Mendele Moicher Sfurim
Fischke der Krumme
Mendele Moicher Sfurim

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VIII

Mit Gottes Hilfe kam ich heil an die alte Stelle, und brach mir, obwohl ich einige Male hingefallen war und mich in einemfort an Bäume anstieß, weder Arme noch Beine. Wenn man im Walde hinfällt, so ist das Aufstehen bei weitem nicht so unangenehm wie in der Stadt, wo viele Menschen zusehen und sich über einen lustig machen. Hier aber stand ich, so oft ich hinfiel, mit großer Freude auf und lobte Gott, daß mir nichts geschehen war. Und da Gott mir schon einmal diese Gnade zeigte, so hatte ich auch das Recht zu erwarten, daß ich bei den Wagen auch schon Alter mit den Pferden antreffen würde. Soviel Gnade verdiente ich aber offenbar doch nicht.

Ich bleibe wie verbrüht stehen, und es wird mir auf einmal schlecht. Gott allein weiß, was mit Alter geschehen ist, wo seine Gebeine hingekommen sind! Diesmal hat er sicher Pech gehabt. So einfach ist die Sache wohl nicht. Und dann ist noch die große Frage, was mit mir geschehen soll? Meine Absicht war ja, in Glupsk meine Ware abzusetzen und möglichst viel Kines einzukaufen, um alle die Städtchen in der Nachbarschaft, wie ich es alljährlich tue, mit ihnen zu versorgen. Die »drei Wochen« haben ja schon begonnen, die Zeit ist kurz, und ich darf keine Stunde verlieren. Wenn ich mich hier unterwegs zu lange aufhalte, bleiben die Leute, Gott behüte, ohne Kines. Und das ist doch wirklich kein Spaß: Juden ohne Kines! . . . Ich kann mir einen solchen schönen Tische-be-Ow wohl ausmalen: die Juden haben schon ihre Milchnudeln gegessen, haben das in Asche getunkte harte Ei verschlungen und sitzen mit traurigen Gesichtern in zerrissenen Strümpfen auf der Erde. Die Flöhe beißen sie, Gassenjungen halten Distelköpfe wurfbereit, und plötzlich – es fehlen ihnen die Kines! Den Mendele hat der Teufel geholt, es gibt keine Kines! . . . Eine Kine auf zehn Juden. Man drängt sich, man stößt sich, man vermischt sich mit den Flöhen, und auch die Haare geraten durcheinander: Bärte und Pejes, voller Disteln. Dazu kommen noch die Nudeln hinzu, die einem jeden zum Halse herauswachsen, und alle haben das Aufstoßen . . . Die Weiber sind weniger unglücklich: sie begnügen sich mit jedem bedruckten Papier, ganz gleich ob es eine Tchine, ein Tischgebet, eine Schächtanleitung oder eine Haggode ist. Was ist auch der Unterschied? Man kann ja über jedem Buch Tränen vergießen, und darauf kommt es ja doch an!

Ja, die Lage ist wenig angenehm. Es ist mir recht schwer ums Herz . . . Aber nicht davon will ich sprechen . . .

Der Mensch darf nicht verzweifeln. Ich muß etwas unternehmen. Ich muß wieder auf die Suche gehen. Ich blicke zu den Sternen hinauf und sehe, daß es Zeit ist, zu Abend zu essen. Ich mache mich über meinen Ranzen, unterhalte mich vor lauter Jammer ein wenig mit dem Fläschchen – gluck-gluck-gluck direkt aus der Flasche in den Mund – und schlinge in größter Eile einige Bissen, eigentlich nur um der Pflicht zu genügen, hinunter. Ich nehme vom Fläschchen Abschied – gluck-gluck-gluck – und mache mich wieder auf den Weg.

