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Da wir beide furchtbar müde und zerschlagen sind, beschließen wir, einige Stunden zu schlafen. Und dann wollen wir uns mit neuen Kräften wieder auf den Weg machen und bis spät in die Nacht hinein fahren. Fischke wird inzwischen auf die Pferde aufpassen und das Mittagessen bereiten. »Ich habe ja diese Nacht«, sagte er, »nach der Geschichte, die ich erlebt habe, sehr gut geschlafen, und als Reb Alter zu mir zurückkehrte, hatte er große Mühe, mich zu wecken.« Reb Alter legt auf meine Bitte seinen Kopf zu mir auf den Schoß, und ich nehme mein Messer und drücke ihm mit der Klinge seine Beule ein. Dann gähnen wir beide, recken die Glieder und legen uns in den Schatten eines Baumes.
Wenn die Sonne nicht so furchtbar gebrannt hätte, würden wir wohl bis in den späten Nachmittag geschlafen haben. Wie wir die Augen öffnen, sehen wir in der Nähe ein lustiges Feuer und darauf einen Topf mit Kartoffeln, Zwiebeln und jüdischer Wurst. Wir nehmen zunächst einen Schluck Schnaps und beginnen dann mit großem Appetit zu essen. Wir loben Fischkes Kochkunst in den höchsten Tönen. Das Essen hat den richtigen jüdischen Geschmack, und der König selbst könnte von seinen Kartoffeln kosten. Er freut sich und sagt immer: »Esset, esset, wohl bekomm es Euch!«
»Wo hast du die jüdische Wurst her, Fischke?« fragen wir ihn. »Aus unsern Kartoffeln und Zwiebeln ginge ja sonst nur eine gewöhnliche Kartoffelspeise zu machen.«
»Woher ich die jüdische Wurst habe, fragt Ihr mich?« antwortete Fischke. »Aus meinem Sack. Es ist mir doch gelungen, meinen Sack vom Räuber zu retten, daß ihn der Teufel!«
»Erzähl doch, Fischke«, bitten wir ihn, »was hast du alles erlebt?«
»Ach!« sagte Fischke und seufzte traurig auf. »Es wäre viel zu erzählen, es ist eine furchtbar lange Geschichte!«
»Der Tag ist lang, und wir haben, Gott sei Dank, Zeit, um die Geschichte zu hören. Wollen wir einspannen!« sage ich zu Alter. »Wir werden langsam weiterfahren, und Fischke wird uns seine Geschichte erzählen.«
Als beide Wagen angespannt sind, lade ich die ganze Gesellschaft zu mir auf meinen Wagen ein. Alter aber lädt uns zu sich ein. »Bei mir«, sagt er, »ist es geräumiger, mein Wagen ist nicht so vollgepackt.« Ich mache den Vorschlag: »Wollen wir zuerst in seinem Wagen fahren und dann in dem meinigen.«
»Nun, Fischke, los! Heraus mit der Sprache!« bitten wir ihn, als wir Platz genommen und bei unsern Pferden durchgesetzt haben, daß sie sich vom Fleck rühren. Fischke aber zögert noch, hält die Augen gesenkt und läßt seine Finger knacken.
