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Nördlich vom Seedorfe Richtersweil erhebt sich ein massiger Hügel, auf der südlichen Seite mit Rebgeländen, auf der nördlichen und westlichen mit Wiesen und Waldstreifen eingesäumt.
Über den östlichen Abhang führt die Strasse nach dem benachbarten Wädensweil, sanft durch Weinberge und Wiesen einem Waldsaume zusteigend, der den gegen den See zu abfallenden Hügel begrenzt.
Wenn ihr auf dem Scheitelpunkte der Strasse angekommen seid und euch von dieser rechts dem lichten Waldsaume zuwendet, gelangt ihr auf einen Vorsprung, der sich schroff in eine Waldschlucht hinabsenkt.
Dieser Vorsprung öffnet eine Aussicht, die weniger beim ersten Anblicke überrascht, aber durch reizende Mannigfaltigkeit und grossartige Gesamtwirkung euch auch allmählich in Bewunderung und Staunen versetzt.
Dicht unter dem Absturze, in der von Erlen, Silberpappeln und Fichten eingesäumten Schlucht, klappert und hämmert eine Mühle, die von einem der zahllosen Bergbäche getrieben wird. Weiter im Vordergrunde breitet und dehnt sich Wädensweil mit seinen glatten, weiss und gelb erglänzenden Fabriken und rauchenden Essen und knarrenden Rädern, seinen lieblichen Bauernhöfen und unlieblich steifen Bürgershäusern, und mit Gerberlohe gepflasterten Strassen, in bäuerlich gewerbsteifer Behaglichkeit. – Darüber hinaus schwellen euch Hügel auf Hügel entgegen, mit Wiesen und Rebgeländen, und grünwolligen Feldern, und blühenden Gärten, und darunter nistend Horgen, so lieblich von den Wellen des See's bespült, und weiter oben Thalweil, so malerisch mit Kuppel und Türmen herüber brechend! Und wie euer Auge weiter in die Ferne dringt, wimmeln euch die Häuser und Häuschen so zahllos entgegen, und Weiler und Dörfer, und Villen und Hütten reihen sich bunt gedrängt an einander; herrlich sind sie im Schatten zahlloser Obstbäume gelagert.
Das herrlichste Wiesengrün umfliesst wie ein wallendes Gewand die schwellenden Hügel, und seine Dörfer und Weiler, und Tempel und Zinnen, ganze Wälder blühender Kirsch-, Äpfel- und Birnenbäume bilden den Gürtel, und dunkelgrüne Nadel- und lichtgrüne Laubwälder sitzen wie ungeheure Turbane auf den Scheiteln der herrlichen Uferhügel und Berge und Rebgelände, und fassen auf dieser Seite in weitem Rahmen den See, der euch in seiner ganzen Herrlichkeit entgegen glänzt, und sich im Halbmonde grandios um die vorspringenden Ufer von Herrliberg und Küsnacht gegen Nordosten hinabschwingt.
Und wie euer Blick dem majestätischen Schwunge folgt, und auf die in blauen Dunstschichten gehüllten Zürcher Stadt-Berge hinübergleitet, brechen abermals Dorf auf Dorf, Weiler auf Weiler, Villa auf Villa Zinnen und Türme so pittoresk herauf in den Strahlen der Abendsonne, dass euer Auge schier gesättigt und trunken auf diesem Landschaftsbild ruht.
Am Morgen vielleicht ist dieser Blick weniger reizend, denn die Schweizer-Morgen sind wohl überreich mit Nebeln gesegnet, entbehren jedoch jenes glühenden, auf goldblauem Grunde ruhenden Äthers, der der Natur und ihren Gebilden in unserm südlichen Himmelstriche einen so unbeschreiblichen Zauber verleiht; aber wenn der Abend sich auf die Landschaft niedersenkt, dann erscheint sie in einem Gewande, so lieblich, in einer Verklärtheit so mild sehnsüchtig, dass ihr für Stunden selbst unserer südlichen Zauber vergesset.
Es war an einem solchen Abende, einem jener entzückenden Abende, die mild und lauwarm zu träumerischem Sinnen einladen. Der Tag war mutwillig gewesen, wie das spielend tändelnd in die Jungfrauenjahre hinübertanzende Kind.