Ich bin schon wieder im Wald, stehe wieder vor der Mulde und bin auch schon in der Mulde selbst. Ich will nicht lügen und muß die Wahrheit sagen, daß ich jetzt nicht mehr so allein bin. Ich gehe selbander, rede von meinem Beginnen und bin gar nicht so traurig. Offenbar habe ich vorhin vor lauter Kummer einen Schluck zuviel genommen; dabei hatte ich fast nichts gegessen, denn die Bissen blieben mir im Halse stecken. Dieser eine Schluck zuviel stand mir in meiner Not wie ein Vater bei. Er gab mir neuen Mut und machte mich sehr gesprächig. So ist einmal meine Natur: wenn ich am Purim oder Ssimchas-Tejre einen Schluck zuviel nehme, schütten sich aus mir die Worte wie aus einem durchlöcherten Sack. Ich rede zu der Wand und lächle dabei sehr süß. Ich werde so mild und weich, daß man mich auf ein Geschwür legen kann. Mein Körper dehnt sich und wird so leicht und locker wie Hirse. Es schweben lauter einzelne Teilchen vom Mendele herum, und man kann unmöglich erraten, welches Teilchen das wichtigste ist und welches man anpacken soll. In solchen Augenblicken gibt es zwei Mendeles. Der eine will nach Jehupez, der andere nach Boiberik, und die gemeinsamen Füße werden verrückt, da sie nicht wissen, wem sie folgen sollen. Der eine fragt, und der andere antwortet. Meine eigenen Worte kommen in meine eigenen Ohren wie ein Echo wieder, und die Stimme klingt ganz verändert, wie aus einem leeren Faß. Ich verliere aber dabei doch nicht ganz das Bewußtsein; es bleibt mir immer noch eine ganz schwache Erinnerung wie im Traume zurück.

»Guten Abend!« sage ich mir mit einer Verbeugung: »Wohin des Weges so spät am Abend?« – »Ach, diese Narren, diese Schafsköpfe!« antwortet der andere Mendele mit einem süßen Lächeln: »Sie wollen unbedingt zu Grunde gehen, es ist zum Lachen, so wahr ich lebe!« – »Da ist ein Graben, Reb Vetter, nehmt Euch in acht!« – »Ja, so wahr ich Jude bin, ein Graben! Ich bin sogar schon hineingefallen. Ich glaube, zum zwanzigsten Mal.« – »Seid nun so gut und steht auf! Es ist gar nicht schön, so dazuliegen.« – »Schönen Dank, Reb Vetter, ich taste mich schon mit der Peitsche weiter . . . Es ist zum Lachen, so wahr ich lebe: das Bäumchen geht auch mit . . . Gut, komm mit, leiste uns Gesellschaft! Aber pfui, nicht kratzen! . . . Ach, es kratzt schon wieder, sticht mir beinahe die Augen aus, pfui! . . .« – »Reb Mendele, spuckt darauf, laßt es sein. Kommt doch auf diesen Fußweg heraus, ins freie Feld.« – »Gut, ich bin schon da! . . . Ach, der Mond, so rund wie ein Backtrog, der schöne Odessaer Mond! Er hat eine Nase und Augen! . . . Ach ja, ich muß ja den Mond begrüßen! Friede sei mit Euch? Auch mit Euch sei Friede! Friede sei mit Euch? Auch mit Euch sei Friede! Ebenso wie ich zu dir springe und dich nicht erreichen kann, so mögen mich auch . . . Springt doch, Vetter! Hopp hopp hopp! . . . so mögen mich auch meine Feinde nicht erreichen . . . Was haben sie gegen uns?« Ich fange plötzlich zu schluchzen an: »Was bin ich schuld, daß ich lebe und auch essen will? Der Leib ist, Gott sei es geklagt, dürr wie ein Span! Immer krank . . . Habe auch einmal eine Mutter gehabt, sie hat mich geküßt . . . Wehe mir, ich bin ein Waisenkind, ein Waisenkind!« Ich weine noch stärker. »Still, still«, tröstet der andere, »was soll man machen? Wie schämt sich nicht ein alter, bärtiger, verheirateter, mit Kindern gesegneter Jude, im Freien vor dem Monde zu weinen?! Das ist doch keine Art, so wahr ich lebe! Still, der Teufel wird Euch nicht holen; nehmt Euch lieber in acht: da ist ein Zaun.« – »Ja, so wahr ich Jude bin, es ist wirklich ein Zaun! Habe mich sogar schon ordentlich angeschlagen. Was tut man nun?« – »Man klettert hinüber. So macht man das!« – »Danke schön: ich stehe schon mit beiden Beinen im Garten.« – »Gesegnet sei Eure Ankunft, Mechutten! Bemüht Euch nun weiter!« – »Seid unbesorgt, ich gehe schon. Wie schön hier alles wächst: Bohnen, Erbsen, Gurken ohne Zahl!« – »Macht einen Segensspruch, Reb Vetter, laßt Euch nicht lange bitten.« – »Danke schön! Die Gurken sind eine wahre Erquickung fürs Herz! Wie gut die schmecken! . . . Ach, ein Schlag! Was bedeutet der Schlag? Woher kommt der Schlag?«

