wem tust Du das alles an, Schöpfer der Welt?! Zwei unglücklichen Geschöpfen, elenden Krüppeln, für die es besser wäre, gar nicht geboren zu sein, als in solcher Pein zu leben! . . .«
Ich mache eine fromme Miene und sage kopfschüttelnd: »Na, na!« Das sollte soviel heißen wie: »Man darf nicht so sprechen!« Das sagte ich, nicht weil ich es für eine gute Antwort auf seine Frage hielt, sondern einfach so, weil es in der Welt schon einmal eingeführt ist, daß wenn einer in seinem Unglück schwere Fragen stellt, der andere ihm mit einer Moralpredigt oder wenigstens mit einem »Na, na!« antwortet. Nachdem ich das, um der Pflicht zu genügen, gesagt habe, mache ich den Mund auf und spreche wie ein vernünftiger Mensch weiter:
»Sag einmal, Fischke: wie heißt eigentlich das Mädel? Du hast sie ja nur die Bucklige und meine Bucklige genannt; nun möchte ich wissen, wie sie heißt!«
»Wozu, Reb Mendele?« erwidert Fischke, mich erstaunt anblickend: »Wozu wollt Ihr es wissen? Warum soll ich unnötigerweise den Namen des Mädels verraten?«
»Weißt du, Närrchen«, antworte ich ihm, »das kann ja auch von Nutzen sein. Es kann ja sein, daß ich auf meinen Reisen etwas von ihr höre. Kannst mir wirklich ihren Namen nennen. Es ist sehr möglich, daß du sie noch einmal findest und daß ich dir von Gott geschickt bin!«
»Bejle heißt sie!« sagt Fischke: »Bejle!«
Im gleichen Augenblick hören wir ein lautes Stöhnen und einen dumpfen Krach, wie wenn etwas gerissen wäre. Ich blicke mich erschrocken um und sehe: Alter liegt unten im Wagen, stöhnt und ist bleich wie Kreide.
»Was habt Ihr, Reb Alter?« frage ich ihn: »Soll ich Euch etwas Branntwein geben? Ist Euch schlecht?«
»Beh!« antwortet Alter. Er nimmt sich zusammen und setzt sich wieder auf.
»Sag mir, Fischke«, fange ich wieder an, nachdem ich mich wegen Alter beruhigt habe, »weißt du nicht, wie ihre Mutter hieß und woher sie stammte?«
»Ja«, antwortet Fischke, »meine Bucklige erzählte mir, daß ihre Mutter Elke hieß. Sie konnte sich auch ganz schwach erinnern, daß ihre Mutter von ihrem Vater in Tunejadowke geschieden wurde. Sie sprach oft davon, wenn sie ihr schweres Herz vor dem unglücklichen Töchterchen ausschüttete.«
»In Tunejadowke?!« rufe ich erstaunt: »Wer ist denn der schlechte Mensch mit dem steinernen Herzen, der sein Kind verstoßen und so unglücklich gemacht hat? Wißt Ihr es vielleicht, Reb Alter, wer es in Eurem Städtchen war?«
Alter saß totenblaß da und glotzte blöde mit offenem Mund vor sich hin, so daß es mir ganz unheimlich zumute wurde.
»Er hieß . . .« versucht Fischke sich zu erinnern, indem er sich die Stirne reibt: »Er hieß, ich glaube, er hieß . . . Gleich wird es mir einfallen!«
»Alter heißt er!« schreit Reb Alter auf und fällt wieder in den Wagen.
»Ja, es stimmt!« sagt Fischke, verständnislos auf Alter blickend. »Ich glaube, er hatte den Zunamen Jaknhas. Die Mutter pflegte, wenn es ihr schlecht ging und man ihr die Stelle kündigte, das Kind damit zu quälen, daß sie es Jaknhas' Töchterchen nannte.«
Ich hatte schon begriffen, was das Ganze bedeutete, und fühlte mich wie mit kaltem Wasser begossen.
Alter schluchzt, schlägt sich mit der Faust vor die Brust und spricht:
»Ich habe gesündigt! Ich habe ihr das Leben verdorben! Sie hat recht, wenn sie sagt: Der Vater hat mich geschlachtet! Gott straft mich dafür. Was ich auch beginne, immer und in allen Dingen habe ich Unglück!«
Ich beginne Alter zu trösten und versuche seine Sünde ein wenig zu rechtfertigen: Er ist ja doch nur ein Geschöpf von Fleisch und Blut. Der böse Trieb hat über uns sündige Menschen eine große Gewalt. Selbst die größten Gerechten waren gegen den bösen Trieb wehrlos und unterlagen ihm oft. Viele von unsern Leuchten waren Waschlappen und Pantoffelhelden und haben ihre eigenen Kinder aus erster Ehe aus dem Hause gejagt, wenn es die zweite Frau verlangte.
Fischke sitzt wie zu Stein erstarrt da, glotzt Alter und mich an und weiß nicht, was zu sagen.
Inzwischen ist es stockfinster geworden. Die Sterne funkeln und blinzeln uns vom Himmel zu, wie wenn sie sich in unser Gespräch einmischen und etwas sagen wollten. Am Himmelsrande geht ein großer, feuerroter Mond auf. Er scheint nur uns allein anzuschauen. Alles, was im Himmel ist, sieht gespannt auf uns herab und möchte gerne wissen, wie diese Geschichte enden wird . . .
Alter setzt sich wieder auf, hebt die Augen zum Himmel und sagt in großer Erregung:
»Ich schwöre bei Dem, der ewig lebt, daß ich nicht zu Frau und Kindern zurückkehre und meine Jüngste nicht verheirate, ehe ich mein verlorenes Kind wieder gefunden habe! Himmel und Erde sind meine Zeugen! Ich fahre sofort auf die Suche, und wehe dem, der sich mir in den Weg stellt!«
Fischke fällt Reb Alter um den Hals, umarmt und küßt ihn und kann vor Erregung kein Wort sprechen. Und nach einer Weile sagt er mit tränenerstickter, flehender Stimme:
»Rettet sie, rettet sie! . . .«
Alter springt schnell von meinem Wagen, steigt in den seinigen, verabschiedet sich von uns, wendet um, zieht seinem Gaul eins über und fährt davon. Ich und Fischke blicken ihm eine Zeitlang schweigend nach. Dann schaue ich zum Himmel empor: der Mond und die Sterne ziehen ihre Bahnen, schauen aber nicht mehr so aus wie früher: sie erscheinen so hoch, stolz und fern von uns Menschen. Und es wird uns so traurig zumute . . .
Ich ziehe meinem Adler eins über, damit er den Wagen schneller zieht, und wir fahren spät in der Nacht über die holprigen Straßen von Glupsk mit einem Geschrei und Geklapper, das den Leuten meldet: Wisset, daß zwei neue Juden in Glupsk angekommen sind! . . .