Noch schwebte zitternd die Sonne über den Bergesgipfeln, die den westlichen Hintergrund des grossen See-Panorama einfassen, ihre Strahlen über die ganze unbeschreiblich prachtvolle Landschaft ausgiessend. Noch funkelten Städtchen und Dörfer, Fluren und Wälder in den verschwimmenden Strahlen, aber jetzt senkt sich die flimmernde Kugel auf den Scheitel der westlichen Bergesspitze, und es beginnt nun ein Licht- und Schattenspiel, das euer Auge entzückt, blendet durch die Pracht seiner Kontraste. Bereits sind die östlichen Bergesabhänge in matteres Helldunkel gehüllt, bald ist es das ganze westliche Seeufer; die Strahlen ziehen im meilenlangen Lichtsaume quer über den See, vom Schattensaume gefolgt, der ihm dicht auf den Fersen sitzt. Die eine Hälfte des See's erglänzt noch wie ein flüssiges Silbermeer, über die andere hat der tauige Schattenschleier seine leichte Florhülle hingebreitet; ermattend zieht er sie lässig immer mehr über den flüssigen Silberspiegel hin, der schmäler wird, immer schmäler; endlich ist der ganze majestätische Seespiegel bloss noch ein ungeheures mattblaues Strahlband, in dem sich der blaue Horizont zu baden scheint.
Zwei Personen standen unfern von jenem Vorsprunge und schauten ergriffen dem imposanten Luft- und Schattenspiele zu. Bloss ein Gedanke schien sie zu beseelen, die übergrosse Herrlichkeit der Natur. Alles andere schienen sie rein vergessen zu haben.
Nicht dreissig Schritte von ihnen, im Vordergrunde und dicht am Absturze, standen zwei andere Figuren, die eine nachlässig an den Rand einer bemoosten Eiche gelehnt, die andere einen Pack gedruckter Bogen haltend, von denen sie einen nach dem andern der ersteren reichte, die sie flüchtig übersah, zuweilen einen Artikel in abgebrochenen Sätzen für sich hinmurmelte, und dann nach einem andern Blatte langend, das übersehene auf die Erde fallen liess. Die einer der beiden Figuren war der elegante junge Mann, den wir am Morgen als Rambleton kennen gelernt haben, die zweite sein derber, vierschrötiger Berner Führer oder Diener. Keiner von beiden schien es der Mühe wert zu halten, einen Blick auf die bezaubernde Landschaft zu werfen.
»Und warum hat euch der Bankier die Briefe nicht gleichfalls mitgegeben?« fragte der junge Mann, von dem Blatte aufblickend.
»Mylord!« versetzte der seines Schwures abermals vergessende Schweizer. »Er hat mir aufgetragen, Ihnen zu sagen, Sie möchten so schleunig wie möglich in die Stadt zurück, es sei ein Herr von Basel da, und der habe die Briefe, er sei express heraufgekommen, weil der Gesandte zu Paris ihm Ihretwegen geschrieben. Morgen fährt er zeitig zurück.«
»Pshaw!« murmelte der sogenannte Mylord, das Blatt fallen lassend und ein anderes vom Diener nehmend. »Pshaw!«
Und murmelnd las er weiter:
»Washington City Correspondence of the Newyork Gazette – The Secretary of war. Der Kriegsminister.« –
»Pshaw! Mit eurem Kriegsminister! der nicht einmal euren Seminole-Krieg auszufechten versteht. Kostet uns nun diese schändliche Affäre an die zehn Millionen Taler. Man muss sich wahrlich schämen!« –
Er las wieder:
»Die Wahl des Staates Maine – Whig-Kanonen – Proklamation des Major Slang, Kommandierenden des linken Flügels, an seine Mitsoldaten – bei seiner Rückkehr aus dem Seminole-Kriege.«
Die Proklamation schien ihn anzuziehen. – Etwas lauter las er:
»Gentlemen! Es ist jetzt drei Monate, dass Ihr beordert worden, von unserm galanten, tapfern, heroischen General en Chef, meinen Befehlen untergeordnet worden seid, in den beschwerlichen Dienstpflichten eines harten, kühnen, verzweifelten, blutigen Krieges, und inmitten einer unternehmenden Campagne, und dass wir alle samt und sonders den Beschluss gefasst haben, zu siegen oder zu sterben, im Aufschwung der Heldentaten, mit dem unser linker Flügel, den Kriegsruhm des Siegers von Neworleans würdig zu überherrlichen, und an die Seite gestellt zu werden, geschworen, und welcher linke Flügel dem rechten und dem Zentrum nicht nachstehen sollte, an Kühnheit der Manöver, und Heroismus der blutgestirnten Bellona.«
