Mendele Moicher Sfurim
Fischke der Krumme
Mendele Moicher Sfurim

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

V

»Im Glupsker gemauerten Bad hält sich schon seit langer Zeit ein Bursche auf, namens Fischke der Krumme. Wer Fischke ist, woher er stammt, davon habe weder ich, noch sonst jemand eine Ahnung. Nichts zu machen. Da steht so ein Menschenkind herum, ein Fischke, eines von jenen Geschöpfen, die bei uns Juden ganz plötzlich, in fertigem Zustande, in voller Schönheit, wie die Pilze aufzutauchen pflegen, ohne daß man merkt, wie sie aus dem Boden sprossen, oder zuvor auch nur eine Spur von ihnen gesehen hat! . . . Irgendwo in irgendwelchen Löchern hausen Bettler, die in aller Stille Kinder in die Welt setzen – wen geht es auch an? –, die fruchtbar sind und sich vermehren. Ihre Fruchtbarkeit ist, unberufen, sehr groß. Die junge Brut steht eines Tages auf den Beinen, und plötzlich springen viele frische, zappelnde kleine Juden in die Welt hinaus: Fischkes, Chaikeles, Chajims, Josseles. Nackt, barfuß, in bloßem Arbe-Kanfes laufen sie überall – in den Gassen, Häusern, Betstuben – zwischen den Beinen der Leute umher. Schön konnte man den Fischke nicht nennen. Er hatte einen großen, flachen Kopf, einen breiten Mund mit krummen, gelben Zähnen, lispelte, konnte kein ›r‹ aussprechen und hinkte stark auf einem Fuße. Fischke war schon in den Jahren und hatte nicht übel Lust zu heiraten und Glupsk mit einigen Kindern zu beglücken. Zu seinem Unglück hatte man ihn aber gänzlich vergessen, und er wurde, wie ein fauler Artikel im Buchhandel, zu einem Ladenhüter. Selbst bei der Mobilmachung aller Bräutigame in der Cholerazeit hatte man ihn vergessen: in der Zeit, als die Glupsker Gemeinde alle elenden Krüppel, Bettler und Taugenichtse aufgriff und sie auf dem Friedhofe zwischen den Grabsteinen mit ebenso elenden Mädchen verheiratete, um die Seuche abzuwenden. Statt seiner verheiratete die Gemeinde zunächst den berühmten Krüppel Jontel, der sich, auf dem Gesäß rutschend, mit Hilfe zweier kleiner Holzschemel in den Händen, fortbewegte, mit einer stadtbekannten Bettlerin, die Zähne so groß wie Schaufeln und eine Hasenscharte hatte. Die Cholera bekam vor diesem Ehepaar große Angst: sie brachte vor Schreck noch eine Anzahl Glupsker Einwohner um und machte sich aus dem Staube. Das nächste Mal wählte man Nochumtsche, den Gemeindenarren. Dieser wurde auf dem Friedhofe in Gegenwart vieler vornehmer Leute mit einem Mädel getraut, die, mit Verlaub zu sagen, schon von Kind auf eine Krone auf dem Kopfe trug und von der es in der Stadt hieß, daß sie ein Zwitter sei. Die Gemeinde hatte sich auf dieser Hochzeit sehr gut unterhalten und auf dem Friedhofe zwischen den Grabsteinen ein ganzes Meer Schnaps ausgetrunken. ›Das ist gut!‹ sagten sich die Leute: ›Sollen sich die jüdischen Kinder der Cholera zum Trotz vermehren, sollen die armen Krüppel ihr Vergnügen haben . . .‹ Doch nicht davon will ich sprechen. Kurz und gut, die Gemeinde hatte Fischke gänzlich vergessen. Nach Glupsk kam wieder einmal die Cholera, Fischke half sie aber wieder nicht. Er blieb nach wie vor Junggeselle. Selbst die alte nasenlose Muhme, die die Angewohnheit hatte, in Begleitung eines Fiedlers tanzend und singend durch die Gassen zu ziehen und mit einem Teller milde Gaben einzusammeln, damit irgendein Paar Leichen zum Hochzeitstanz gehen konnte, damit die Krüppel, Bettler und armen Mädchen, Gott behüte, nicht sitzen blieben, – selbst diese gute, mitleidige Muhme hatte Fischke ganz vergessen und unbeweibt herumlaufen lassen. Natürlich konnte Fischke einem leid tun; er war doch immerhin ein lebendes Wesen, mit dem der Mensch Erbarmen haben muß. Aber es war ihm wohl schon so vom Schicksal beschieden. Fischke lief gewöhnlich barfuß, ohne Kaftan, in einem groben, geflickten Hemd, schmutzigem Arbe-Kanfes und grober Leinwandhose mit vielen Falten umher. Seine Beschäftigung bestand darin, daß er durch die Straßen rannte und ausrief: am Freitag ›Männer, geht ins Bad!‹ und am Mittwoch ›Weiber, geht ins Bad!‹ Wenn im Sommer das Gemüse reif wurde, klang seine Stimme, die wie die eines Schleien war, durch die Straßen: ›Juden, kommt her! Es gibt jungen Knoblauch!‹ Im Bade überwachte er die Kleider, trug den Badenden Wasser zu, rollte schmutzige Hemden kunstvoll zusammen und besorgte manchmal einem, der seine Pfeife anstecken wollte, eine brennende Kohle, die er aus der einen Hand in die andere warf. Für alle diese Dienste bekam er manchmal einen harten Zweier und manchmal auch einen Dreier. Fischke zählte bereits gewissermaßen zu den geistlichen Amtspersonen und hatte als eine solche gewisse Vorrechte, wie es einmal Sitte ist: Das Recht, mit den übrigen Badeangestellten am Purim und Chanukke eine Runde durch die Stadt zu machen und Purim- oder Chanukkegeld einzukassieren, zu einem Briss oder einer anderen Feier zu kommen und ein Gläschen Schnaps und ein Stückchen Honigkuchen zu kriegen und vor Pejssach mit einem Sack alle Bürgerhäuser abzugrasen und Mazzes einzusammeln. Ich mochte diesen Fischke recht gern, ließ mich mit ihm in Gespräche ein, und seine Worte machten mir oft großen Spaß. Er war gar nicht so furchtbar dumm, wie er aussah. Wenn ich nach Glupsk komme, gilt mein erster Besuch immer dem gemauerten Bad, wo ich mich ausziehe und auf die oberste Schwitzbank steige. Ihr mögt sagen, was Ihr wollt, aber das Dampfbad ist mir der größte Genuß. Was ist besser als schwitzen? Ich will es ausdrücklich sagen: selbst jetzt hätte ich am Schwitzen große Freude, wenn nur die Sonne mir nicht so ins Gesicht schiene.

