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Inzwischen hatte die O.H.L. den Befehl zur Aufstellung des A.O.K. 11 für besondere Zwecke der Heeresleitung am 3. März 1915 gegeben. Es unterliegt keinem Zweifel, daß an diesem Tage, also zwei Monate vor der Durchbruchsoperation von Gorlice, die Absicht bestand, dies A.O.K. im Westen einzusetzen. Am 9. 3. 1915 kam die Stellenbesetzung des A.O.K. 11 heraus. Oberbefehlshaber wurde General von Fabeck, der knapp drei Wochen danach für den verwundeten General von Kluck Oberbefehlshaber der 1. Armee wurde. Zum Chef des Generalstabes der 11. Armee wird Oberst von Seeckt ernannt. Man fragt sich unwillkürlich, wie es denn dazu kam, daß die Wahl gerade auf Seeckt fiel. Wohl war er, wenn auch für damalige Begriffe noch etwas jung, so doch an sich dem Dienstalter nach zum Armeechef heran. So mögen ihm in den ersten Tagen des Jahres 1915 Gerüchte über eine solche Verwendung erreicht haben. Er schreibt davon: »... Die noch höhere Stellung, die man mir wünscht, wird wohl noch auf sich warten lassen. Ich finde auch, daß die jetzige meinen Kräften entspricht. Es ist ja auch die Frage, ob man in einer anderen Gelegenheit hätte, mehr zu leisten. Womit ich nicht sagen will, daß das in dieser geschieht. Man wird auch in dieser Beziehung genügsam und muß es nehmen wie es kommt …« Noch am 4. Februar 1915 schreibt er, daß nicht die leiseste Aussicht auf eine Veränderung für ihn bestünde. Als er am 9. März das Telegramm bekommt, daß er in eine andere Generalstabsstelle versetzt ist, ist er vollkommen überrascht. »Ich habe den Wechsel nicht erwartet. Was soll ich sagen? Ich kenne das neue Tätigkeitsfeld nicht, klein wird es wohl nicht sein. Der Abschied vom Korps geht mir sehr nahe. Ich habe doch mit ihm viel und Größtes meines militärischen Lebens erlebt. Es ist ein blutiger Kitt zwischen uns. Daß Wetzell mein Nachfolger ist, ist mir eine große Freude und Beruhigung. Er kennt alles und alle und hat das Vertrauen des Kommandierenden Generals. … Ein eigenartiges Gefühl: In schwerwiegenden 7 Monaten sind die Gedanken und das Wollen immer auf so beschränktem und bestimmtem Raum zusammengehalten gewesen, der nun plötzlich einem nichts mehr ist als Erinnerung. Interessen, die ihre zwingende Gewalt übten, haben keinerlei Bedeutung mehr. Neuen Pflichten, neuen Zielen entgegen. Vertrauen wir, daß die Kräfte reichen …«
Es ist nicht ganz einfach, die Motive aufzuspüren, die General von Falkenhayn bewogen haben, Seeckt aus der großen Zahl der Korpschefs herauszuheben zu besonderer Verwendung. Daß er Armeechef wurde, war nicht verwunderlich. Aber er wurde Chef einer Armee, die von vornherein zu besonderer Tat bestimmt wurde. Anhaltspunkte, wer den Anstoß gab und warum General von Falkenhayn gerade Seeckt bestimmte, finden sich nicht. Allerdings faßte die Zentralabteilung des Generalstabes, die die Personalien bearbeitete, den Erfolg von Soissons als eine Bestätigung des über Seeckt bereits vorhandenen günstigen Urteils auf. Man darf annehmen, daß der Chef der Zentralabteilung bei der Erörterung der Stellenbesetzung für das neue A.O.K. 11 vollständig im Zuge der normalen Entwicklung den Namen Seeckts daher genannt hat Mitteilung von Genllt. v. Tieschowitz.. Die Vermutung, daß besondere Beziehungen damals zwischen General von Falkenhayn und Seeckt bestanden hätten, ist ein Irrtum. Sie kannten sich sehr wenig. Wohl hatte Seeckt über General von Falkenhayn günstige Ansichten. Er äußerte gelegentlich nach der Ernennung Falkenhayns zum Nachfolger Moltkes, daß Falkenhayn wohl der richtige Mann an seinem Platze sei. Wenn Seeckt niemals zu denen gehört hat, die Falkenhayn angriffen oder gar verurteilten und über diese seine wohlmeinende Haltung nach dem Kriege keinen Zweifel gelassen hat, so beweist das keineswegs, daß sie sich nähergestanden hätten. General von Falkenhayn hat den Oberst von Seeckt nicht viel mehr gekannt, als der Chef des III. Korps durch seine Leistung bekannt geworden war. Seeckt selbst hat aber in einem späteren Brief geschrieben, daß er seine Berufung wohl »den alten Beziehungen zu Falkenhayn und der in den Tagen von Soissons gewonnenen gnädigen Gesinnung des Kaisers« verdanke. Worin die alten Beziehungen bestanden haben sollen, ist nicht so recht ersichtlich. Man muß durch Vailly-Soissons auf Seeckt aufmerksam geworden sein, soweit Seeckts Ruf nicht eben schon vorher ein etwas ungewöhnlicher gewesen ist. Jedenfalls schreibt General Ludendorff von ihm Kriegserinnerungen Seite 109. Die Worte betreffen die Ernennung zum Chef beim Gen. v. Mackensen. Da sie nur wenige Wochen nach der Ernennung zum Chef der 11. Armee liegt, trifft das Urteil über Seeckt für beide Anlässe zu.: »... Chef des Generalstabes wurde Oberst von Seeckt, durch seine Geistesschärfe und klare Gemessenheit eine der am stärksten hervortretenden Erscheinungen des Weltkrieges.« Man könnte hier noch einwerfen, daß dieses Urteil nach dem Abschluß des Krieges ausgesprochen ist. Dann bliebe immer noch, daß die Bedeutung Seeckts schon 1915 mindestens in seinem Stabe erkannt war. Die Hochachtung für seine Person ging so weit, daß der Gedanke bei einer Persönlichkeit von allgemein anerkannter Kritikfähigkeit schriftlich Ausdruck fand, Seeckt möge einmal für die große Stellung des Chefs des deutschen Generalstabes im Frieden in Betracht kommen. Ein prophetischer Wunsch von tragischem Gewicht. Für wenige Wochen ist ja Seeckt 1919 tatsächlich noch Chef des deutschen Generalstabes geworden mit der Aufgabe, ihn aufzulösen.