»Gentlemen! Es ist Euch bekannt, wie wir unsern Schwur gelöset.«
»Gentlemen! Unser Korps hat gewaltige Märsche getan, über Ströme gesetzt, ist durch Sümpfe, Moräste und Seearme gewatet, die keinen einzigen Tropfen frischen trinkbaren Wassers hatten; es hat Nachtmärsche getan, ohne Licht, Laterne oder Kienfackel, im Dunkeln, wo wir keinen Bären von einem Alligator unterscheiden konnten, und Manöver ausgeführt, die die Welt in Erstaunen versetzen müssen, ohne dass einem von Euch auch nur ein Murren entfahren wäre, oder es eines Eurer unschätzbaren freien Bürgersleben auf dem blutigen Opferaltare des Krieges gekostet hätte, bloss Sam Tippler hat eine Wunde, von der Ofengabel einer verzweifelten Squaw in einen unnennbaren Teil gestochen, davon getragen.«
»Gentlemen! Dafür aber hat unser Korps aufzuweisen Trophäen, aus dem Marsfelde heimgebracht, Trophäen, die der Stolz Eurer Mitbürger sein werden. Es hat zwei Seminole-Krieger ganz tot, zwei Weiber halbtot gemacht, dreiundzwanzig Kriegsgefangene, worunter jene verzweifelte alte Squaw, die Sam Tippler ein Loch in den unnennbaren Teil gestochen, erbeutet dreissig Packpferde, sechs Pferde, vier Maulesel, und dreihundertundsechs Stück Rind- und anderes Vieh erobert. Unser Korps hat vier Indianer Winterdörfer erobert und verbrannt, drei Sommerdörfer, vierundzwanzig Pack- und andere Sättel zerstört, mehrere indianische Kornfelder, und einen grossen Vorrat von Coonti-Wurzeln, die die Rothäute zu ihrer Nahrung aufgesammelt. Unser Korps hat Florida in allen Richtungen durchzogen, und sich mit Ruhm bedeckt. Gentlemen! das dankbare Vaterland sieht mit Stolz auf Euch herab, so wie Euer Major Slang.
Augusta Georgia Paper.«
Der junge Mann warf das Blatt mit einem Damn that fellow zu Boden und trat mit dem Fusse darauf. Ungeduldig langte er nach einem andern. Er las wieder:
»Ein anderes Wespennest. Grosses Resultat. Demokratie der Zahlen. Weiber ausgetauscht für Tabak.«
Jetzt reichte ihm der Diener einen gewaltig grossen Bogen. Es war der Courier and Exquirer.
Gespannt las er:
»Grosser Kostüm-Ball«
»Wer kann es mit Newyork, dem herrlichen, aufnehmen? dem königlichen Manhattan? Kannst du es, Boston? oder quäkerisches Philadelphia? oder hügeliges Baltimore? Hört und staunt!«
»Da war Mistress A–. und Miss D–. und Mr. O–. und Mr. R–. als Mary Stuart und Miss Seyton, gefolgt von Douglas und Gräme als Kavalier und Pagen. Zu beschreiben die Pracht und Herrlichkeit, die kostbaren, enganliegenden, und wieder aufgepauschten Sammetgewänder, weiss und blau und silber- und goldgestickt, mit funkelnden Diamanten und Perlen; zu schildern die majestätischen lieblichen Bewegungen dieser zwei Paare, wie sie herrschend königlich dahinwogten. – O Mary Stuart, dein Geist muss mit Wonne und Sehnsucht herabgeschaut haben! NB. Unterrichtete behaupten, dass der Perlen- und Diamantenschmuck der Mistress A–. allein fünfzigtausend Dollars gekostet.« –
»Pshaw! ihr Vater war Seil- und Teerhändler!« murmelte Rambleton. – Er las weiter:
»Um sie herum flitterte und flatterte im lieblichen Kontraste Miss S–. so allerliebst im simplen Quäkerkleidchen, mit simplem zimpferlichem Kragen, und flachgescheitelten dunkelblonden Haaren, und einem Heiligen-Gesichtchen, in dem aber ein ganzes Dutzend kleiner Liebesteufelchen sich in den beiden Kinngrübchen in loser Schalkheit herumtrieben.« –
»Vor allen aber glänzte,« der junge Mann wurde auf einmal rot und wieder blass; – seine Augen starrten. – Er las mit zuckenden Lippen:
»Vor allen aber glänzte Mistress – oder, wie wir sie lieber nennen, Miss D–. als die Sultana Mahmoud, im Doppelcharakter als Sultanin und Huri zugleich; denn wie eine Huri, die soeben aus dem Paradiese Mohameds geschlüpft, erschien sie in dieser Gaslicht- und Dampfmaschinenwelt – so leicht hinhüpfend, so schmachtend, flammend, wieder die stolzen schwarzen Locken schüttelnd, so siegreich ihre Pfeile aus den dunklen schwarzen Augen abschiessend, dass sie ganze Scharen unserer armen Junggesellen tödlich verwundete.
