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Heeresarchiv Potsdam, Akte P 367.
Nach Monaten hat Seeckt zu der Frage, was aus dem infolge des Durchbruchs von Gorlice–Tarnow eroberten Polen werden soll, in einer Denkschrift an Falkenhayn Stellung genommen. Eine solche Denkschrift ist nicht so auffallend, wie sie nachträglich erscheinen könnte. Der unerwartete Sieg hatte Länderteile eingebracht, mit deren Schicksal man sich bis dahin selten beschäftigt hatte. So liefen eine ganze Reihe von Stellungnahmen ein, unter anderen auch von Reichstagsabgeordneten.
Seeckt, den seit seiner Jugend die polnische Frage ungemein interessierte, scheint seine Ausführungen unaufgefordert übersandt zu haben. Es beweist dies, daß sein Verhältnis zu Falkenhayn damals immerhin eine gewisse Vertraulichkeit aufgewiesen haben muß.
An den Ausführungen Seeckts ist so ungewöhnlich interessant nicht eigentlich die polnische Frage, sondern die Frage, was aus Österreich im Falle eines deutsch-österreichischen Sieges geworden wäre. Mit der polnischen Frage konnte aus dem österreich-ungarischen Dualismus ein Trialismus werden. Setzte man im Falle eines Sieges voraus, daß die österreichische Balkantendenz zur Annexion serbischen Gebietes vorschritt, so mußte die Zukunft sogar eine Vierfachheit der Konstruktion miteinander völlig widerstrebenden Richtungen bringen.
»D. 14. 12. 1915. Euer Excellenz bitte ich es mir zugute zu halten, wenn ich es wage, die anliegende kleine Studie gehorsamst vorzulegen. Zu meiner Entschuldigung kann ich nur anführen, daß Euer Excellenz selbst vor einiger Zeit mit mir über die berührte Frage sprachen und daß ich Euer Excellenz in der Lage weiß, die kleine Arbeit gelesen oder ungelesen in den Tiefen eines Papierkorbs oder eines gleichwertigen Aktenstückes verschwinden zu lassen.
Mit der vorzüglichsten Hochachtung bin ich Euer Excellenz gehorsamer v. Seeckt.
Soll Polen geteilt werden? Diese Fragestellung begrenzt das zu teilende Land auf das mit unseren Waffen Rußland abgenommene polnische Gebiet … Leidenschaftlich wird die Frage von den Polen selbst verneint werden. Ein neues polnisches Reich soll entstehen aus dem bisherigen Russisch-Polen, und mit dem Augenblick, da diese Gründung sich zu gestalten beginnt, schweifen bereits die Blicke zu den ›unerlösten Brüdern‹. Und – täuschen wir uns nicht – sie werden auch von diesen zu dem neuen Nationalstaat wandern. Überall, wo die polnische Sprache herrscht, wird sich seine Anziehungskraft fühlbar machen; für alle Polen von Lemberg bis vor die Tore Wiens, von Thorn und Oberschlesien bis vor die von Berlin gibt es einen gemeinsamen Mittelpunkt außerhalb des eigenen Staates. So entsteht dann die Frage: Soll Polen geteilt bleiben?
Sie wird, soweit Preußen beteiligt ist, wohl von jedem bejaht werden. Die Abgabe preußischer Landesteile an das neue Polen kann nicht in Frage kommen, bleibe also hier außer Betracht. Auf der österreichischen Seite liegt die Beantwortung nicht so klar; die Vereinigung von Galizien oder von Teilen dieses Landes mit dem polnischen Nationalstaat dürfte unter bestimmten Voraussetzungen in der Monarchie manchen Fürsprecher finden. Wollen wir den bisherigen Zustand innerhalb unserer jetzigen Grenzen erhalten und einen Anlaß zu neuer Beunruhigung vermeiden, so werden wir die Frage nach der Teilung Polens bejahen müssen … Nur muß jetzt an Stelle der Dreiteilung die Zweiteilung treten.