Seeckt hat trotz Vailly und Soissons eigentlich niemals das Gefühl gehabt, Besonderes als Chef geleistet zu haben. Er hat das mehrfach ausgesprochen. Wenn er kurz vor Vailly im Oktober schreibt, »äußerlich ruhmvoll sei die Rolle des III. Korps bisher nicht gewesen, … es liege ihm aber auch nichts daran, nachträglich sich selbst Leistungen zu konstruieren«, so ist das schließlich verständlich. Aber man kann auch weiterhin die Zeichen einiger Enttäuschung doch nicht übersehen, die darauf hindeuten, er sei sich besonderer Verdienste nicht bewußt gewesen. Einmal, Ende Januar 1915, bedauert er es sogar, daß er nicht Armeechef geworden sei. »Schade, daß ich dazu zu jung bin. Wie alt muß man eigentlich sein, um etwas leisten zu dürfen? Schwer zu sagen. Damit will ich aber nicht sagen, daß ich unzufrieden bin. Nur hier wieder bis auf weiteres an der Aisne zu sitzen und darauf zu warten, daß andere siegen, ist keine recht befriedigende Aufgabe.« Anfang Februar verstärkt sich sogar dieser Ton. »Das niederdrückende Gefühl der jetzigen Tatenlosigkeit und Ohnmacht bewirkt, daß man stiller geworden ist. Wir gehen doch alle durch eine lange Reihe von Enttäuschungen durch. Diese Zeit wirkt ja verschieden: Der eine sieht das Nichterreichte, und besser das noch zu Erreichende, der andere blickt befriedigt auf das Geleistete zurück. Das sind Temperamentsfragen.« Ende Februar wiederum bezeichnet er sich, als er sich Gedanken über die augenblickliche Politik macht, merkwürdigerweise sogar selbst als einen mittleren Soldat. »... Das ist der Fluch des Mangels an großem Willen, der schon einmal das Falsche wollen kann, solange er nur überhaupt will. Oft denke ich, daß es schade ist, daß man nicht, statt ein mittlerer Soldat zu sein, ein schlechter Politiker nach dem Kriege werden kann. Das ist aber ganz unmöglich, da der Weg dazu nur durch die Partei ginge, und ich möchte in keiner sein … Aber es muß sich jeder in seine Rolle finden …«
Es ist demnach so, daß Seeckt bis zum Februar 1915 wohl sich als ausgezeichneter Korpschef bewährt hat, daß es auch Menschen gibt, die ihn besonders günstig beurteilen, daß er aber immer noch eine Persönlichkeit ist, die nicht einmal so bekannt war wie manche andere Große im Generalstab. Um ihn für einen Sonderauftrag herauszuheben, bedurfte es in der Tat eines besonderen Vorganges, und das ist eben Soissons gewesen. Seeckt selbst hat sich immer etwas gegen eine Überbewertung dieses Gefechtes, wie er es stets nennt, aufgelehnt. Er hat selbst den ganz ungewöhnlichen Eindruck im Auslande geschildert, aber er hat ganz zweifellos den Eindruck in den eigenen Reihen unterschätzt. Man darf nicht vergessen, daß seit den Tagen von Lodz nichts Großes mehr erreicht war, daß seitdem zunächst auch nichts Großes gewollt wurde. Die Schwere des Krieges wurde jetzt erst von Woche zu Woche mehr der Allgemeinheit, im Heer und in der Heimat, fühlbar. Der Traum eines Feldzugsendes zu Weihnachten war natürlich längst ausgeträumt. Aber das Bewußtsein ergriff weite Kreise eigentlich erst um die Jahreswende, wie schwer dieser Krieg werden würde. Eine Depression war die Folge, die rückschauend denen nicht leicht vorstellbar ist, die später unendlich viel Schwereres durchgemacht haben. Man stand in der ersten erheblichen seelischen Krise der Nation. Und in diese hinein schlug nun als erster Lichtblick der Sieg bei Soissons. Die Situation war so, daß die Wirkung ganz ohne weiteres weit über das hinausging, was Soissons an sich bedeutet haben mag. Es war in Tagen kleinlichen Zweifelns der deutliche Beweis, daß eine deutsche Truppe auch im Westen noch zu siegen vermochte. Es war klar, daß sich alle zurückgedrängten Hoffnungen wieder aufrichteten an dieser einen Kampfhandlung. So hob das Schicksal Seeckt heraus aus der Masse und brachte ihn, natürlich mit seinem Verdienst, aber auch vom Schicksal gefördert, endlich an eine Stelle, wo die seltenen Gaben dieses Mannes zu ausreichender Auswirkung kommen konnten.
Am 11. März tritt das neue A.O.K. in Kassel zusammen. Auf der Hinfahrt meldete sich Seeckt in Mézières bei S.M. und bei General von Falkenhayn und erhielt mündlich den Auftrag: »Die 11. Armee erhält zunächst noch keine Truppen zugeteilt. Zusammensetzung und Verwendung behält sich der Chef des Generalstabes des Feldheeres noch vor. Er beabsichtigt, durch einen Durchbruch großen Stils an der Westfront den Krieg wieder in Bewegung zu bringen und die Entscheidung herbeizuführen. Ich erhalte den Auftrag persönlicher Erkundung aller mir nicht bekannten Teile der Westfront unter Ausschaltung mir ungeeignet erscheinender Frontabschnitte …« Bedeutsam ist, daß hier und nur hier allein Seeckt davon spricht, daß die von ihm vorzuschlagende Operation eine Entscheidung herbeiführen solle. Wenn später überhaupt dieses wichtige Wort »Entscheidung« gebraucht wurde, dann ist stets nur davon gesprochen worden, daß man eine Entscheidung einleiten wolle. Seeckt selbst hat die Aufgabe anfangs in ganz großem Rahmen aufgefaßt. Er schlug den Einsatz zweier Armeen hintereinander und die Führung durch ein Heeresgruppenkommando vor.