Leicht und graziös, und wieder herrschend und siegreich, schwebte sie wie eine Bewohnerin des Paradieses durch unsere irdischen Säle. – Den Sultan schien sie ganz vergessen zu haben; wie sie in der leichten Gallopade graziös hinhüpfte, oder im raschgeschwungenen Walzer umherflog, von Lust und Liebe getragen; ihre prachtvoll schwarzen Locken mit Perlen durchflochten, die, versicherte man, bei W–. zehntausend Dollars gekostet. Mehrere Türken im Turban schnalzten mit den Lippen und seufzten, sie wollten ja gerne Moslims werden, und ein spanischer Grande, klein wie alle spanischen Grandes, spielte gar lieblich auf seiner Laute. – »Ja,« lachte sie schalkhaft den Moslims und dem Grande zu: »Ihr würdet wohl ins Paradies wollen, wenn es dort Champagner und gepickelte Austern gäbe.« –
Weiter konnte der junge Mann nicht mehr lesen; seine Augen wurden so trübe, so starr. – Die Buchstaben verschwammen ihm auf dem Blatte, – sein Haupt senkte sich langsam auf die Brust herab.
»Mylord! fehlt Ihnen etwas?« redete ihn der Berner näher tretend an.
Der junge Mann schaute auf – den Fragenden mit grossen Augen ansehend; dann drückte er das Blatt in der Faust zusammen, und seine Zähne knirschten, die Gesichtszüge, die ganze Gestalt verzog sich im Krampfe. Einen Schritt tat er vorwärts, wieder schrak er zurück, wieder trat er vorwärts, und wie einer, der einen plötzlichen Entschluss fasst, rannte er zwanzig Schritte durch den Wald der Strasse, kam aber dann langsam wieder auf den Baum zu. –
Wieder öffnete er den Bogen, wieder starrte er in das zerknitterte Blatt hinein. –
Die beiden im Hintergrunde Stehenden schauten sich befremdet an. Scheu folgten ihre Blicke den Bewegungen des jungen Mannes, dann schüttelten sie bedeutsam die Köpfe.
Jetzt bog sich die weibliche Begleiterin des Mannes vorwärts, und ihre Miene begann Teilnahme auszudrücken. – Sie wisperte ihm etwas in die Ohren. – Er legte ihr den Finger auf den Mund.
Ein tiefer Seufzer liess sich vom Eichbaume herüber hören.
Auf einmal rasselte es in den halbverfaulten Blättern des Waldbodens. Mehrere Spaziergänger kamen von der Landstrasse herüber. Voran ein Jüngling, und ein junges Mädchen, Arm in Arm dem Vorsprung zutanzend.
Die Dämmerung hatte ihr mildes Helldunkel bereits über See und Land gebreitet, die Abendlüfte begannen zu säuseln. Noch liessen sich einzelne Gegenstände in der Nähe erkennen, aber in der Ferne verschwammen sie in dunkeln Umrissen.
Die beiden jungen Leute waren bis auf zwanzig Schritte an den Vorsprung herangekommen.
»Wilhelm! Wilhelmine!« flüsterte es aus dem Hintergrunde herüber.
Wilhelm und Wilhelmine schauten und schritten tanzend weiter dem Vorsprung zu; im nächsten Augenblicke standen sie bei dem Eichbaum, prallten aber zugleich zurück.
Wilhelm griff lässig an den Hut, und leichtstolz zurücktretend, sprach er etwas förmlich:
»Herr Rambleton!«
»Herr!« – das Wort wollte wieder nicht von den Lippen.
»Schochstein ist mein Name,« versetzte der Jüngling, sich stolz wendend, und das Mädchen nachziehend.
Und beide schauten auf den See hinaus.
Und Rambleton fixiert einen Augenblick die Deutschen, dann mit einer gleichstolzen Wendung sich von ihnen kehrend, packt er das Blatt zusammen und kehrt ihnen den Rücken. –
»Herr Rambleton!« redete ihn eine zweite Stimme an.