»Weiß ich? . . . Ich schäme mich, so wahr ich lebe. Wie soll ich's erzählen! Ich kann einfach nicht. Es ist zu schwer, so wahr ich lebe!«
Ich rede Fischke zu, und Alter seinerseits sagt ihm folgendes:
»Nur der Anfang ist schwer, Närrchen. Wenn das erste Wort einmal gesagt ist, geht das weitere wie geschmiert. Ich weiß es aus eigener Erfahrung. Es kostet dich doch nichts! Wirst es nachher selbst sehen, du Närrchen . . . Also du hast die blinde Waise geheiratet, Fischke. Das wissen wir schon. Nun, und was war weiter?«
»Weiter? Der böse Geist fahre in ihren Vater und ihres Vaters Vater!« platzt Fischke voller Wut heraus. »Sie haben mich schön hereingelegt!«
»Nun? Nun?« dringen wir in Fischke, der nach dem ersten Gefühlsausbruch gleich wieder verstummt ist. Fischke tut wieder den Mund auf und beginnt mit etwas weniger Feuer als vorher: »Ach, ein nettes Weibsbild! . . . Nach der Hochzeit lebten wir gar nicht schlecht, so wie ein jüdisches Ehepaar leben soll. Ich glaube, ich habe alle meine Pflichten gegen sie erfüllt. Ihr hört, Juden? Soll mir der Mund verdorren, wenn ich lüge! Jeden Morgen führte ich sie, so wie es sich gehört, auf ihren Platz am Alten Friedhof, wo sie auf einem Strohbündel zu sitzen und mit der Melodie von Kines Almosen zu bitten pflegte, was alle tief rührte. Einige Male am Tage brachte ich ihr Essen: bald Suppe, bald ein heißes Küchlein, bald eine saure Gurke oder einen Haferbrei. Erquicke dich! Sie sitzt ja den ganzen Tag auf einem Fleck und ist nur auf ihr Geschäft bedacht. Oft kam ich auch einfach so hin, um nachzuschauen, wie es ihr geht, und ihr beim Geschäft zu helfen: dem einen oder dem andern auf einen Dreier oder einen Sechser herauszugeben; sie an die Guthaben zu erinnern, die sie bei den Bürgern hat, die ihr im Vorbeigehen nichts gegeben und die Gabe für später versprochen haben; oder eine Kuh oder eine Ziege zu vertreiben, die bei ihrem Spaziergang durch die Straße plötzlich Lust bekommen, unter meiner Frau etwas Stroh herauszuziehen. Im Monat Elul führte ich sie immer auf den großen Friedhof vor der Stadt; sie machte ihre Sache nicht schlechter als die übrigen geistlichen Personen: Schamossim, Schächter, Chasanim, Vorbeterinnen, Almosenempfänger, Psalmenleser, Vereinsschwestern, Knotenlegerinnen, Feldmesserinnen, Weinerinnen und Klageweiber. Das Geschäft blühte. Wir hatten genug, wovon zu leben. Wenn man es aber gut hat, will man es noch besser haben; wenn man Schwarzbrot hat, lechzt man nach einer Semmel.
›Weißt du was?‹ sagt mir einmal mein Weib: ›So ein Paar wie wir kann gar nicht zugrunde gehen. In unserem Geschäft sind ja alle Gebrechen nur Vorzüge. Hätte wer anderer dieses Gebrechen, so würde er damit sein Glück machen. Wir beide sind aber Schlemiele und tun nicht das Richtige. Folge einmal deinem Weib, das älter und erfahrener ist als du. Ziehe mit mir in die große Welt hinaus, in die Städte, wo es viel Menschen gibt, und du wirst sehen, daß wir uns in Gold kleiden werden. Hier am Platze ist ja nichts mehr zu machen. Man muß oft lange sitzen und warten, bis sich einer erbarmt und einen Groschen gibt. Die Leute erzählen aber, wie gut es dem Leckisch, dem Cholera-Bräutigam, mit seiner Frau Perl in der großen Welt geht. Sie machten sich gleich nach der Hochzeit auf die Wanderschaft und haben, unberufen, Glück! Motel, der Bettler, hat sie in Kischinew getroffen, wie sie bettelnd von Haus zu Haus gingen. Ihre Säcke waren vollgestopft mit allem Guten: mit Semmeln, viel größer als man sie hier dem Schabbesgoj zu geben pflegt; mit Mamalyga, geräuchertem Hammelfleisch, Würsten und ähnlichen Dingen. Perl strahlt wie die Sonne. Man ist geblendet, wenn man sie anschaut. Sie ist dick und fett und sieht wie eine Gräfin aus. Von Glupsk will sie nichts mehr wissen, selbst wenn man ihr die ganze Stadt schenken wollte. Und Leute, die aus Odessa kommen, staunen, wie gut es dort Jontel, dem anderen Cholera-Bräutigam, geht. Man sah ihn dort, wie er zwischen den Kaufläden auf seinem Gesäß herumrutschte. Auch er macht gute Geschäfte. Die Leute können sich an ihm gar nicht sattsehen. Odessa, sagen die Leute, hat zwar genug Krüppel, denn alle Krüppel von der ganzen Welt kommen hin, aber die Odessaer Krüppel lassen sich mit den Glupsker gar nicht vergleichen. Solche Krüppel, wie sie Glupsk in die Welt hinausschickt, kann nicht einmal England hinausschicken. Glupsk, sagen die Leute, ist in der ganzen Welt berühmt. Einen Glupsker Juden staunt man überall wie das größte Wunder an . . . Gott wird wohl auch uns nicht verlassen. So lange es noch Sommer ist, laß uns in die Welt ziehen. Man soll keinen Tag verlieren, so wahr ich lebe!‹
Mein Weib verführte mich wie der böse Trieb, und wir machten uns auf den Weg.
