Mendele Moicher Sfurim
Fischke der Krumme
Mendele Moicher Sfurim

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XVIII

Fischke hielt plötzlich inne und wandte sich wie verschämt weg. Wie sehr ihn auch Alter bat, weiter zu erzählen, es wollte nichts helfen. »Ach . . . So wahr ich lebe!« sagte Fischke immer wieder, wurde rot und schwieg. Es schien, daß er sich selbst seiner Erzählung schämte. Früher war er wohl ins Feuer gekommen, wie einer, der Fieber hat, und er schüttete sein Herz in solchen Worten aus, die gar nicht aus seinem Kopfe zu kommen schienen. Die Worte kamen ihm ganz von selbst aus dem Munde, seine Seele sprach aus ihm, er hatte alles vergessen, was um ihn vorging, und redete und redete, bis er schließlich selbst seinen Worten zu lauschen anfing und sich über sie wunderte . . . Und er mußte sich furchtbar schämen. Wer von uns hat nicht auch einmal so eine lichte, gute Stunde erlebt, wo sich sein Mund auftat und reine, menschliche Gefühle wie ein Strom glühender Gase aus einem feuerspeienden Berg sich ergossen? Selbst Bileams Eselin hatte einmal eine solche Stunde, wo sie ihren Mund auftat und eine schöne Rede hielt. Von den Predigern von Beruf – sie seien von ihr wohl unterschieden! – rede ich schon gar nicht: Wie oft kommt es vor, daß so ein Mann, der sonst nur altes Zeug wiederkäut und furchtbaren Unsinn schwatzt, plötzlich einmal etwas so Vernünftiges sagt, daß alle Zuhörer und auch er selbst staunen. Und selbst dem schlechtesten Chasen, vor dessen Singsang und Grimassen man schier Erbrechen bekommt, passiert es manchmal, daß er beim Mussef in Begeisterung kommt und einen ganz wunderbaren ›Jekum-Purkon‹ oder ›Tikanto-Schabbes‹ von sich gibt. Ist aber der wunderbare Augenblick vorbei, so wird die Eselin wieder zur Eselin, der Prediger – er sei von ihr wohl unterschieden! – zum Plaudersack und der Chasen zum Krautstrunk . . . Aber nicht davon will ich reden. In einer jüdischen Druckerei kannte ich einmal zwei Arbeiter, die Tag und Nacht das Rad einer Maschine drehen mußten. Wie zwei Lehmgötzen standen sie nebeneinander und drehten immer auf die gleiche Art und in der gleichen Richtung . . . Plötzlich kam aber etwas über sie, und sie fingen mit tiefem Gefühl und großer Begeisterung zu drehen an. Die Augen brennen, und sie drehen mit solchem Genuß, wie wenn sie auf dem siebenten Himmel wären, wie wenn sie das ganze Weltall drehten und mit jeder Umdrehung einen Gedanken oder ein Gefühl ausdrückten. Nach einer Weile aber, als die Begeisterung verpufft war, glotzten sie einander mit gläsernen Augen an, spien aus und sahen voneinander weg. Und sie drehten wie gewöhnlich weiter und sahen wieder wie zwei Lehmgötzen aus.

Ich blicke auf Fischke, der seine Sprache verloren hat, und suche nach einem Mittel, ihn wieder gesprächig zu machen. Plötzlich fällt mir der Golem des Hohen Rabbi Löb von Prag ein, der lebendig wurde und alles, was man von ihm nur haben wollte, tat, wenn Rabbi Löb ihm den Zettel mit dem göttlichen Namen in den Mund legte. Sehr schön, denke ich mir. So will ich es auch machen. Doch ebenso wie bei jenem Golem, er ruhe in Frieden, der Name wirkte, wird bei diesem – mögen ihm die Lebensjahre des ersten zugute kommen – das Mädel wirken . . .

Und ich suche Fischke in ein Gespräch über das bucklige Mädel zu ziehen. Ich komme dabei selbst in Feuer, spreche aus dem Herzen und schließe folgendermaßen:

»Wieviel unschuldige Menschen, nebbich, müssen hier auf der Welt für die Sünden ihrer Eltern büßen, die nach allerhand Dummheiten gelüsten, die sich scheiden lassen und ihre Kinder, ihr eigenes Fleisch und Blut, wie auf dem Wasser ohne Aufsicht zurücklassen! Was kümmern sie sich um die Kinder? Sie denken doch nur an ihre eigenen Seelen, und ein jedes von solchen schönen Eltern verheiratet sich bald wieder . . .«