»Herr!« – versetzte Rambleton – das Wort schien unaussprechbar auf seiner Zunge zu liegen.
Und der Alte wandte sich gleichfalls und schaute – auf den See hinaus, und Luitgarde, deren seelenvolles Auge seinem trüben Blicke begegnet, leuchtet, wie sie hinaus schaut, auf See und Land.
Rambleton wandte sich unwillig befremdet – das seltsame Benehmen der Deutschen hatte ihn, schien es, wieder zu sich gebracht. Noch liess er einen Seitenblick auf sie hingleiten, und dann war er im Begriff zu gehen.
Aber indem sein Blick über die Gruppe hinglitt, leuchtete ihm der See plötzlich so hell entgegen. – Er schaute, ohne von der Stelle zu kommen.
Die Sonne war hinter den westlichen Bergen verschwunden, über die ganze Landschaft hatte der Schattenschleier sein leichtes Flortuch hingebreitet. Hütten und Häuser, Türme und Schlösser, Weiler und Dörfer lagen so ruhig in der milden Abenddämmerung, schauten so matt, so sehnsüchtig gleichsam der Nacht entgegen, die bewaldeten Gipfel der Hügel und Berge neigten sich so geheimnisvoll herüber; der Seespiegel allein schien sich zum neuen regen Leben zu gestalten, so hell begann er zu glänzen, im wunderbaren Farbenschmelze des Abendrotes, über den ganzen Spiegel hin hatte es seine Zauberfarben hingegossen. Tausende von Regenbogen aneinander gereiht, spiegelten sich in dem See und trieben, in allen Farben schillernd, ihr buntes Spiel. Und dazu sandten zugleich Hunderte von Glocken ihren Abendruf herauf und herunter, herüber und hinüber, und ihr Klang hallte so feierlich in Bergen und Tälern wieder! –
Und wie der junge Mann so schaut und horcht, werden seine Züge milder, seine Augen leuchteten, das liebliche Glockengeläute scheint in sein zerrissenes Gemüt hineinzuklingen und wiederzuklingen – und ihm Hoffnung zuzurufen. –
Unwillkürlich seufzte er.
Seltsam! Luitgardens Auge hatte auf ihm geruht – der Seufzer Wiederhall gefunden. Er stieg leise aus ihrer Brust herauf und schlug an das Ohr des jungen Mannes.
Er schaute auf wie einer, der aus einem tiefen Traume erwacht.
»Herr Rambleton!« sprach der Alte, freundlich seine Hand erfassend.
»Was wünschen Sie?« versetzte Rambleton milde. –
»Ein schönes Bild eines christlichen Landes.«
»Ein schönes Bild!« wiederholte Rambleton gedankenvoll, und sein Auge fiel auf Luitgarde.
Und Luitgardens Augen haften auf den Zügen des blassen, noch immer verstörten, aber in dieser Verstörtheit so interessanten jungen Mannes. – Sie schienen zu sagen: Du leidest, unser Geschlecht hat dir wehe getan – ich will Balsam auf deine Wunde giessen.
Die Glocken waren verstummt. Noch zirpte ein einsamer Vogel im Gebüsche, sonst war tiefe feierliche Stille eingetreten. Rambleton starrte wieder in Gedanken vor sich hin; die Deutschen betrachteten ihn mit verstohlener Teilnahme.
Der Alte rückte ihm abermals zutraulich näher.
»Sie nehmen, Herr Rambleton, Abschied von dieser herrlichen Landschaft. O sie verdient es, dass wir sie in unser Gemüt aufnehmen, und dessen Öde durch ihre Frische aufhellen!«
Der junge Mann schwieg.
»Der freundliche Zufall hat uns noch einmal zusammengeführt,« fuhr der Alte im zutraulichen Tone fort.
Der junge Mann verbeugte sich leicht.
»Sie wollen also morgen schon abreisen?«
Rambleton besann sich. – »Sobald wie möglich, heute noch, jetzt gleich, wo möglich.«
»Ist nicht möglich, Herr!« versetzte der Diener, der einige Schritte abwärts stand. »Nicht möglich vor Morgen-Anbruch,« sagt der Wirt.
Der junge Mann knirschte mit den Zähnen.
»Sie tun wohl daran,« nahm der Alte teilnehmend das Wort, »die schöne Jahreszeit zu geniessen, obwohl Sie sich auch wieder nicht übereilen dürfen, denn es ist noch ein bisschen zu früh, ins Innere der Schweiz zu dringen.«
»Ich reise nach Le Havre,« versetzte der junge Mann kurz.