Ich will nicht mit der Zunge sündigen und muß Euch sagen, daß es uns zuerst sehr gut ging. In welche Stadt, in welches Dorf wir auch kamen, überall hatten wir den größten Erfolg. Alle schauten uns an, niemand versagte uns eine Gabe. In jeder Stadt stand für uns der Hekdesch offen und jedes Haus: geh nur hinein und steck dir, so viel du willst, in die Tasche, in den Busen, in den Sack. Der Schames von der Schul ließ von uns einige Groschen zahlen und verschaffte uns dafür ›Billette‹ auf Sabbat. Mein Weib brachte mir die ganze Bettlerwissenschaft bei. Ich war ja noch Anfänger und verstand nichts vom Betteln. Sie aber kannte die Sache von Grund auf mit allen Feinheiten. Sie lehrte mich, wie man in ein Haus tritt, wie man seufzt und hustet und wie man dabei ein unglückliches Gesicht macht. Wie man um Almosen bittet, wie man den Säumigen mahnt und wie man einem Menschen zusetzt; wie man einem Glück wünscht und wie man flucht. Ihr glaubt wohl, daß man so einfach von Haus zu Haus geht und bettelt? Nein! Es ist eine ganze Wissenschaft. Um unter Juden reich zu werden, braucht man nur Glück. Frechheit, Unverschämtheit und dergleichen lernt man später von selbst. Aber um ein richtiger jüdischer Bettler zu sein, genügt Glück allein nicht; dazu gehören noch viele andere Dinge. Man muß das Spiel kennen und verstehen, einem Menschen so lange zuzusetzen, bis er etwas geben muß, und wenn er daran auch stirbt.
Meine Frau und ich waren Bettler zu Fuß. Ihr schaut mich so erstaunt an, meine lieben Freunde, wie wenn Ihr es gar nicht fassen könntet. Da ich schon einmal angefangen habe, davon zu sprechen, so muß ich Euch dies erzählen. Die Bettler werden ebenso wie Soldaten eingeteilt: 1. in Bettler zu Fuß . . . Wartet einmal: unter diesen gibt es wieder hundert Sorten und Abarten mit schwierigen Namen und Zunamen . . . Bettler, die zu Fuß laufen . . . Der Teufel soll sich da auskennen! Bettler, Schnorrer, Bettelbrüder, Landstreicher, Nichtstuer, Tellerlecker! – ohne Zahl! Wartet, ich muß einen Augenblick nachdenken.«
Das Nachdenken half ihm aber nicht. Er blieb in der Aufzählung der verschiedenen Sorten Bettler stecken und konnte nicht heraus. Ich verstand nur so viel, daß die Bettler in zwei große Gruppen eingeteilt werden: in Bettler zu Fuß, das heißt solche, die zu Fuß laufen, und Bettler zu Pferde, solche, die sich zu Wagen herumschleppen. Außerdem werden sie eingeteilt in Stadtbettler, das heißt solche, die in irgendeiner Stadt, meistens in Litauen geboren sind, und Feldbettler, die in einem Wagen irgendwo im Felde zur Welt gekommen sind und deren Väter und Vorväter ihr ganzes Leben im Wagen verbracht haben. Diese letzteren sind die jüdischen Zigeuner. Sie wandern ewig von einem Ende der Welt zum andern, werden im Wagen geboren, wo sie auch heiraten und sich vermehren. Sie sind freie Menschen und zahlen keinerlei Steuern und Abgaben; außerdem haben sie weder die Pflicht zu beten noch andere jüdische Pflichten. Sie haben keinen Herrn über sich. Zu den Stadtbettlern gehören folgende Sorten: einfache Bettler, das heißt Männer, Frauen, Burschen und Mädchen, die jeden ersten, zuweilen auch mitten im Monat mit einem Sack von Haus zu Haus ziehen und sich mit der geringsten Gabe, auch mit einem Stück Brot, begnügen. Kleine Jungen und Mädchen, die den Leuten auf den Straßen nachlaufen und sie so lange am Rockschoße zerren, bis man ihnen etwas gibt, um sie los zu sein. Geistliche Bettler – Batlonim und Almosenempfänger, die in jeder Betstube zu finden sind; sie lesen bei einer Leiche und auf dem Friedhofe zur Jahrzeit ein Talmudkapitel