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Fischkes Erzählung stimmte Alter und mich sehr traurig. Alter rieb sich immer die Stirne, wie wenn es ihn juckte, und seufzte. »Hört Ihr, Reb Alter«, sage ich ihm lächelnd, »Fischke ist sicher in das bucklige Mädel verliebt, die Sache wird doch nicht so einfach sein!«
»Warum soll ich's leugnen?« erwidert Fischke. »Vor lauter Mitleid hatte ich sie wirklich sehr liebgewonnen. Es zog mich immer zu ihr hin, und wenn ich mal mit ihr sitzen konnte, lebte ich auf. Warum? Ich weiß nicht, einfach so . . . Wir redeten oder sahen einander stumm an. Die Güte stand ihr im Gesicht geschrieben. Sie sah mich so an, wie eine treue Schwester ihren unglücklichen Bruder, wenn es ihm sehr schlecht zumute ist, ansieht. Und wenn ihr Tränen des Mitleids in die Augen traten, wurde es mir gleich warm ums Herz. Ich dachte und dachte . . . Ich weiß selbst nicht, was ich mir dabei dachte. Etwas brannte mir in der Seele: ›Fischke, du bist nicht mehr einsam in der Welt, bist nicht mehr so verlassen wie ein Stein!‹ Und warme Tränen traten mir in die Augen . . .
Um mein Weib – ein wahres Wunder! – kümmerte ich mich nicht mehr so sehr und machte mir nicht mehr viel aus den Geschichten, die sie mit dem Rothaarigen hatte. Ich verzog zwar darüber noch immer das Gesicht, aber doch nicht mehr so wie früher. Manchmal kam mir auch dieser Gedanke in den Sinn: Willst du, Fischke, daß dein Weib dir heute sagt: ›Nun ist es genug, sich herumzuschleppen, wollen wir uns in irgendeiner Stadt niederlassen?‹ Und ich erfand mir allerlei Ausreden, gab mir keine Antwort auf diese Frage und dachte immer nur an sie . . . Was soll mit ihr, der Buckligen, nebbich, geschehen? Hört aber, was passieren kann: wie ich gegen mein Weib kühler geworden war und nicht mehr so zappelte wie einst, wurde sie gegen mich heißer. Manchmal war sie auch einfach gut gegen mich, weich wie Teig und hing sich mir an den Hals. Aber das hatte ich später immer teuer zu bezahlen. Hinterher plagte sie mich immer, daß mir die Galle überfloß, peinigte mich noch tausendmal schlimmer als vorher, so daß mich das Leben nicht mehr freute und ich mir den Tod wünschte. Ich hatte von ihr, wie man es so nennt, kalt und heiß. Ich konnte gar nicht verstehen, was sie hatte. Ist sie auf einmal verrückt geworden? Einige Zeit später geschah aber etwas, was das Geschwür zum Platzen brachte. Ich verstand auf einmal, was in meiner Frau brannte und was ihr Zorn bedeutete. Es ist eine Schande zu erzählen.«
Fischke wurde für einen Augenblick nachdenklich. Dann kratzte er sich mit großem Appetit und fuhr fort:
»Einmal kamen wir in irgendeine kleine Stadt und stiegen gleich im Hekdesch ab. Ich sage Euch, Juden, ich habe ja in meinem Leben viele Hekdeschs gesehen und kenne mich darin gut aus, aber alle andern sind Gold gegen den Hekdesch in diesem Städtchen! Wenn ich mich heute daran erinnere, fängt es mich am ganzen Leibe zu beißen an, und ich muß mich kratzen. Der Hekdesch sah aus wie eine alte verfallene Schenke. Die Wände standen schief, das Dach war wie eine zerknitterte Mütze und ragte vorne in die Höhe und berührte hinten beinahe die Erde. Man sah dem Gebäude an, daß es einstürzen und wie ein Misthaufen auf der Erde liegen möchte. Die Leute vom Städtchen hatten es aber mit Stangen gestützt und ihm zugeredet, noch hundertundzwanzig Jahre so zu stehen. Durch eine zerbrochene Türe trat man in ein Vorhaus mit durchlöcherten Wänden, durch die das Licht hereinkam. Der Boden war voller Löcher, stellenweise mit verschimmelten Pfützen bedeckt, die vom ausgegossenen Schmutzwasser und auch vom Regen kamen, der durch das schadhafte Strohdach eindrang. Überall lag durchfaultes Stroh umher und dazwischen allerlei Abfälle: Zerrissene Säcke, zerfetzte Bastdecken, alte Schuhsohlen und Absätze mit verrosteten Nägeln, Scherben, zerbrochene Faßreifen, Radspeichen, Haare, Knochen, Bürsten, Reisigbesen und ähnliches Zeug. Alle diese Sachen faulen und stinken ganz fürchterlich. Links führt eine schmierige, knarrende Türe in eine Stube mit kleinen, schmalen Fenstern. Die Scheiben sind teils eingeschlagen und durch Zuckerpapier und Lumpen ersetzt, teils schmutzig und verschimmelt und teils vor Alter grün und gelb angelaufen, und diese Farbe tut den Augen ebenso weh, wie das Kratzen auf dem Glase den Ohren weh tut. Längs der abgebröckelten Wände und am großen Ofen stehen lange Bänke, deren Bretter auf gewöhnlichen Holzscheiten und Klötzen