Mitten im Gespräch hielt ich aber wie erstickt inne. Ich sehe, wie mein Alter ganz außer sich vor Aufregung ist. Und ich spüre auch gleich Gewissensbisse: Was habe ich doch für eine Dummheit getan, als ich in Alters Gegenwart solche Worte sprach, die ihn in die siebente Rippe stechen mußten! Es tut mir furchtbar leid, und ich mache mir selbst Vorwürfe: »Mendel, Mendel, es wäre schon wirklich Zeit, zu Vernunft zu kommen und nicht jedermann wie ein dummer Junge die Wahrheit ins Gesicht zu sagen! Bist ja, Gott sei Dank, ein Mann mit einem langen Bart. Es ist wirklich Zeit, ein Mensch zu sein und zu verstehen, was gut und nützlich ist . . . Ach, deine Zunge, deine Zunge! . . .«

Und ich leiste im Herzen ein Gelübde, mich in Zukunft in acht zu nehmen; was ich auch höre und sehe, zu schweigen, wie es alle feinen und klugen Menschen tun. Das ist eine Regel, die man im Leben gut brauchen kann. Und ich sehe vor mir ganze Scharen von unseren guten Leuten, freundlichen Onkeln mit den leuchtenden Gesichtern. Sie drehen sich hin und her, sind mit jedem gut Freund, tanzen auf allen Hochzeiten, haben immer nur Freude, küssen einen jeden, schmelzen vor Freude, wenn sie mit dem andern von seinem Glück sprechen, beglückwünschen ihn mit süßem Lächeln und Tränen in den Augen, lobsingen die Güte des andern und verheißen ihm freigebig die ewige Seligkeit; sie kommen immer mit frohen Botschaften gelaufen und sind bei jeder Festlichkeit dabei. Immer leuchten ihre Augen, ihre Stirnen glänzen, die Wangen glühen und die Nasen tropfen. Sie sind glücklich und zufrieden . . . Wohl ist euch, ihr Onkeln! Von heute an bin ich auch so ein Onkel! Der Titel »Onkel« gefiel mir auf einmal so gut, daß ich einige Male vor mich wiederholte: »Onkel Mendele! Onkel Mendele!«

Alter tat mir furchtbar leid. Um meinen Fehler gegen ihn wieder gut zu machen, fange ich an, freundlich zu ihm zu sprechen: »Reb Alter, Ihr sitzt unbequem und zu nahe am Wagenrand. Es tut doch sicher den Knochen weh, lange auf diesem Platz zu sitzen. Kommt, bitte, auf meinen Wagen hinüber, und ich will Euch dort ein gutes Lager herrichten. Wir wollen auch einen Schluck Branntwein nehmen und uns erquicken.« Alter läßt sich nicht lange bitten, und wir steigen alle aus seinem Wagen. Ich erweise meinem Gaul die Ehre und lasse ihn voraus fahren; Alters Mähre muß sich jetzt hinterher schleppen. Wir gehen ein wenig zu Fuß, um uns etwas Bewegung zu machen, klettern dann auf meinen Wagen und trinken etwas Branntwein. Ich bin süß wie Lakritze und wünsche Alter mit Tränen in den Augen wie ein guter Onkel alles Gute. Dann mache ich auch Fischke warm, errege in ihm den »Bösen Trieb«, sein Blut kommt ins Sieden, und die Geschichte geht von neuem los.

Auf Mendeles Wagen

Fischke fängt wieder auf seine Art zu erzählen an; ich verbessere seine Erzählung auf meine Art, und Alter, der keine Zeit hat, treibt ihn auf seine Art an. Und die Geschichte geht wie folgt:

»Am nächsten Tag, es war ein Freitag, war das Bejssmedresch in jenem Städtchen voller Bettler, die sich alle um den Schames drängten. Jeder wollte der erste sein und ein Billett zum reichsten Mann oder zu einem Bürger, bei dem es einen fetten Kugel gibt, für den Sabbat bekommen. Am begehrtesten war das Billett zum Fleischsteuerpächter. Am wenigsten gesucht die Billette zu den geistlichen Personen und Gemeindebeamten, weil diese selbst zwar gerne essen, aber den Gästen nichts Ordentliches geben. Die Vorsteher der Brüderschaften sprechen immer mit großem Mitleid von den armen Leuten, geben aber wenig zu essen, so daß es gerade reicht, es sich über die Lippen zu schmieren. Die Bettler halten es für ein Unglück, zu solchen Leuten zu geraten, und fürchten sie wie die Pest. Bekommt einer ein Billett zu einem solchen, so lachen ihn die andern aus, wie einen, der Pech gehabt hat . . . Der Schames vom Bejssmedresch war sehr böse und schimpfte, daß noch niemals so viele Bettler da waren wie heute. ›Bettler‹, schrie er, ›was habt ihr unsere Stadt wie die Heuschrecken überfallen? Ich weiß gar nicht, wo ich euch alle unterbringe, ihr seid ja eine wahre Strafe Gottes!‹ Er schreit und wütet, aber die Bettler drängen sich und hören nicht auf ihn. Alle schreien: ›Mir! Mir! Gebt mir!‹ Und jeder drückt dem Schames einige Groschen in die Hand. Der Schames – was soll er, nebbich, tun? – nimmt das Geld, schimpft und verteilt die Billette. Ich stand mit der Buckligen abseits. Wir hatten nicht die Kraft und auch nicht die Frechheit, uns vor unsere Aristokraten zu drängen. Überall gibt es ja Aristokraten, selbst unter Bettlern. Und diese Aristokraten sind tausendmal ärger als die reichen . . . Der Rothaarige war selbstverständlich einer von den ersten. Er bekam auch sofort zwei gute Billette für sich und für mein Weib. Mein Weib brauchte sich nicht einmal vorzudrängen. Er zeigte dem Schames auf sie schon von weitem: ›Schaut nur, da steht sie, meine Blinde, nebbich!‹ Als jeder mit seinem Billett sich zu seinem Bürger begeben hatte, ging ich mit der Buckligen auf den Schames zu und bat ihn, auch uns Billette zu geben. Er blickte uns mit süß-saurem Lächeln an und antwortete kein Wort. ›Habt Erbarmen‹, sage ich ihm, ›mit zwei Krüppeln. Die ganze Woche bekommen wir nichts Gekochtes in den Mund!‹ – ›Es gibt keine Billette mehr‹, antwortete der Schames. ›Ihr habt ja gesehen, wie es eben zuging. Ich kann euch nirgends schicken!‹ ›Da habt Ihr was!‹ sage ich und drücke ihm einen Sechser in die Hand. ›Nehmt es, bitte, und erbarmt Euch unser. Rettet uns, Ihr tut damit ein gottgefälliges Werk!‹

›Hör einmal‹, sagte der Schames schon etwas milder, ›dein Geld brauche ich nicht. Ich habe noch ein Billett und kann es einem von euch geben. Wenn ihr wollt, lost darum unter euch.‹

›Gebt es ihr!‹ sag ich ihm, auf die Bucklige zeigend.

›Nein, gebt es ihm!‹ bittet die Bucklige und zeigt auf mich: ›Ich nehme das Billett um nichts in der Welt!‹

Eine lange Zeit verging im Bitten und Streiten. Ein jeder bat den andern, das Billett zu nehmen, und schwor, daß er es um nichts in der Welt nehmen wird. Dem Schames machte das große Freude. Er streichelte sich das Bärtchen und sah uns sehr freundlich an.

›Wißt ihr was?‹ sagte er endlich: ›Wartet beide nach dem Abendgebet vor der Bejssmedresch-Türe. Wenn die Leute vom Beten heimgehen, wird sich wohl jemand finden, der euch mitnimmt. Ich will auch selbst für euch bitten.‹

So machten wir es auch. Als die Leute vom Beten heimgingen, zeigte der Schames uns zweien Bürgern und bat sie, uns mitzunehmen. ›Ich brachte es nicht übers Herz‹, sagte er ihnen, ›euch heute wieder Leute mit Billetten zu schicken. Denn ich schicke euch jede Woche welche. Wenn ihr aber so gut sein wollt, so nehmt diese beiden Bettler auf.‹

›Ach!‹ sagten die beiden: ›Welcher Jude wird sich weigern, einen Gast für den Sabbat aufzunehmen? Es gibt ja nur diesen einen Tag in der Woche, wo der Jude aufatmen kann, warum soll er an diesem heiligen Tag nicht Arme bei sich aufnehmen und mit ihnen teilen, was Gott ihm gegeben hat? Wir bitten Euch, Schames, schickt uns jede Woche Gäste!‹

Die beiden Bürger gingen voraus, von ihren kleinen und größeren Kindern gefolgt, die alle sabbatlich ausgeputzt waren. Sie strahlten vor Sabbatfreude und sprachen lustig unter sich. Man sah es ganz deutlich, daß sie die sabbatliche ›Zusatzseele‹ hatten. Ich und die Bucklige folgten ihnen und waren sehr zufrieden.