Die Tage in Kassel bringen eine kurze Wiedersehensfreude mit Frau von Seeckt. Am 15. wird das A.O.K. nach Maubeuge abtransportiert. Unmittelbar nach dem Eintreffen dort wird dem A.O.K. seine Aufgabe von der O.H.L. schriftlich gestellt O.H.L. Nr. 5890 Ib.: Erkundungen für einen von der O.H.L. beabsichtigten Angriff zum Durchbruch der Westfront. Das A.O.K. 11 soll den Angriff leiten. Erste Aufgabe: Erkundung des Geländes zwischen La Bassée-Kanal und Avre bei Roye mit dem Ziel, in 25–30 km Breite die feindliche Front nördlich der Somme bis zum Meer zu durchstoßen. Hinter der Durchbruchsstelle will die O.H.L. weitere Kräfte bereitstellen, damit der taktische Durchbruch zum operativen werden kann. Diese Erkundungsaufgabe stand im Zusammenhang mit der schon erwähnten Denkschrift des Generals Wild v. Hohenborn, den selbständigen Vorschlägen des A.O.K. 1 und des A.O.K. 6. Der Vorschlag des A.O.K. 1 vom 13. war jedenfalls am 16. der O.H.L. bekannt. Alle diese Vorschläge hatten bewirkt, daß Falkenhayn sich innerlich auf einen Angriff nördlich Arras als günstigste Angriffsrichtung festgelegt und diese Absicht der Weisung an das A.O.K. 11 zugrunde gelegt hatte. Seeckt begann bereits am 17. mit den Erkundungen innerhalb des ihm vorgeschriebenen Raumes. Er stand von sich aus nicht vor der Wahl, an der Westfront eine Angriffsstelle zu wählen, sondern er hatte lediglich innerhalb eines ganz bestimmten Raumes eine Durchbruchsstelle auszusuchen. Er muß sich also in zweifacher Beziehung innerlich mit etwas abfinden, was sich in seine Gedanken gewiß nicht leicht hineinfügt. Der Mann einer, richtig aufgefaßten, Osttendenz, der im Westen die Richtung Paris bevorzugt, muß sich einpassen einem Westentschluß mit der Richtung auf Amiens. Es bewährt sich die oft bewunderte, straffe Erziehung, die den Generalstabsoffizier auch in einem Lebensalter, in dem es ihn zu eigenen Entschlüssen drängt, nicht verläßt. In knapp 14 Tagen hat er die Erkundungen so durchgeführt, daß er eine Denkschrift am 30. März über einen Angriff nördlich der Somme in etwa 25 km Breite vorlegt. Es sind unruhige Tage, wie es die genaue Erkundung in vorderer Linie mit sich bringt. Aber man fühlt auch aus den Aufzeichnungen Seeckts heraus, wie es ihn befriedigt, nun endlich vor eine große Aufgabe gestellt zu sein. Diese Denkschrift ist uneingeschränkt Seeckts Arbeitseigentum, da er in diesem Falle seit der Versetzung des Generals von Fabeck zur 1. Armee keinen Oberbefehlshaber mehr hatte. Fabeck und Seeckt haben die Trennung beiderseits bedauert. Seeckt um so mehr, als ihm der Vorgang unklar war, weil er zunächst von der schweren Verwundung des Generals von Kluck nichts wußte. Insofern bedrückte es Seeckt sogar etwas, als »die anderweitige Verwendung Fabecks nicht gerade für eine baldige Verwertung meiner Talente spricht, wenigstens auf praktischem Gebiete … Ich habe aber schon viel stillhalten und abwarten gelernt und glaube doch bestimmt, daß auch mir noch ein Feld der Betätigung wird … Einen Krieg der Enttäuschungen nannte ich ihn schon einmal. Das wird er auch bleiben, aber auch ein Krieg der herrlichsten Überraschungen, die namentlich auf dem reichen Gebiet des Innern liegen. Eines ist sicher – kommt es bald zum Frieden, was ich nicht glaube – da in diesem Falle nicht zwei, sondern vier dazu gehören, so wird er nur geschlossen, um den zweiten Krieg … besser gerüstet und unter günstigeren Voraussetzungen zu führen. Das wissen sie aber drüben auch …«
Eine kleine Episode möge hier folgen, lediglich weil sie zufällig im gleichen Briefe steht: »... Gestern erzählte jemand eine niedliche Szene aus dem Reichstag: Der Staatssekretär Dernburg antwortete mit Pathos auf Angriffe eines Sozialdemokraten und schloß, 90 mal 9fach weise er die ihm gemachten Unterstellungen zurück. Darauf Erzberger ganz kurz: ›... Ich habe nur dem Staatssekretär zu bemerken, daß es nicht 90 mal 9, sondern 70 mal 7 heißt. Das steht aber im Neuen Testament, womit der Herr Staatssekretär entschuldigt ist‹ …«
Seeckt sieht bei den Erkundungsfahrten eine große Anzahl der führenden Persönlichkeiten auf der nördlichen Hälfte der Westfront bis hin zum Meer. Die Eindrücke sind natürlich flüchtig und seine humorvollen und doch immer ein klein wenig spöttischen Bemerkungen nur als Augenblicksvermerke zu bewerten. Eine mag hier ihren Platz finden: »... In Thielt … beim Herzog Albrecht Herzog Albrecht v. Württemberg, Oberbefehlshaber der 4. Armee., der mir sehr gefiel. In dieser Hinsicht habe ich wieder mal meine Ansicht geändert. Wenn sie gut sind, so sind als Armeeführer Prinzen besonders gut, weil sie meist jünger sind und geistig und körperlich leistungsfähiger. Ein Thema für sich. Angenehm ist die Einfachheit, zu der der Krieg führt, die aber auch sonst vielleicht dem Herzog innewohnt … Auch der junge Prinz machte einen frischen Eindruck.«
Etwas eigentümlich kommt ihm seine Lage vor. Er schreibt daher am 29. 3. 15 an Wrisberg, daß er zunächst durch seine große ihn völlig überraschende Auszeichnung und von dem, was man von ihm erwarte und erhoffe, nahezu überwältigt sei. Aber nunmehr käme ihm der Zustand etwas merkwürdig vor, denn in den drei Wochen, die seit dem Beschluß der Aufstellung des A.O.K. 11 verflossen seien, habe sich die Lage doch nicht derart verschoben. »Ich weiß es nicht, wie ich hier überhaupt weniger erfahre als je zuvor. Inzwischen hoffe ich in ewigem Optimismus, daß zu der Stellung auch noch die Betätigung kommt und rechne weiter auf Ihre Unterstützung …« Aus diesem Brief an Wrisberg geht zweierlei hervor. Einmal kann man annehmen, daß bei der Ernennung zum Armeechef Seeckt eine gewisse Einwirkung Wrisbergs vermutet hat. Zum anderen hatte Seeckt Ende März bestimmt keine Ahnung davon, daß Falkenhayn bereits am 29., also einen Tag, ehe Seeckt seine erste Denkschrift einreichte, und eine Woche vor der mündlichen Rücksprache Seeckts mit Falkenhayn, sich schon mit Ostfragen beschäftigte.