»Dann bringen Sie wahrscheinlich den schönsten Teil des Frühlings auf der See zu?«
»Ja, in der S-y,« war die einsilbige Antwort.
»In der S-y? Ist das nicht ein amerikanisches Paketschiff, das zwischen Le Havre und Newyork segelt?« fragte Wilhelm.
»So ist es.«
»Dann haben wir wohl die Ehre, einen Amerikaner vor uns zu sehen?«
»Ich bin Amerikaner!« versetzte der junge Mann bestimmt und stolz. Wilhelm warf den Seinigen einen triumphierenden Blick zu; alle traten unwillkürlich und neugierig näher, den jungen Mann zu besehen.
»Sie haben ein glückliches, ein sehr glückliches Land, das die Freude aller Guten und Edeln ist!« nahm wieder der Vater das Wort.
Rambleton verbeugte sich.
»Gewiss,« fuhr der Alte fort. »Wir verdanken ihrem Beispiele viel, sehr viel ihrem moralischen Einflusse.«
»Sehr schmeichelhaft!« versetzte Rambleton.
Der Alte sah ihn mit einem zweifelhaften Blicke an. Die Starrheit des jungen Mannes schien ihn zu betrüben, aber auch zugleich seine Neugierde mehr und mehr zu erregen.
»Sie waren so gefällig, uns in Ihrem gemieteten Boote überzusetzen, aber wir müssen doch gegen Ihre zu weit getriebene Grossmut protestieren.«
Der junge Mann sah den Sprecher an.
»Die selbst die Kosten unserer Rückfahrt zu bestreiten übernahm,« fuhr dieser im Tone eines Halbbeleidigten fort.
»Ich hatte den Schiffer für den Tag gemietet. Mir lag also die Verbindlichkeit ob, ihn auch zu bezahlen,« versetzte Rambleton ruhig.
»Aber doch nicht zugleich ihm zu verbieten, etwas von uns zu nehmen,« bemerkte der Alte ein wenig hitzig. – »Wir Preussen,« fuhr er, sich leicht in die Brust werfend, fort, »sind zwar nicht so reich, wie die Herren Amerikaner, aber doch zu stolz, unsere Schulden von andern bezahlen zu lassen.«
»Sie haben Ursache, stolz zu sein,« erwiderte Rambleton mit ruhiger Artigkeit; »was ich aber meinerseits tat, geschah bloss nach meinen Grundsätzen.«
»Wir würden es uns zum Vergnügen gerechnet haben,« hob der Alte nach einer kurzen Pause wieder an, »dem Bürger einer Nation, die so gastfrei human, Tausenden unserer gedrückten deutschen Landsleute einen Zufluchtsort darbietet, unsere Achtung bezeugen zu können. Es tut uns leid, dass unseren Wünschen keine Gewährung zu Teil wurde.« –
»Das Vergnügen wäre grossenteils auf meiner Seite gewesen, die Notwendigkeit meiner schnellen Abreise jedoch« –
»Sie sehen, wir sind zurück,« bemerkte der Alte mit einem Nachklange stillen Vorwurfes. »Ein Regenschauer vertrieb uns, kaum zwei Stunden, nachdem Sie uns verlassen; auch durfte meine Emilie, die seit einigen Tagen die Molken trinkt, sich der Seeluft nicht aussetzen.« –
Rambleton schwieg.
Der Alte schien nun müde, die unbezwingliche Starrheit des jungen Mannes länger zu bekämpfen. Etwas formell trat er einen Schritt unter die Seinigen zurück.
»Es wird allmählich düster. – Wir haben für heute gesehen, was wir sehen wollten. Was sagt Ihr, wollen wir nach Hause?«
Der junge Mann war auf diese Worte im Begriff zurückzutreten, als der Alte und Wilhelm sich mit einer so leicht gefälligen Wendung an ihn anschlössen, und die Damen, in dieselbe Linie tretend, auf eine so zarte Weise von ihm das Signal zum Abgehen zu erwarten schienen, dass er unwillkürlich gedrungen den Fuss hob.
Es war etwas ungemein zart Einladendes in diesem wechselseitigen Zurücktreten und Halten, ein Grad von achtungsvoller Aufmerksamkeit, die den jungen Mann die Deutschen näher zu betrachten veranlasste. Die Dämmerung ging leise schon in nächtliches Dünkel über, aber trotz des täuschenden Zwielichtes schienen einige flüchtige Seitenblicke ihm eine weit bessere Meinung von den Deutschen beizubringen, als er je den hellen lichten Tag hindurch von ihnen hatte.