Rückt etwas weg, Reb Alter! Rückt, bitte, etwas weg: ich glaube, Ihr seid jetzt, unberufen, mitten im schönsten Schwitzen! Rückt noch ein klein wenig weg, ja, so!«

»Nun ist's genug!« sagt Alter mit unzufriedener Stimme. »Jetzt liege ich wohl schon gut. Zieht mir nicht die Seele stückweise aus dem Leibe heraus, sondern macht die Sache kurz!«

»Habt Zeit, Reb Alter! Der Tag ist noch lang«, antwortete ich ihm und fahre in meiner Erzählung fort:

»Wie ich vor einigen Jahren wieder einmal nach Glupsk komme und auf der Straße aus der Ferne Fischke erblicke, fahre ich beinahe aus der Haut vor Erstaunen. Mein Fischke stolziert auf seinen krummen Beinen wie ein Geck einher, hat einen nagelneuen Kaftan, neue Socken und Schuhe an. Auf dem Kopfe trägt er einen Plüschhut mit breitem Rand und am Leibe einen nagelneuen, steifgestärkten Arbe-Kanfes aus rot geblümtem Kattun. – Was soll das bedeuten? – frage ich mich. Vielleicht hat ihn die Gemeinde doch noch zu einem Cholera-Bräutigam erwählt? Glupsk war aber in jenem Jahre von der Cholera verschont geblieben. Nicht, weil man etwa den Stadtteich gereinigt und die Haufen stinkenden Schmutzes und die toten Katzen von den Straßen weggeräumt hätte, oder die Bürger übereingekommen wären, mit der alten Sitte zu brechen und kein Schmutzwasser mehr vor die Häuser zu gießen. Gott bewahre! Wer wird eine jüdische Gemeinde solcher Dinge verdächtigen? Es war eben ein reines Wunder . . . Die Leute beklagten sich zwar über Leibschmerzen, starben auch ab und zu. Es war aber nichts Ernstes, nichts als eine Übergangszeit. Man schrieb es den grünen Gurken zu: das arme Volk hatte sich mit Heißhunger auf das Gemüse gestürzt, alles lief aber mit Gottes Gnade recht glimpflich ab . . . Aber nicht davon will ich sprechen. Während ich so stehe und staune, ist Fischke plötzlich verschwunden. Um jene Zeit litt ich gerade – nicht gedacht soll es heute werden! – an Kreuzschmerzen, denn ich hatte mir schon seit langer Zeit kein Blut abzapfen und keine Schröpfköpfe ansetzen lassen und während mehrerer Monate nur an die zehn Blutegel gegen Zahnweh gebraucht! Also leistete ich das Gelübde, am nächsten Morgen in aller Frühe ins Bad zu gehen, dort einige Stunden zu verbringen und alles, was es nur gibt, durchzumachen . . . Nicht nur bloß wegen Fischke, sondern auch wegen anderer wichtiger Angelegenheiten: um von der Politik, von der Post und allen Dingen, die in der weiten Welt und auch in dieser Stadt geschehen, zu sprechen. Das Bad ist für die Juden der einzige Ort, wo sie alles, was sie auf dem Herzen haben, auspacken und auch von anderen Leuten manches auffangen können. Im Bade erfährt man viele Geheimnisse und schließt manches Geschäft ab; es geht da vielleicht noch viel lebhafter zu als auf dem Jahrmarkte. Wenn man an einem Freitag hinkommt, kann man viel Schönes sehen. In einer Ecke sitzen die Feldscher mit ihrem Werkzeug, um sie herum viele Juden. Der eine Feldscher rasiert die Köpfe, ein anderer ritzt mit einem