Die Denkschrift vom 30. März ist nicht zur Anwendung gekommen. Man soll sie aber lesen unter dem Gesichtspunkt der tatsächlichen Ereignisse des Jahres 1918 in dieser Gegend. Seeckt hält sich in seiner Denkschrift streng an den Rahmen, der ihm in Auftrag gegeben wurde. Allerdings gibt er als Ziel des Durchbruchs nicht Amiens, sondern das Meer an und fügt sofort hinzu, daß sich dem gelungenen Durchbruch das Einschwenken, und zwar möglicherweise auch nach Süden anschließen müsse. Man sieht immer wieder das Streben, nicht etwa eine erfolgreiche Operation des Stellungskrieges zu ermöglichen, sondern im ganzen aus dem Stillstand heraus in die Bewegung hineinzukommen. Es wird also ein Angriff nördlich der Somme aus der Linie Arras–Somme vorgeschlagen. Ein Vorgehen südlich der Somme wird operativ für ungünstiger und daher nur zur Nebenoperation geeignet angesprochen. Auch 1918 lag die Nebenoperation südlich der Somme, brachte aber großen Erfolg. Als taktische Durchbruchsstelle schlug Seeckt die Strecke von nördlich Ficheux über Ransat bis Thiépval vor. Selbst in den taktischen Erwägungen, die recht eingehend sind, kommt er noch einmal auf frühzeitige Einleitung der Operation an den Flanken des Durchbruchs zurück. Nördlich Arras sollte ein Nebenangriff den Hauptangriff begleiten. Es ist bezeichnend, daß Seeckt hinter beiden Armeeflügeln Kavallerie für das Einschwenken haben will Heeresarchiv Potsdam, Akte 383 und 405.. In der Tat hatte sich Seeckt aber so völlig, wie es seinem Bericht nach schien, nicht mit dem gewählten Durchbruchsraum innerlich abgefunden. Unwillkürlich kehrten seine Gedanken zu der alten Stelle bei Soissons, nicht etwa östlich Soissons, zurück. Am 6. April ist er nach Mézières zu einer Rücksprache mit Falkenhayn ins Große Hauptquartier bestellt. Er erfährt hierbei nichts davon, daß inzwischen am 28. der Feldeisenbahnchef Groener beauftragt war, einen Eisenbahnaufmarsch in Westgalizien vorzubereiten, den er bereits am 31. 3. vorlegt, also an dem Tag, an dem Seeckts Bericht vom 30. im Gr.H.Qu. eintrifft; daß am 29. 3. der Chef des Stabes des Generals von Woyrsch, Oberst Heye, den Auftrag erhält, einen Angriffsvorschlag an der Nida zwecks späteren Vorgehens über die Weichsel in Richtung Rzeszow vorzulegen; daß Oberst v. Loßberg, der damals für einige Zeit Oberst Tappen vertrat, beauftragt wurde, einen Aufmarsch hinter der k.u.k. 4. Armee auszuarbeiten für einen Durchbruch mit weitem Ziel. Seeckt hat später selbst eine Schilderung der Unterredung mit Falkenhayn geschrieben Schreiben Seeckts vom 13.11.1927 an das Reichsarchiv, von diesem im Band 7 nur mit wenigen Sätzen im Auszug wiedergegeben.: »General von Falkenhayn, der mir inzwischen nur kurz am Telephon seine allgemeine Zustimmung zu meinem Vorschlag ausgesprochen hatte, berief mich am 6. 4. nach Mézières. Er kam gerade von Berlin zurück, wo er eine Zusammenkunft mit General von Conrad gehabt hatte. Er eröffnete mir: er sei mit meinem Vorschlag einverstanden Andere hatte vielleicht der Bericht nicht so überzeugt, weil der Verfasser selbst ja nur Befehlen folgte. Am Rande der Denkschrift Seeckts sind Bemerkungen, die vermutlich von General von Below stammen und besagen, dag er von den Ausführungen Seeckts »nicht überzeugt« war. und, wenn es zu einer großen Durchbruchsoperation im Westen käme, so solle ihr mein Plan zugrunde liegen und ich Chef des Generalstabes der Heeresgruppe werden – aber die Lage im Osten sei schlecht und könne ihn gegen seinen Wunsch zum Einsatz verfügbarer Kräfte im Osten zwingen. Österreich hätte ganz offen mit Abfall und Sonderfrieden gedroht, wenn die Russen in Ungarn eindrängen; dann wäre auch Italien nicht mehr zu halten. Ich solle mich also einmal mit dem Studium der Lage im Osten beschäftigen unter dem Gesichtspunkt, daß den Österreichern schnell und wirksam geholfen werden müsse.«
Auf eine wirkliche Änderung der Absichten kommt Seeckt aber trotzdem erst am 10. in einem Brief zu sprechen. An diesem Tage rechnet er allerdings bereits erheblich mit einer Ostverwendung.