herunter und sprechen den Kaddisch. Dazu zählen auch die Schejfforbläser, Mesuses-Beschauer und ähnliche Fachleute. Thora- und Mizwo-Bettler – Leute, die ihre Weiber irgendwo sitzengelassen haben und in der Fremde in irgendeiner Betstube auf Gemeindekosten den Talmudtraktat ›Vom Ei‹ studieren. Jeschiwe-Bochers, die müßig herumgehen oder beim Ofen hocken und »Tage essen«. Juden, die mit roten Schnupftüchern in der Hand von Haus zu Haus gehen, sich als Vorsteher wohltätiger Vereine ausgeben und für angeblich gottgefällige Zwecke milde Gaben sammeln. Heimliche Bettler – das sind Bürger, die heimlich Unterstützungen und Almosen annehmen. Halbe Bettler – wie zum Beispiel die Talmud-Thora-Lehrer in manchen Städten, die halb Lehrer und halb Bettler sind; es gibt auch solche Schamossim, Dajonim und Rabbonim, die halb von ihrem Beruf und halb vom Bettel leben. Feiertagsbettler – die am Purim und manchmal auch an den hohen Festtagen in großer Gesellschaft von Haus zu Haus ziehen und behaupten, für andere zu betteln. Darlehensbettler – die ihr Leben lang Almosen in Form eines Darlehens fordern: Morgen zahle ich es mit Dank wieder zurück!
»Erinnert mich, bitte, Reb Alter«, sage ich, nachdem ich auf Grund von Fischkes Worten obige Sortierung unserer Bettler durchgeführt habe, »erinnert mich, bitte, wenn ich, Gott behüte, vergessen habe, irgendeine Sorte von Bettlern in meine Liste aufzunehmen.«
»Ach, ist es nicht ganz gleich?« sagt Reb Alter und sieht mich spöttisch an, wie ein erwachsener, bärtiger Mann einen Jungen anblickt, der Dummheiten spricht. »Und wenn Ihr auch etwas vergessen habt! Sehr wichtig ist Eure Liste! Wenn man auf ihr nicht steht, so kann man wohl kein Bettler sein . . .«
»Sagt es nicht, Reb Alter!« widerspreche ich ihm: »Unsere Bettler sind sehr stolz und geben viel auf Ehre. Wenn Ihr einen von ihnen auch nur in Gedanken beleidigt, kann es Euch das Leben kosten. Gott behüte Euch vor einem Bettler, der sich auf vertrauten Fuß mit Euch stellt . . . Halt, da sind mir noch allerlei Bettler eingefallen: Enkel berühmter Großväter, Palästina-Juden, Abgebrannte, Kranke mit ärztlichen Attesten, Agunes, Witwen aller Art, Verfasser von Büchern, auch Frauen, die mit den Schriften ihrer Männer hausieren. Auch uns beide, Reb Alter, hat der Teufel noch nicht geholt: man darf auch die Bücherhändler und noch mehr: auch die Drucker und Redakteure mit allen ihren Arbeitern, Setzern, Korrektoren, Schreibern, Korrespondenten zu den Bettlern zählen! . . . Nun muß ich alle diese Leute sortieren und einen jeden an seinen richtigen Platz auf die Liste setzen. Ich habe wohl niemand vergessen, wie?«
»Pfui, Reb Mendele!« sagt Reb Alter aufgebracht und beginnt sich zu kratzen. »Hört schon mit Euren Bettlern auf! Es fängt mich sogar am ganzen Leibe zu jucken an. Ihr könnt es von mir aus viel kürzer machen: ganz Israel ist ein Bettler, damit es einmal ein Ende nimmt! Laßt doch Fischke weitererzählen und unterbrecht ihn nicht. Ihm ein Wort vorsagen, wenn er einmal stecken bleibt, oder ihm hie und da die Sprache korrigieren – das dürft Ihr von mir aus.«
Fischke war aber schon von Anfang an der Chasen, der nur zerrissene, unverständliche Worte von sich gibt, und ich der helfende Chorjunge, der ihm das Wort aus dem Munde nimmt, wenn er zu ersticken droht. Ohne meine Hilfe könnte man Fischke wohl gar nicht verstehen. Alter half nur ab und zu mit einem »Kurz und gut« und »Nun!« nach, wie man am Sabbat in der Schul den Chasen zur Eile anzutreiben pflegt, wenn man weiß, daß zu Hause der Kidduschwein, der Tscholent und der Kugel warten.