liegen. In den Wänden oberhalb der Bänke stecken große und kleine Pflöcke. Von der schwarzen Decke herab hängt an zwei Schlingen eine lange Querstange. An den Pflöcken und an der Stange sind zerrissene Kaftans, Frauenkleider und Säcke von Bettlern aufgehängt, die teils zu Wagen und teils zu Fuß gekommen sind und alle zusammen, alt und jung, Männer und Weiber in dieser Stube hocken. Der Hekdesch ist zugleich auch ein Krankenhaus, ein Ort, wo die kranken Bettler des Städtchens sterben dürfen. Der Feldscher tut alles, was er nur kann: er setzt Schröpf köpfe und Blutegel, läßt zur Ader und zapft den Bettlern auf Gemeindekosten das Blut ab, bis sie ihre reinen Seelen aushauchen und der Hekdeschaufseher, der zugleich auch Totengräber ist, sie unentgeltlich begräbt. Der Hekdeschaufseher haust mit seiner Familie unter dem gleichen Dache in einer kleinen Kammer. Er ist nicht nur Hekdeschaufseher, Totengräber, Schames der Chewre-Kadische, Krankenpfleger, die Königin Waschti und Mordechai im Purimspiel, Bärendarsteller am Ssimchas-Tejre und Possenreißer und Lohndiener auf allen Hochzeiten und Brissen: er ist nebenbei auch noch Erzeuger von Unschlittkerzen, mit denen er alle Bürger und Bethäuser versorgt und die einen fürchterlichen Gestank verbreiten.
Als unsere Bande in diesen Hekdesch einzog, war er schon voller Gäste. Der Aufseher wollte sie hinauswerfen: ›Ihr seid lange genug dagesessen, fahrt irgendwo anders hin!‹ Da es aber ein Donnerstag war, hatten die Leute einen Grund, noch einige Tage – über den Sabbat – dazubleiben. Der Fußboden, die Bänke und der Ofen waren dicht besetzt. Man stieß, drängte und zankte sich wegen der Plätze. Die Bettler zu Fuß und die Bettler zu Pferde zeigten ihren alten Haß und kämpften mit großer Erbitterung und Kraft. Im allgemeinen Lärm – nicht gedacht soll seiner werden! – stöhnte in einem Winkel ein alter kranker Mann, den man zur Behandlung hergebracht, und heulte ein kleines Kind, dem man hier ein Füßchen eingeklemmt hatte; es schrie so, daß einem der Kopf dabei zersprang. Etwas später, als der Lärm sich gelegt hatte, suchte ich mir ein freies Plätzchen, um etwas auszuruhen. Kaum hatte ich mich aber hingelegt, als mich ganze Heere von Schaben, Wanzen und Flöhen überfielen. Sie waren stark wie die Bären und wollten mich beim lebendigen Leibe auffressen. Wenn ich heute an diese Mörder denke, fängt mir der ganze Leib zu brennen an. Als ich sah, daß es unmöglich ist, mit den Schaben zu kämpfen, und daß ihre Bundesgenossen, die Wanzen, stinken, überließ ich ihnen meinen Platz – sollen sie sich mit ihm würgen! Und ich ging ins Vorhaus, um dort irgendwie die Nacht zu verbringen. Draußen war es furchtbar finster, ein starker Wind heulte wie ein Rudel Wölfe und blies durch die Spalten in den Wänden herein. Strohhalme vom Dach und allerlei Kehricht flogen durch die Luft wie böse Geister. Ab und zu regnete es auch herein. Ich drückte mich in einen Winkel und lag, vor Kälte zitternd, bitteren Herzens da. ›Das Bad, das Bad!‹ jammerte ich vor mich hin: ›Wer gibt mir mein Bad wieder? Dort war ja ein wahres Paradies und so schön warm! Wie glücklich war ich doch einst in diesem Paradies! Was fehlte mir dort? Mir war dort so gut, so schön, da mußte mir aber der Teufel mein Weib schicken, damit ich ihretwegen aus dem Paradiese vertrieben werde und mich in der Welt herumtreibe. Die Weiber sind doch wirklich nur dazu da, um den Menschen Unglück zu bringen. Wozu taugen sie sonst? Was hat man von ihnen? So wahr ich lebe, es kommt von ihnen nichts Gutes . . .‹ Gleich darauf fällt mir aber das bucklige Mädel ein, und ich fange mich vor mir selbst zu schämen an. Sie ist doch eine gute, reine Seele, und es ist ein wahres Vergnügen, mit ihr zu sein. Wenn ich mit ihr sitze und rede, ist mir so wohl und so leicht ums Herz. Ich gebe tausend Badestuben für ihren kleinsten Fingernagel her . . . Wenn sie mich bloß anschaut, wird mir gleich warm in allen Gliedern. ›Schäme dich, Fischke!‹ schimpfe ich auf mich: ›Sündige nicht mit den Worten; die Weiber machen ja das Leben schön. Die Weiber können einen Menschen glücklich machen und die Hölle in ein Paradies verwandeln . . .‹ Bei diesem süßen Gedanken vergaß ich mein ganzes Leid. Und es wurde mir auf einmal recht gemütlich in meinem Winkel, und ich fühlte auch keine Kälte mehr. Ich sprach mit großem Gefühl das Nachtgebet, die Augen fielen mir zu, und ich schlief ein. Plötzlich weckte mich ein schreckliches Geschrei.