Die Toilette der Gesellschaft war freilich auch auf eine Weise verändert, die eine solche Meinungsänderung motivieren konnte. Der grüne Überrock des Alten war nämlich einem schwarzen gewichen, dem zum Überflusse eine Ordensschleife in eines der obern Knopflöcher geknüpft war; die leinenen Staubhemden und Kappen der jungen Leute waren zu Hause geblieben und hatten eleganten Fracken und Hüten Platz gemacht; an ihren Absätzen klirrten Sporen. Von den Damen waren Emilie und Luitgarde in sogenannter Halbtoilette, und die echten Kaschmirtücher, die sie jetzt übergeworfen, würden selbst im splendiden Newyork einigen Beifall gefunden haben. Der junge Mann, der wie gesagt, mit Kenneraugen, obwohl nur flüchtig, diese Wandlung gemustert, schien mit den guten Deutschen zufrieden. Bald aber verlor er sich wieder in sein apathisches Träumen.
Sie waren während der Musterung auf der Strasse angekommen.
»Es ist schade,« nahm der Alte wieder freundlich das Wort, »dass Sie dieses herrliche Land zu Anfang der schönen Jahreszeit verlassen. Vielleicht haben Sie es schon früher bereist?«
»Vergebung, ich bin erst seit drei Monaten in Europa, von denen ich die Hälfte der Zeit in Paris, und die andere im übrigen Frankreich zubrachte; erst seit den letzten vierzehn Tagen bereise ich die Schweiz.«
»Eine zu kurze Zeit, um dieses wunderbare Land auch nur oberflächlich kennen zu lernen. Sie können die schönsten Partien kaum im Fluge gesehen haben, vom Oberlande wahrscheinlich gar nichts?«
»Doch,« versetzte Rambleton; »ich fuhr von Genf den Leman bis Vevay hinan, – stieg von da in den Kanton Freiburg hinauf, von da kam ich über Bern und Luzern nach Zürich.«
»Einen Monat später, und Sie könnten den Rigi besteigen, der mit seiner Aussicht allein eine Reise nach der Schweiz wert ist.«
»Ich bedaure sehr, dass die Dringlichkeit meiner Reise das nicht mehr möglich macht.«
Sie waren während der abgebrochenen Unterhaltung am Abhänge des Hügels angekommen. Zwei aufgeschlagene Wagen, beide mit Wappen auf den Kutschenschlägen, und der eine mit einem dritten auf der Rückseite, hielten mit Kutschern und Bedienten. Die ehrerbietige Eilfertigkeit, mit der die Diener die Kutschentüren öffneten, und die vornehme Ruhe, mit der die Dienstbeflissenheit hingenommen wurde, schienen den jungen Mann zu frappieren.
Der Alte war mit Luitgarde am Arme an den ersten Wagen herangetreten, und im Begriffe, die Tochter hineinzuheben; sie zauderte mit einem flüchtigen Blicke auf Rambleton.
Mit einem verständigenden Winke hob er sie in den Wagen.
»Ist es gefällig, uns für den letzten Abend, den Sie in der Schweiz zubringen, Gesellschaft zu leisten?« fragte er.
Einen Augenblick stand der junge Mann zweifelhaft, da deutete Luitgarde mit so graziöser Hoheit auf den Sitz ihr gegenüber – ein Diener erfasste ihn so rasch am Arme; ehe er sich dessen versah, sass er ihr gegenüber. – Wilhelmine war von der andern Seite eingehüpft, Wilhelm auf den Kutschbock hinaufgesprungen; der Alte stieg endlich gleichfalls ein und nahm seinen Sitz neben Rambleton.
»Adieu Papa! Herr Rambleton! Luitgarde! Wilhelm! Wilhelmine!« lachten die beiden Eheleute, in den zweiten Wagen hüpfend. – »Geben Sie acht auf Wilhelm, oder er fährt Sie in die Mitte des See's hinein.« –
Und Rambleton schaute abermals auf, wie einer, der soeben erwacht. Er sass mit den Deutschen im Wagen! Die nach Sauerkraut und Bratwurst duftenden Deutschen hatten ihm, dem Fashionable, allmählich ein gewisses Interesse abgewonnen! ihm selbst das Herz leicht erzittern gemacht!