Seeckt hat dann in der Unterredung vom 6. 4. sich nochmals über den Angriff an der Aisne geäußert. Er muß daraufhin die Genehmigung oder den Auftrag erhalten haben, auch über diese Angriffsmöglichkeit einen Vorschlag vorzulegen. So ist, unabhängig von allen inzwischen heranreifenden Ostabsichten, der Bericht vom 11. April 1915 entstanden Heeresarchiv Potsdam, Akte 405.. An den Anfang stellt Seeckt zunächst eine Frage, nämlich die, was man wolle; ein beschränktes oder ein unbeschränktes Ziel. Er kann es nicht unterlassen, immer wieder mit Hinweisen danach zu drängen, daß man Großes und nicht Kleines anstrebe. Es ist nun sehr bezeichnend für die innere Disziplin Seeckts, daß er, obwohl er nicht mehr dem Chef der 1. Armee untersteht, sondern ihm als Armeechef gleichgestellt ist, dennoch sich im Rahmen dessen hält, was die 1. Armee gegen seine Ansicht als damaliger Korpschef für richtig gehalten hat. Er beschäftigt sich also lediglich mit dem Angriff bei Chassemy. Der Angriff bei Soissons wird von ihm nur einmal gestreift mit der Bemerkung, daß ein Vergleich mit Vailly hinke. Er schaltet sonst diese Angriffsstelle für seine Überlegungen nunmehr aus. Er billigt dem Angriff bei Chassemy Aussichten zu, eine entscheidende Operation einzuleiten, aber nur unter günstigen Bedingungen. Zu diesen günstigen Bedingungen rechnet er völlige Überraschung des Gegners und nicht schwierige Wasserverhältnisse an der Aisne. Immerhin betont er, daß der Angreifer an diesem Fluß vor neuen schweren Aufgaben stehen wird. Er kommt dann schließlich zu dem Endurteil, daß die Operation nördlich der Somme günstiger sei. Da man besonders günstige Bedingungen, wie sie der Chassemyangriff verlangt hätte, nicht ohne weiteres voraussehen darf, kann die Denkschrift vom 11. 4. zur sachlichsten Art der Ablehnung eines nicht für richtig gehaltenen Planes, des Chassemyprojekts, gerechnet werden.
Schließlich legt Seeckt vorbereitende Maßnahmen für den Sommeplan oder vielmehr für jeden Durchbruchsangriff fest Heeresarchiv Potsdam, Akte 405 und Heeresarchiv Potsdam, Akte 305.. Sie enthalten für damals vielleicht einiges Neue, sind aber doch mehr oder minder sachlich selbstverständlich und würden insofern kaum der Erwähnung bedürfen. Es handelt sich um Ausbau der Infanterielinien, Ablösung der Infanterie durch die Angriffsinfanterie, Neugliederung der Artillerie, Durchführung der Erkundungen, worauf Seeckt besonderen Wert gelegt hat, Ausbau des Fernsprechnetzes, Verteilung der Pioniere und die wichtige Berechnung des Munitionsbedarfs. Interessant ist nun, daß die hier anläßlich eines Westangriffs an einer von Seeckt innerlich nicht einmal gebilligten Stelle gemachten methodischen Ausführungen später fast wörtlich dem Befehl für Gorlice-Tarnow vom 27. 4. 1915 angefügt sind.
Die nächsten Tage vergehen wieder in einer erzwungenen Untätigkeit, die Seeckt ganz und gar nicht liegt. »Ich warte und grübele. Meine Verwendung oder Nichtverwendung kann sich natürlich in jeder Stunde ändern … Es liegt durchaus in der Möglichkeit, daß ich in eine andere Gegend, sei es Osten, Südosten oder Nordosten verschlagen werde … Es ist aber nur eine Möglichkeit, nicht eine Wahrscheinlichkeit. Zunächst war meine Verwendung hier ganz bestimmt und unter festen Gesichtspunkten ins Auge gefaßt. Das hat sich geändert. Die Verhältnisse bei den Österreichern sind doch schlimmer, als wir annahmen … Da Österreich sich noch nicht zum Abschluß der Verhandlungen mit Italien bereit erklärt hatte, sind jetzt dessen Forderungen natürlich nach dem Fall von Przemysl gesteigert worden, und alles kann von vorne anfangen« »... Dieser Krieg erfordert mit seinen sich über Monate und über Hunderte von Kilometern hinziehenden Entscheidungen ein ungeahntes Maß von Geduld und von den entscheidenden Persönlichkeiten ein Abwägen ungemein vielfältiger Momente. Italien und Serbien, die Küste und die Weichsel, Karpaten und Vogesen müssen ebenso bewertet werden wie Frankreich und Belgien, und der morgige Tag kann einen in ganz andere Verhältnisse bringen, denen man sich bemühen muß gewachsen zu sein. Das geht … weit über das hinaus, was man von sich selbst erwartet hatte. Es kommt nicht darauf an, daß wir eine Schlacht gewinnen, sondern den Feldzug, und dazu gehört mehr als eine gewonnene Schlacht. So ist der Kopf oft etwas voll und schwer. In einiger Zeit wird mir wohl eine begrenztere Aufgabe gestellt werden …«
Er grübelt. Seine Gedanken schweifen immer wieder zur ganz großen Entscheidung und deren Möglichkeiten, um sofort, freilich etwas resigniert, aber doch in straffer Selbstdisziplin zu der begrenzten Aufgabe zurückzukehren. Es ist jedoch klar, daß dieser Mann aus jeder Aufgabe, wie sie auch kommen mag, immer das Größere herzuleiten versuchen wird. Am 15. April trifft die Weisung ein, vorbereitende Maßnahmen zur Ausführung eines Durchbruchs auszuarbeiten. In diese Arbeit hinein schlägt aber plötzlich am 16. der Befehl der O.H.L. zur Ostoperation in Galizien. Generaloberst von Mackensen wird zum Oberbefehlshaber der 11. Armee ernannt. General v. Falkenhayn hat sich innerlich wohl nur sehr schwer zu einem Ostentschluß zwingen lassen. Man muß das in der Erinnerung behalten, wenn man später sieht, daß bei allen riesigen Erfolgen tatsächlich doch nicht alles und nicht das letzte an die