›Gut Schabbes!‹ sagte mein Gastgeber, in die Stube tretend, zu seiner Frau, die sauber gekleidet und freudestrahlend wie eine Prinzessin auf ihn wartete. Sie hielt auf dem Schoße ein ganz kleines Kind, und an ihrer Seite standen zwei kleine Mädchen. ›Gott hat mir einen Sabbatgast geschickt. Siehst du, mein Weib, hättest mich doch nicht ins Haus hereingelassen!‹ sagte er lächelnd und begann, auf und abgehend mit lauter Stimme das ›Scholem-Alejchem‹ zu singen. Als er das Loblied auf das brave Weib anstimmte, stellte er sich vor seine Frau, nahm das kleine Kind auf die Arme, küßte und liebkoste es, während die anderen Kinder ihn mit freudigen Gebärden umringten. Es war, wie wenn die guten Engel aus dem ›Scholem-Alejchem‹ ins Haus herabgestiegen wären. Ich erzähle Euch das alles, weil mein Herz sich damals so furchtbar nach meiner Buckligen sehnte . . .

Mein Gastgeber gehörte wohl dem Mittelstande an. Die Lichter brannten in sauber geputzten Leuchtern, ich weiß nicht, ob aus echtem oder Warschauer Silber. Man aß aus Porzellantellern, und die Sabbatbrote lagen unter einem gestickten Deckchen. Auf dem Tische funkelte auch eine Flasche Wein, über den auch ein jeder den Kiddusch sprach. Die Hausfrau gab mir viel von allen Speisen und redete mir zu, mich nicht zu schämen und ordentlich zuzugreifen. Alles war sehr schön. Ich dachte aber bei jedem Stückchen Fisch oder Fleisch, bei jedem Löffel Nudeln nur an sie: wer weiß, ob sie es dort ebenso gut hat wie ich hier. Nach dem Essen bot man mir ein Nachtlager an. ›Soll er bei uns übernachten‹, sagte die Hausfrau leise zu ihrem Mann: ›Können wir ihn denn in den fürchterlichen Hekdesch schicken? Soll er wenigstens diese eine Nacht ordentlich ausruhen.‹ Nach der vorigen Nacht – nicht gedacht soll ihrer werden! – hatte ich es wirklich sehr nötig, in einer warmen Stube gut auszuschlafen und auszuruhen, vielleicht sogar nötiger, als zu essen. Ich dachte aber an die Bucklige und verzichtete mit schönem Dank auf das Nachtlager. Sie aß zu Sabbat in einem Hause, das im gleichen Hofe stand, und ich holte sie nach dem Essen von dort ab.

Draußen war es sehr schön. Der Mond leuchtete hell, und es war angenehm zu gehen.

›Komm‹, sagte ich ihr, ›komm, wollen wir ein wenig spazieren gehen, in den Hekdesch kommen wir immer noch früh genug!«

Als ich mich an den Hekdesch erinnerte, überlief es mich kalt. Der alte kranke Mann, der gestern abend so furchtbar gestöhnt hatte, lag schon am Morgen in der Agonie und war bald nach dem Lichtbentschen gestorben. Man hatte die Leiche über den Sabbat ins Vorhaus geschafft, wo ich übernachten sollte.

Wir gingen und gingen und kamen schließlich in ein Gäßchen mit duftenden Gärten. Ringsumher war es still, man hörte nicht das leiseste Geräusch, das ganze Städtchen hatte sich, wie es bei Juden am Freitagabend Sitte ist, gleich nach dem Essen zur Ruhe begeben. Wir setzten uns ins Gras in einem Winkel am Zaune.

So sitzen wir da, schauen und schweigen. Ein jeder von uns ist mit seinen Gedanken beschäftigt. Meine Bucklige seufzt tief auf und summt traurig das bekannte Liedchen:

Der Vater hat mich geschlachtet,
Die Mutter hat mich gegessen . . .

Ich schaue sie an – Tränen laufen ihr die Wangen herab. Ihr Gesicht glüht, und sie sieht mich mit traurigem Lächeln an. Alle Kräfte nahm sie mir mit diesem einen Blick! Das Herz krampft sich in mir zusammen, und es hämmert mir in den Schläfen. Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist . . . Und es kommen mir ganz von selbst die Worte von den Lippen: ›Meine Seele!‹ Und sie sagt leise, sich mit Tränen würgend: ›Ach, Fischke, ich werde es nicht aushalten . . . Was ich von ihm alles auszustehen habe . . .‹ ›Von wem?‹ rufe ich ganz außer mir: ›Von dem Rothaarigen? Die Kränke fahre ihm in die Knochen!‹

›Ach, wenn du wüßtest, Fischke, wenn du es wüßtest! . . .‹

Ich nehme sie bei der Hand, streichle ihr den Kopf und bitte sie unter Tränen, ihr bitteres Herz vor mir auszuschütten. Sie bedeckt das Gesicht mit beiden Händen, beugt sich zu mir und erzählt mir mit zitternder Stimme, mehr mit Gebärden als mit Worten, furchtbare Dinge . . . ›Hol der Teufel den rothaarigen Halunken. Soll er die Auferweckung der Toten nicht erleben!‹«


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