Rasiermesser die Rücken auf und setzt dem einen Schröpfköpfe an und nimmt sie dem andern wieder ab, und das jüdische Blut fließt in Strömen auf dem Boden, wo es sich mit den Blättchen von den Badebesen und den abrasierten Haaren vermischt. Die geflochtene Kerze des Feldschers zischt, flackert und brennt mit trüber Flamme. An der Decke, an den Wänden, am Ofen hängen wie im größten Geschäft allerlei Kleider herum: Hemden, Socken, allerlei Arbe-Kanfes, Hosen aller Sorten, Kaftans, Röcke und runde Pelzmützen. Von der obersten Schwitzbank klingen schreckliche Schreie. Die Juden liegen dort oben halb ohnmächtig da, stöhnen und ächzen; andere aber bearbeiten sich mit den Badebesen und schreien. ›Jüdische Kinder, Erbarmen! Habt Erbarmen! Gebt noch Dampf her!‹ Im Bade wird es plötzlich kalt, alle schreien, aber niemand fällt es ein, Wasser auf den glühenden Stein zu gießen, bis sich endlich irgendein Junge findet, der das Bad so heiß macht, daß man ersticken kann. Zwei nasse Juden kämpfen wegen eines Kübels, den sie einander mit Geschrei und fürchterlichen Flüchen zu entreißen suchen. Ein ausgemergelter nackter Melamed geht auf sie zu, stiftet zwischen ihnen Frieden, und alle drei tunken ihre schmutzigen Taschentücher in den gleichen Kübel und waschen sich. Auf dem Ehrenplatz sitzen die vornehmsten Bürger der Stadt und reden von Geschäften und anderen wichtigen Sachen: von der Fleischsteuer, von den frechen Kerlen von heute, von der Rekrutierung, von den Rabbiner- und Gemeindevertreterwahlen, von achtzehn und dreizehn und vom neuen Polizeimeister. Zu ihnen gesellt sich wie eine zugelaufene Katze irgendein frommer Mann und bringt die Rede auf die Talmud-Thora, auf die neuen Judenverfolgungen und auf die Sünden, die in der Stadt begangen werden; dabei flüstert er einem jeden irgendein Geheimnis ins Ohr . . . Plötzlich geht auf sie ein Kerl zu, der gerne zu einem Gemeindevertreter gewählt werden will, und lädt den vornehmsten und einflußreichsten Bürger ein, auf die oberste Bank zu kommen, wo er ihn mit eigenen Händen bearbeiten will. Dem frommen Mann, der ebenfalls irgendwelche Absichten hat und gerne ein fettes Bein abnagen möchte, fällt das gleiche ein, und er fordert einen andern vornehmen Bürger mit schmeichlerischem Lächeln zum gleichen Tanze auf. Alle klettern auf die oberste Bank, die Besen kommen in Schwung, und manches Geschäft ist abgeschlossen. Den vornehmen Bürgern zu Ehren wird es wieder furchtbar heiß. Jung und alt greift nach den Wasserkübeln. Die Leute stöhnen und ächzen und geben allerlei Laute von sich. In diesem Augenblick klettere ich hinauf, lege mich ganz für mich in einen Winkel und beginne meine Knochen zu bearbeiten, daß es nur so knackt!

Ach, Reb Alter, rückt noch ein klein wenig weg, dorthin, nach Norden!«

Alter schaut mich wie seinen Peiniger an und zuckt die Achseln.

»Habt Zeit«, rede ich ihm zu: »Was eilt Ihr so? Gleich erzähle ich weiter. Laßt mich nur eine kleine Weile ausschnaufen.«


 << zurück weiter >>