Ostoperation gesetzt wird. Man kann Falkenhayn allerdings auch nicht abstreiten, daß er Gründe hatte als verantwortlicher Leiter der deutschen Gesamtoperationen, Ziel und Kraftbemessung im Osten innerhalb bestimmter Grenzen zu halten. Die Entblößung der deutschen Westfront vom Hauptteil der dort stehenden Reserven in einem Augenblick, wo starke Angriffe der Feinde mit Sicherheit als nahe bevorstehend erkannt waren, blieb ein Wagnis Wolfgang Foerster, General v. Seeckt als Generalstabschef im Weltkriege, in dem mehrfach erwähnten Erinnerungsbuch.. Freilich bestand dies Wagnis zu einigen Teilen in den damaligen Vorstellungen über die Kraft und die Art der Verteidigung. Seeckt hat es oft mit bitteren Worten getadelt, daß man um 200 Meter Gelände, das einst ein Graben war, oder um ein zerschossenes Dorf Kräfte opferte. Falkenhayn vertrat die Ansicht, daß man keinen Fußbreit Boden aufgeben dürfe. Das ist mehr als ein Kampf um taktische Einzelheiten, das ist die Differenz zwischen Starrheit und Bewegung. Seeckt ist immer ein Vertreter der Bewegung gewesen und geblieben. Hinzu kam aber, daß man damals die Kraft der Verteidigung noch unterschätzte. Hätte man mit Frontstärken, wie sie 1918 schwere Angriffe ausgehalten haben, auch nur annähernd zu rechnen versucht, so war das Wagnis vielleicht nicht so groß. Jedoch die Gründe für den Ostentschluß waren inzwischen einfach zwingend geworden. An der Karpatenfront stand es bei den österreich-ungarischen Verbündeten gefährlich. Ein Einbruch der Russen in die Ungarische Tiefebene drohte. An der serbischen Grenze waren nach den Mißerfolgen kurz vor der Jahreswende kaum sichere Zustände. Der Eintritt Italiens in den Krieg stand unmittelbar bevor. Wenn etwas Italien überhaupt noch zurückhalten konnte, dann war es ein deutscher Erfolg. Ende April kam dann auch noch die die Lebensader der Türkei bedrohende Landung der Engländer und Franzosen auf der Halbinsel Gallipoli hinzu. Schließlich mußte man berücksichtigen, daß die Kräfte, die Falkenhayn freimachen zu können glaubte, wohl zu einem Ostangriff, aber vielleicht nicht zu einem Westangriff mit großem Erfolge ausreichten. Es kann hierbei gleich sein, ob bei diesem Entschluß, also bei der Abweichung Falkenhayns von seiner bisher unerschütterten Westabsicht, Falkenhayn selbst oder General Conrad von Hötzendorf das größere Verdienst gehabt hat. Auf die Auswahl der Angriffsstelle ist wohl auch der deutsche Verbindungsoffizier General von Cramon nicht ohne Einfluß geblieben. Beide, Falkenhayn und Conrad, haben ihren Anteil im Rahmen ihrer Stellungen gehabt, wobei das Schwergewicht der Leistung Conrads vielleicht mehr in der Förderung des Operativen lag. Seeckt hat sich später über den Anteil Conrads allerdings reichlich skeptisch geäußert Mitteilung an das Reichsarchiv vom 13. 11. 27.: »... Bei der ersten Besprechung mit dem General v. Conrad sagte dieser u. a. etwa wörtlich: ›Sie können sehen, daß wir uns hier auch schon mit einem Angriff an dieser Stelle beschäftigt haben‹ und händigte mir zwei bereitliegende schmale Aktenstücke ein mit der Aufforderung, sie durchzusehen. Das tat ich am Abend in meinem Quartier und fand an Stelle der erwarteten Operationsstudien oder Angriffspläne zwei aktenmäßige Schilderungen von Angriffsgefechten kleinen und kleinsten Ausmaßes. Die eine betraf den überfallartigen Angriff eines Bataillons ohne Artillerievorbereitung, der zur Fortnahme eines Punktes der russischen Front geführt hatte, der andere den Angriff einer Brigade mit schwacher Artillerie, der zu keinem Erfolg führte. Beide, wohl für diesen Gebrauch hergestellten Aktenstücke hatten für mich gar kein Interesse; ich gab sie am nächsten Tage dem Chef der Operationsabteilung schweigend zurück. Weitere Vorbereitungen irgendwelcher Art, auch solche rein theoretischer Art, für einen Angriff oder gar Durchbruch großen Stils waren jedenfalls beim AOK. nicht getroffen; sie wären mir sonst mitgeteilt worden … Die Truppe dachte nicht an einen Angriff. Hat also General v. Conrad den Plan des Durchbruchs schon selbst früher gehabt, so hat er für seine Durchführung jedenfalls nichts durchdacht – als die Anforderung deutscher Hilfe. Zu der viel umstrittenen Frage der Autorschaft des Plans zum Durchbruch von Gorlice möchte ich hier kurz folgendes sagen: Wenn man zugrunde legt, daß der ganze Einsatz der deutschen Kräfte im Osten von den Österreichern zum baldigen Entsatz ihrer galizisch-ungarischen Grenze gefordert war, daß also die Wendung bald und wirksam sein mußte, wenn man, was bei General v. Falkenhayn sehr mitsprach, mit einem Eindruck auf Italien rechnete, so schieden Wirkungen, die räumlich und zeitlich dem nicht entsprachen, aus; damit also der Einsatz der deutschen Verstärkungen auf dem linken Flügel von Ob. Ost. Ein Durchbruch in Polen war in seiner operativen Wirkung zweifelhaft. So blieb nur die rechte Hälfte der Ostfront für die Überlegung. Hier schied der äußerste rechte Flügel, die Bukowina, wegen der unmöglichen Verbindungen aus; über die Karpathenfront vorzubrechen, war mehr als gewagt, wie es die späteren Ereignisse bei der Armee Linsingen bewiesen. So bot sich der wirksame Durchbruchspunkt dem Betrachter der Ostkarte fast von selbst dar, und es bedurfte zur Auswahl keiner besonderen operativen Erleuchtung. Der Erfolg hat immer viele Väter; der Mißerfolg ist ein Findelkind. Das Verdienst gebührt dem, der den Gedanken in die Tat umsetzt. Das ist ganz gewiß nicht der General v. Conrad, und ganz gewiß ist es Falkenhayn. Ich kann als ein vielleicht nicht ganz unbeteiligter Zeuge nur sagen: am 16. 