›Seht euch nur dies Geschöpf an!‹ schrie jemand in der Stube und warf irgendeinen schweren Gegenstand in das Vorhaus, der mit großem Lärm auf den Boden fiel: ›Seht euch nur dies Geschöpf an! So was nennt sich auch Mensch! Ein Spaß: diese Gräfin Potocki! . . . Kannst du denn nicht im Vorhause liegen, du Gräfin?‹
Ich erkannte sofort die Stimme des Rothaarigen – die Kränke fahre ihm in die Knochen! – Er schrie, schimpfte und fluchte noch eine Weile und schlug dann die Türe mit großem Krach zu. Blasses Mondlicht fiel durch das schadhafte Dach des Vorhauses auf eine menschliche Gestalt, die regungslos, wie leblos dalag. Ich ging auf sie zu, um nachzusehen, wer diese ›Gräfin Potocki‹ sei. Ich schaue hin und bin wie vom Blitze getroffen! Es ist mir finster vor den Augen, und es schwindelt mir im Kopfe wie nach dem ersten Dampf auf der obersten Badebank. Das bucklige Mädel war es, das auf dem Boden mit ausgestreckten Armen lag! Ich bemühe mich, sie zum Bewußtsein zu bringen. Und als sie sich endlich mit Gottes Hilfe rührte, nahm ich sie mit übermenschlicher Kraft, wie man sie in sich spürt, wenn man bei einer der großen Glupsker Feuersbrünste einen Menschen aus den Flammen rettet, auf die Arme und trug sie in meinen Winkel. Ich könnte schwören, daß ich damals so aufrecht ging wie alle Menschen und gar nicht hinkte. Sie schlug ganz langsam die Augen auf und holte tief Atem. Mich überkam solche Freude, wie wenn die ganze Welt mein wäre. Ich fühlte mich wie ein Bettler aus den Geschichtenbüchern, der in einem prunkvollen Palast auf einem bequemen Lehnsessel an der Seite einer Königstochter erwacht. Ich zog schnell meinen Kaftan aus und hüllte in ihn meine Königstochter, die vor Kälte zitterte.
›Ach!‹ seufzte die Bucklige auf, sich die Augen reibend und nach allen Seiten blickend, als ob sie sehen wollte, auf welcher Welt sie sei.
›Was schaust du so?‹ frage ich sie: ›Ich bin Fischke. Gelobt sei Gott, daß du lebst!‹
›Ach und weh ist mir!‹ sagt sie mit einem leisen Seufzer, der tief aus dem Herzen kommt: ›Was taugt mir mein Leben? Der Tod ist viel besser als solch ein Leben. Gott ist doch gut und barmherzig – warum hat er dann solche Wesen wie mich erschaffen, die sich ihren Lebtag plagen müssen?‹
›Närrchen!‹ sage ich ihr: ›Gott wird wohl wissen, was Er tut, es ist Ihm wohlgefällig, daß auch solche Geschöpfe wie wir beide auf dieser Welt leben. Gott ist ein Vater, und Er sieht, hört und weiß alles. Glaubst du, Närrchen, daß Er von unserem Unglück nichts weiß? Gott weiß alles, sei unbesorgt! Siehst du: Sein Mond schaut vom Himmel zu uns herein. Sündige nicht mit Worten, Närrchen!‹
Sie blickte mich mit leuchtenden Augen an, und ihre Tränentropfen funkelten im Monde wie Brillanten. Diesen Blick vergesse ich nie!
Als ich am nächsten Morgen in aller Frühe aufstand, sah ich die Bucklige im Winkel in meinen Kaftan eingehüllt liegen und so sorglos wie ein Vögelchen schlafen. Ihr Gesicht war sehr blaß und hatte einen so sanften, so unglücklichen Ausdruck . . . Die Lippen zitterten zuweilen wie im Gebet. Es war, wie wenn sie um Erbarmen flehte: ›Quält mich nicht! Was hab ich euch getan? Was hab ich euch getan? . . .‹ Vor diesen flehenden Blicken riß mir das Herz entzwei. Tränen traten mir in die Augen und ich weinte . . .
Der erste, der am Morgen ins Vorhaus kam, war der rothaarige Halunke – die Kränke fahre ihm in die Knochen! Er sah mit seinen Diebsaugen mich und die Bucklige an und ging lächelnd wieder in die Stube.«