Die ganze Frage soll hier nur unter den Gesichtspunkt deutscher Interessen gestellt werden, die darin gipfeln, uns für den nächsten Krieg eine günstige Lage zu schaffen. Österreichischen Wünschen und Hoffnungen kann nur insoweit Rechnung getragen werden, als sie unserem Vorteil nicht entgegen sind; Rußland ist in dieser Betrachtung nur Gegenstand, nicht ein mitsprechender Teil. Das ist fast zu bedauern, denn die bisherige Dreiteilung hatte neben manchem Nachteiligen auch ihr Gutes. Sie stand den polnischen Einheitswünschen als dauerndes Hindernis entgegen und hielt durch den Vergleich mit den Verhältnissen jenseits der russischen Grenze die preußischen und österreichischen Polen stets in einer gewissen Loyalität … Die Frage nach einer Rückerstattung polnischer Landesteile an Rußland muß aber auch aus den verschiedensten Gründen ausscheiden; vor allem soll das eroberte Land einen neuen und guten Schutzwall nach Osten bilden. Es drängt sich nun damit die Frage auf, ob es unserem Vorteil nicht am meisten entspräche, für uns vom polnischen Lande nur einen Gürtel zu nehmen, der die bisherige ungünstige Gestaltung unserer Grenze ausgleicht. Jenseits dieses Raumes, der zugleich das heutige Preußisch-Polen abschließt, entstände dann der neue Staat, gebildet aus den Resten des bisherigen russischen Großherzogtums Polen. Er wird nicht selbst und für sich allein lebensfähig sein und in ein mehr oder weniger enges Verhältnis zu den beiden ihn schaffenden Staaten treten müssen. Immerhin wird er ein neuer slavischer Staat. Man wird eine Reihe von Sicherheitsmomenten schaffen können und wird doch nicht verhindern, daß dieser Slavenstaat bei einem neuen Völkerringen auf Seiten Russlands oder – Österreichs steht. Die großen und sich naturgemäß ergebenden Schwierigkeiten werden dadurch nicht erleichtert, wenn an die Spitze des Staates, wie es polnischen und wohl auch österreichischen Wünschen entspricht, ein Erzherzog tritt. Deutschland wird in dem neuen Polen stets der Unterdrücker sein, Österreich der Freund. So ergibt sich ganz von selbst ein innerer Anschluß Polens an Österreich. Dieses hat seinen Polen, nicht zum Nutzen der Gesamtheit, in Galizien weitreichende Vorrechte verliehen fast bis zum Verzicht auf die gesamtstaatliche Oberhoheit, so daß das neue Polen sich von der österreichischen Aufsicht mit Recht gute Tage versprechen kann, jedenfalls bessere als von der deutschen … So wird ein neuer polnischer Staat ein unzuverlässiger Kräftezuwachs für die beiden verbündeten Kaisermächte sein, bei der Wahl zwischen beiden sich stets auf die Seite Österreichs stellen. Er bedeutet somit einen, vielleicht nicht ganz sicheren, aber doch tatsächlichen Kräftezuwachs des Nachbarreiches, und zwar einen seines slavischen Teils, der ohnehin durch die voraussichtliche Eingliederung von Teilen Serbiens eine unerwünschte Stärkung erhält.