4. 1915 nachmittags setzte mir der General v. Falkenhayn in seiner ihm eigenen, klaren, ruhigen und durchdachten Weise den Plan so auseinander, daß er mir ganz selbstverständlich erschien, er begrenzte Mittel und Ziel und gab seinen Auftrag in idealer Art der Kriegführung im großen Rahmen. Zu dem ›Ziel‹ möchte ich noch aus meiner Erinnerung hinzufügen: General v. Falkenhayn bezeichnete die im Auftrage enthaltene Begrenzung ›bis in die Höhe des Lukower Passes‹ Lukow ist die ständige Schreibweise Seeckts, heißt sonst Lubkow. als durchaus beabsichtigt und seiner Lage, in der er beide Fronten zu bedenken habe, entsprechend. Er sagte mir ungefähr: ›Ich kann nicht daran denken, den Österreichern die deutschen Truppen für immer und für eigene Zwecke zur Verfügung zu stellen. Haben wir sie jetzt herausgehauen, dann hoffe ich doch noch auf die Möglichkeit einer Entscheidung im Westen.‹ Diese Überlegung entsprach durchaus der damaligen Lage und der Auffassung, daß uns Beschränkung, nicht Ausdehnung des Kriegsschauplatzes Vorteil brächte. Daß uns der Erfolg bei Gorlice bis an den San führte, daß er sich in Wiedergewinnung von Przemysl und Lemberg, von ganz Galizien und der Bukowina auswirkte, daß er uns das Einschwenken nach Norden erlauben, uns Iwangorod, Warschau und Brest Litowsk bescheren, daß er die ganze russische Front werfen könnte, das konnte niemand am Nachmittag des 16. 4. in Mézières voraussehen. Daß es so kam, ist ein Beweis dafür, daß man bis zur ersten Schlacht disponieren kann und dann ihrem Ausgang und seinem Glück das weitere überlassen soll.«
Conrad hatte Ende März die schwierige Lage an sich und erst recht bei einem Eingreifen Italiens geschildert, hatte um Verstärkungen gebeten, die am 27. 3. zur Bildung des Beskiden-Korps führten. Darüber hinaus erwog Falkenhayn als Vorläufer eines Westdurchbruchs einen kurzen Schlag gegen Serbien, sagte aber in einer Unterredung am 4. 4. in Berlin keinerlei weitere deutsche Unterstützung zu. Er gab lediglich dem General von Cramon den Auftrag, einen Operationsentwurf für die Gegend von Gorlice vorzulegen Heeresarchiv Potsdam, Akte O 1167., was auf eine Anregung Cramons im Einvernehmen allerdings mit Conrad vom 1. 4. zurückzuführen war Heeresarchiv Potsdam, Akte O 491 und O 686.. Am 8. 4. hat sich Falkenhayn zum Durchbruch bei Gorlice entschlossen Der Vortrag bei S. M. über die Gorlice-Operation war nach einer Notiz des Gen.Ob. v. Plessen am 13. 4. 1915. »S. M. hat gegen diesen Plan die ernstesten Bedenken. Ich auch. Schließlich gibt S. M. nach.« Die Art der Bedenken ist nicht bekannt, ebensowenig die Gründe des Nachgebens. Major v. Wienskowski schreibt in seinem »Falkenhayn«, daß der Vortrag bei S. M. am 10. 4. stattgefunden habe und am 13. 4. die Pläne Conrad mitgeteilt worden seien.. Wenn es dann noch eine volle Woche gedauert hat, bis der Entschluß Befehl wurde, so hatte das Gründe. Erst mußte der Feldeisenbahnchef die Transporte bearbeiten, denen der Bericht Conrads zugrunde gelegt wurde. Seeckt hatte also, wie erwähnt, mit der Sache noch nichts zu tun, als die ersten technischen Vorbereitungen schon eingeleitet wurden. Er mußte einen fertigen Entschluß übernehmen, was niemals leicht ist. Das A.O.K. 11 hat tatsächlich nur eine geringfügige Änderung nachher durch eine unwesentliche Verschiebung der Angriffsgrenzen nach Süden vorgenommen. Zu wesentlichen Änderungen war sowieso keine Zeit mehr. So sieht der Krieg aus. Die Dinge müssen ganz einfach so genommen werden, wie sie sind, und dann das Beste daraus gemacht werden. Das aber ist grade das Schwere. In den Angriffstagen am 7. Mai bemerkte Seeckt: »Ich kann nur wiederholen, die Idee zu diesem Schlag gebührt allein Falkenhayn. Doch ist schließlich Urheberschaft, wie überhaupt alles Persönliche gleichgültig. Ich bin zufrieden und dankbar für den Segen, der auf unserm Tun lag, und ein Vers aus einer alten Lortzingschen Oper will mir nicht aus dem Kopf: Ja, man sieht's, die Sache geht, wenn man sein Handwerk recht versteht. So lohnen denn die Lehrlings- und Gesellenjahre ihre Arbeit.« Mit stolzem Selbstbewußtsein ist sich also Seeckt, da er von vergangener Lehrlings- und Gesellenarbeit spricht, seiner Meisterschaft bewußt. Aber er ist sich erst recht bewußt, daß er diese Meisterschaft nur in der Ausführung und nicht in der Genialität des Feldherrnentschlusses beweisen konnte. Wenn er die Idee Falkenhayn allein zuschiebt, so will das natürlich nicht so wörtlich genommen sein. Die Beteiligung Conrads oder Cramons wird damit nicht bestritten, sondern nur von Seeckt selbst in einer Weise, die doch recht deutlich von aller Selbstverherrlichung fern ist, die Urheberschaft der Idee einer anderen Stelle, und zwar der verantwortlichen überlassen. Es ist nachträglich natürlich nicht festzustellen, wie weit ganz unbewußt der Gedanke dabei mitgeschwungen haben könnte, daß Seeckt, wenn er den Entschluß zu fassen gehabt hätte, vielleicht zu einem anderen, größeren gekommen wäre. Diese Frage kann man nur aufwerfen, aber nicht beantworten.