Der Schlag kam von einem kräftigen Bauern, der mich von rückwärts gepackt hatte und mir zu verstehen geben wollte, daß es unanständig ist, in einen fremden Garten zu steigen. Der Schlag sollte besagen, daß es verboten ist, sich nachts fremde Gurken zu holen. Die Schläge und vielleicht auch die frischen Gurken machten mich auf einmal ganz nüchtern. Eine Weile stand ich ganz dumm, wie aus dem Schlafe geweckt, da. Mein erstes Wort war natürlich: »Gewalt!« Dann entschloß ich mich aber, so zu tun, als wüßte ich von nichts, und fragte den Bauern in seiner rohen Sprache: »Sag mir mal, mein Bester, hast du hier nicht einen Juden mit zwei Pferden gesehen?« Der Bauer aber hört gar nicht auf mich, sondern tut das Seinige und schleppt mich am Ärmel, stößt mich ab und zu von hinten und schreit: »Komm nur mit!« Es hilft mir alles nichts, ich gehe mit: – ich kann doch nicht so unhöflich sein und nicht mittun! – und wir kommen vor ein Haus, vor dem ein Wagen mit vier guten Pferden wartet und dessen Fenster erleuchtet sind.

Wie wir ins Haus eintreten, stößt mich der Bauer voraus und bleibt selbst mit der Mütze in der Hand bei der Türe stehen. Auch ich nehme meinen Hut ab – was bleibt mir sonst zu tun übrig? –, kratze mir den Kopf und sehe mich wie verschlafen um. Vor dem Tisch sitzt ein Schreiber und kritzelt mit der Feder, die jeden Augenblick ins Tintenfaß getaucht werden will, um sich das Maul zu erfrischen, nachdem sie auf dem Papier so müde geworden ist. Der Schreiber hat mit ihr viel Arbeit und flucht bei jedem neuen Eintauchen. Man sieht, daß beide sich abquälen, daß beide unzufrieden sind: sie mit seiner schweren Hand und seinen üblen Fehlern, und er mit ihren scheußlichen Klecksen . . . Mitten in der Stube steht ein Kerl mit rotem Kragen und Messingknöpfen. Er blinzelt mit seinen kleinen Äuglein, und wenn er sie rollt, sieht man nur das blutunterlaufene Weiße. Er streicht sich seinen langen Schnurrbart und spricht mit böser Stimme zu den beiden Männern, die mit gesenkten Köpfen bei der Türe stehen: der eine ist ein langer Kerl mit kräftigem Nacken, rasiertem Kinn und einem silbernen Ring im linken Ohrläppchen; der andere ist mager, hat ein spitzes Bärtchen, trägt auf der Brust ein Blech, hält mit beiden Händen einen langen Stecken, zwinkert mit den Augen und verbeugt sich jeden Augenblick. Der rote Kragen schreit den ersten von den beiden an: »In Ketten! Nach Sibirien gehört so ein Dorfschulze! . . .« Und zum zweiten sagt er: »Ich werde dir die Haut streifenweise vom Leibe schinden, du gottverdammter Ortsvorsteher!«