Die vorstehend dargelegten Verhältnisse treten noch schroffer zutage, wenn der weitaus größte Teil des eroberten Polens als neues Land zur länderreichen Krone Habsburgs fällt. Dieser Ausweg hätte an sich den Vorteil der Einfachheit und würde die durch die gemeinsame Oberhoheit entstehenden Reibungen ausschalten. Er führt – gleichviel wie man sich die staatsrechtliche Regelung im einzelnen vorstellt – zu einem Trialismus an Stelle des jetzigen Dualismus, zu einem Kaisertum Österreich-Ungarn-Polen, in dem das Deutschtum nur noch eine schwache Minderheit hat. Erscheint dann ein das ehemalige Großherzogtum Warschau und das bisherige Galizien umfassendes Königreich Polen mit der Selbständigkeit Ungarns ausgerüstet auf der politischen Bildfläche, so bietet es für den unter preußischer Herrschaft verbleibenden Rest der Polen die gleiche Anziehung wie ein eigener polnischer Staat. In dieser Beziehung wäre also nichts gewonnen, während der Damm gegen Rußland durch diese Eingliederung in Österreich nach den Erfahrungen in Galizien nicht stärker geworden wäre. Ob Österreich in der Lage ist – physisch und moralisch – das neuerworbene Land so fest mit dem eigenen Staatsgedanken zu erfüllen, daß es willig oder unwillig ein zuverlässiges Grenzland bildet, muß bezweifelt werden. Die Frage nach einer kulturellen Hebung zur Gewinnung eines leistungsfähigen Absatzgebietes muß gleichfalls mit einem Blick auf den Zustand Galiziens verneint werden. Es würde also nur eine Stärkung Österreichs bleiben. Weitgehende politische Zukunftsfragen mögen hier ganz aus dem Spiel bleiben. Das wird aber als Ziel unseres Handelns anzusehen sein, das Reich für sich selbst stark zu machen, so stark, daß es Österreich gegenüber der Hilfe gebende Teil bleibt. Die Bundespolitik der Monarchie dürfte im umgekehrten Fall vielleicht wieder einmal auf die Bahnen der Zeit vor 1866 geraten. Wir gelangen demnach so, wenn wir Rückgabe an Rußland, Selbständigkeit und Angliederung an Österreich gleichmäßig verwerfen, notgedrungen zu der Einverleibung eines großen Teils des eroberten Landes in das Königreich Preußen. Eine Idee wäre vorher noch zu berühren, die der Schaffung eines neuen polnisch-deutschen Bundesstaates aus dem an uns fallenden Teil. Sie dürfte nicht allzuviel für sich, viel gegen sich haben.
Die Schaffung einer neuen preußischen Provinz Süd-Preußen – um den historischen Namen wieder aufleben zu lassen – wird also zur zwingenden politischen Notwendigkeit. Die Frage nach der uns militärisch vielleicht genügenden, innerpolitisch mehr befriedigenden Schaffung eines die Grenze berichtigenden Gürtels muß ausscheiden … Zweifellos entstehende innere Schwierigkeiten dürfen uns nicht abschrecken; vielleicht sind große neue Aufgaben für uns im Innern sogar von Vorteil nach dem Krieg. Allein die ruhige und wie selbstverständlich wirkende Einbeziehung des Landes in die festgeordnete preußische Verwaltung bietet die Gewähr, in absehbarer Zeit nicht neues deutsches Land zu schaffen, aber einen zuverlässigen Wall um dieses gegen alle Feinde. Die nationale Eigenart soll nicht vernichtet werden; wenn allen staatlichen Bedürfnissen genügt ist, kann dem Land eine gewisse provinzielle Selbständigkeit und Selbstverwaltung zugestanden werden. Dem Gedanken, durch eine neue Völkerwanderung alle Bewohner über die Grenze abzuschieben und das ganze Land neuer deutscher Besiedlung zu öffnen, kann nicht beigestimmt werden … Ganz das bodenständige Element zu verdrängen, scheint nicht angezeigt; man beraubt sich selbst eines konservativen, weil an der Scholle hängenden Stammes und der notwendigen, mit den Verhältnissen vertrauten Arbeitskräfte. Ganz Polen in ein Land der Kleinsiedlungen zu verwandeln, ausschließlich Vaterland zu schaffen, entspricht an sich schon nicht den landwirtschaftlichen Verhältnissen des Ostens. Gelangt nun noch, was bei der engen Verbindung mit dem Reich zu erwarten ist, die Industrie im Land zur höheren Blüte, so sollte es bei einigermaßen geschickter Hand nicht schwer sein, eine zufriedene preußische Provinz zu schaffen, die mit dem stärksten Band, dem des eigenen Interesses, an den neuen Staat gefesselt ist. Wenn dann das Gefühl der Unabänderlichkeit der Verhältnisse hervorgerufen und erhalten wird, dann werden sich die südpreußischen Polen das Schielen über die Grenze nach Rußland und Österreich schnell abgewöhnen. Voraussetzung für dieses Gefühl der Bleibenden ist die Sichtbarkeit der unerschütterlichen Staats- und Militärgewalt; zu dieser gehört auch der feste und natürliche Abschluß nach außen …«