Übrigens hat Seeckt die Frage der Urheberschaft Falkenhayns anscheinend innerlich ziemlich lange beschäftigt. Noch am 16. 6. 1915 schreibt er an Landesdirektor v. Winterfeldt-Wenkin:
»... Nachdem es gelungen war, im Frühjahr durch Neuaufstellungen und andere Gruppierung Kräfte im Westen zu gewinnen, entstand die Frage, wo sie zu einem entscheidenden Schlage eingesetzt werden sollten. An dem Für und Wider, ob Ost oder West habe ich zu lebhaften und persönlichen Anteil genommen, als daß ich im einzelnen darüber sprechen könnte. Die Wahl des Ostens und im besonderen des Durchstoßes östlich Krakau ist einzig und allein die Tat des Generals v. Falkenhayn … Das kann kaum jemand besser beurteilen als ich, der den Plan im Entstehen miterlebte und der ihn ausführen durfte …
»Die vielumstrittene Frage, wem das Verdienst am Gorlice-Entschluß zukommt, wird von General Glaise v. Horstenau in dem Sinn beantwortet, daß der Gedanke an den Durchbruch vom Chef des Deutschen Generalstabes v. Falkenhayn und vom Chef des Österreich-ungarischen Generalstabes Conrad v. Hötzendorff unabhängig voneinander fast gleichzeitig anfangs April gefaßt wurde. Das Verdienst an der Durchführung in den großen Ausmaßen, die die Schlacht von Gorlice zu einer der größten Kriegshandlungen der Weltgeschichte werden ließ, kommt jedoch der deutschen Seite zu. Conrad hatte für die Auswertung des Erfolges die kühneren Konzeptionen.« Entnommen dem Anzeiger der Akademie der Wissenschaften, philosophisch-historische Klasse, Nr. IX, Jahrgang 1938. Conrad hat die Priorität der Gorlice-Idee ausdrücklich für sich in Anspruch genommen. Dabei war ihm aber, was bezeichnend ist, der nun einmal doch notwendige Durchbruch zugestandenermaßen höchst unsympathisch.
In »Deutschlands Schicksalsbund mit Oesterreich-Ungarn« schreiben v. Cramon und Fleck: »Conrad hat der O.H.L. Gorlice als Angriffspunkt bezeichnet und nicht die O.H.L. ihm. Conrad, der über Truppen nicht verfügte, dachte dabei nur an eine Entlastung der Karpatenfront. Falkenhayn verfügte über Truppen, bestimmte die Höhe des Einsatzes und damit die Tragweite des Sieges. Beide haben ihren Anteil an Gorlice-Tarnow …««
Etwas kann man als sicher annehmen, nämlich Seeckts inneres Streben, trotz der ihm bewußten Begrenzung des Auftrages ihn so weit und so entscheidend aufzufassen, als das nur irgend ging. Der Oberbefehlshaber v. Mackensen hatte es seinerseits nicht vergessen, daß Oberst Frhr. v. Marschall ihm am 18. 4. beim Abschied in Charleville gesagt hatte Wolfgang Foerster, Mackensen.: »Sie sollen die Entscheidung des Feldzuges bringen.« Man darf zugeben, daß Frhr. v. Marschall nicht derjenige war, dem es oblag, operative Weisungen an einen Armeeführer zu geben Gen.Ob. v. Plessen notiert allerdings auch am 1. 5. 1915, er sei der Ansicht, diese Operation könne den Feldzug entscheiden.. Man könnte sogar ruhig annehmen, daß Frhr. v. Marschall im Augenblick von einer Feldzugsentscheidung mehr als frommem Wunsch gesprochen haben mag. Generaloberst von Mackensen hat es seiner ganzen Natur nach rein sachlich aufgefaßt und sofort innerlich aufgegriffen. Als nachher die Wisloka überschritten, der erste große Auftrag erfüllt war, da kommt er in einem Brief sofort auf Marschalls Worte zurück. Freilich, als Generaloberst v. Mackensen am 25. 4. bei der österreichischen Heeresleitung, der ja das A.O.K. 11 formell unterstellt war, die Orte Lemberg und Rawa Ruska als mögliche Ziele nannte, wurden »solche Äußerungen nur mit Achselzucken« aufgenommen.
Conrad kam noch im ersten Drittel des April mit einem Vorschlag, der allerdings operativ ein imponierendes Format hatte. Er befürwortete eine beiderseitige Umfassung aus Ostpreußen und aus den Ostkarpaten heraus. Der ostpreußische Gedanke hatte gewiß einige Ähnlichkeit mit den Vorschlägen, die später das Oberkommando Hindenburg an Falkenhayn, freilich auch vergeblich, machte. Falkenhayn lehnte Conrads Vorschlag am 9. 4. ab. Inzwischen wurde die Lage bei der k.u.k. 3. Armee immer schwieriger. Es mußte daher beschleunigt mit Conrad eine gemeinsame Grundlage gefunden werden, auf der man unverzüglich handeln konnte.
Falkenhayn hat eine erneute Besprechung mit Conrad in Berlin, die nunmehr die Operation im Raum von Gorlice endgültig festlegt. Das nächste Ziel soll sein, die Russen dazu zu zwingen, die Front in Westgalizien bis zum Lubkower-Paß zu räumen. Noch immer ist Seeckt selbst nicht eingeschaltet. Am 16. endlich ist er ins Gr.H.Qu. bestellt, um dort schriftlich und mündlich über die Absichten unterwiesen zu werden. Damit waren endlich die Würfel gefallen. Am 17. beginnt der Abtransport, und am 19. 4. trifft Seeckt beim österreichischen Oberkommando in Teschen ein. Es ist jenes Teschen, in das sich einst vor mehr als einem Jahrhundert Erzherzog Carl, einer der fähigsten Soldaten des alten Österreich, grollend und enttäuscht zurückgezogen hatte. Diesmal sollten in Teschen Dinge besprochen werden, die zu einem der größten Erfolge der verbündeten Heere Deutschlands und Österreichs führten.