Mir sind alle Glieder starr. Ich zittere wie im Fieber, und es saust mir in den Ohren. Ich sehe und höre nicht, was um mich vorgeht. Ich höre nicht einmal genau, was mein Bauer über mich aussagt. Als mir aber der rote Kragen das bekannte kräftige russische Wort zurief, erwachte ich aus der Erstarrung und fing gut zu hören an. Vor meinen Augen fuchtelt eine Faust, und ich höre die schrecklichen Worte: »Dieb! Schmuggler! Hehler! Beutelabschneider! Ketten, Knuten, Zuchthaus, Sibirien! . . .« Plötzlich macht er sich an meine Pejes heran, nimmt vom Tisch die Schere und schneidet mir eine Peje ab! Ich fließe in Tränen, wie ich meine Peje, meine alte, graue Peje auf dem Boden liegen sehe. Die Peje, die mir von meiner Kindheit bis in meine alten Tage gewachsen ist, die mit mir alle Freuden und Leiden erlebt hat; meine Mutter hat sie mir in meiner Jugend gewaschen, gekämmt und gestreichelt und konnte sich an den schönen schwarzen Locken gar nicht sattsehen. Sie war ein Schmuck meines Gesichts in meinen guten Tagen, als ich noch gesund und stark war. Sie war vor lauter Kummer früh grau geworden, und ich schämte mich dieser grauen Haare nicht. Vor Armut, Elend, Not und Ärger und grundloser Feindschaft waren wir beide früh gealtert. Wem hat sie etwas geschadet? Wem haben meine grauen Haare etwas Böses getan? Das Herz schluchzt in mir, es klagt stumm in seiner Not, doch kein Wort kommt mir über die Lippen. Ich stehe stumm da, wie ein Schäfchen unter dem Schermesser, und aus meinen Augen fällt eine Träne nach der anderen . . . Meine entblößte Wange glüht, mein Gesicht ist vor Entsetzen verändert. Ich machte wohl einen sehr unglücklichen Eindruck, denn der rote Kragen legte mir beide Hände auf die Schultern und begann plötzlich im Guten zu reden. Unter den Messingknöpfen schlug wohl auch ein menschliches Herz. Meine grauen Haare und mein ehrliches Gesicht überzeugten ihn wohl von meiner Unschuld. Um die Sache wieder gut zu machen, fiel er mit großer Wut über den Bauern her, der einer Gurke wegen einen alten Mann auf die Polizei geschleppt hatte. Er schrie ihn an und jagte ihn hinaus. Darauf nahm er seine Mütze, wandte sich von mir weg, sagte den anderen Leuten ein paar Worte und ging hinaus; gleich darauf hörte man den Wagen abfahren.

Alle Leute in der Stube wurden sofort lebendig. Der Schreiber warf seine Feder zum Teufel. Der Schulze und der Ortsvorsteher hoben die Köpfe und winkten mit den Händen in der Richtung zur Türe, wie wenn sie sagen wollten: »Gelobt sei Gott! Glückliche Reise und laß dich nie wieder blicken! . . .« Der Schulze holte tief Atem, packte sich mit allen fünf Fingern am Schopf, schüttelte sich und sagte: »Das ist mir ein Pristaw!«

Als ich den Christen von meinem Unglück erzählte, gaben sie mir den Rat, ins Dorfwirtshaus, das ganz in der Nähe sei, zu gehen. Dort werde ich viele Leute antreffen, die von den Märkten heimfahren: vielleicht werde ich von ihnen etwas erfahren können. Ich hebe meine Peje auf, stecke sie mir in die Tasche, binde mir ein Tuch um die Backe, wünsche allen »Gute Nacht« und gehe.


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