– Es war ihm so wohl, wie es ihm nie in der Nähe der Geraldines, Florindas und Helenen gewesen.
Der Wagen flog rasch Richtersweil zu, und zog dann langsamer durch die holperige Strasse des Dorfes. Alles war bereits still darin. Nur einzelne Arbeitsmüde sassen auf den Bänken vor ihren Haustüren, den gemächlich Vorüberfahrenden einen herzlichen Gueten Ahbig zurufend, – einzelne Pilger kamen mühsam schleichend die Strasse gezogen, im tiefen Basse Gebete vor sich hin murmelnd, und wie sie an den letzten Häusern des Dorfes vorbeifuhren, kamen diese Pilger häufiger.
Der Mond war über die östlichen Berge heraufgezogen, und wie die Müden ihren Weg herabsuchten von dem Bergesrücken, an den sich das südliche Ende des Dorfes hinlehnt, klangen die dumpfen und wehmutsvollen Pilgergesänge so seltsam im Mondesschein herüber!
»Das sind Pilger«, sprach der Alte; »arme Pilger, die von ihrer Wallfahrt nach Einsiedeln zurückkehren. Viele gehen hundert und mehr Stunden, um sich Trost zu holen. – Die Armen!«
»Bei Ihnen«, fiel Wilhelm, sich vom Kutschsitze herüberneigend, ein, »haben Sie keine solchen Wallfahrtsorte, weil Sie keinen himmlischen Trost für irdische Not bedürfen. Ihre Armen haben da besseren Trost, wenigstens reelleren.«
»Bessern wohl schwerlich, Wilhelm!« sprach der Vater – »reelleren vielleicht. – Ach, das ist immer eine sehr schöne Täuschung!« – Er hielt inne und sah zum Wagen hinaus, neben dem zwei sehr alte Leute, ein Mann und ein Weib, entlang krochen.
»Wohin, Alter und gutes Mütterchen?«
»Nach Rappersweil noch heute, und morgen hinauf nach Toggenburg. Kommen von der Mutter Gottes von Einsiedeln, lieber Herr!«
»Ihr werdet müde sein. Wollt ihr nicht hinten aufsitzen, liebe Leute?« fragte Luitgarde.
»Gottes Dank, schönes Fräulein!« riefen die beiden alten Eheleute.
Hinten war jedoch nicht Platz für zwei; die Alte stieg also hinten auf – ihr Mann vorne, und Wilhelm nahm im Wagen Platz, der wieder weiter fuhr.
Luitgarde wandte sich zurück zum alten Mütterchen, und sprach einige teilnehmende Worte mit ihr, der Papa mit dem Alten.
Rambleton hatte anfangs die Lippen gekräuselt; aber die Umgangsweise der Deutschen, obwohl dem Newyorker neu, hatte etwas so bequem Humanes, ihr Benehmen war so natürlich. Es wurde ihm sonderbar und doch so wohl zu Mute.
»Sie haben gewiss bei Ihnen sehr schöne Land- und Seepartien?« bemerkte Wilhelm zu seinem neuen Nachbar, nach einer kurzen Pause, in englischer Sprache.
»Entzückend schöne Seen müssen Sie haben, nach den Schilderungen Ihres Cooper zu schliessen!« fiel Luitgarde ein.
Sie sprach ihr Englisch mit einem stark deutschen Anklang, der bekanntlich nichts weniger als wohltuend amerikanische Ohren berührt. Aber dieses harte Englisch hatte einen so reinen Glockenton. – Rambleton horchte entzückt.
»Du meinst den Sankt George-See?« fiel wieder Wilhelm ein.
»Ist er wirklich so schön?« fragte Luitgarde.
»Wunderschön!« fiel Rambleton hastig ein.
Sie schaute ihn erwartend an.
»Das herrlichste Bassin, in dem Kristall-Fluten sich spiegeln«, fuhr er mit einer Hast fort, als ob er befürchte, sein ungestümer Nachbar würde ihm abermals in die Rede fallen. – »Sind Sie nie darauf gewesen?« fragte er zerstreut.
Sie sah ihn erstaunt an.
»O, im raschen Dampfer«, fuhr er hastig fort, – »im raschen Dampfer diese Fluten zu durchschneiden – diesen Zaubersee, jedes rote, blaue Pünktchen der Forelle, jeden Streifen des Hechtes, der Barsche, – das kleinste Steinchen sehen Sie achtzig Fuss in der Tiefe! Und die herrliche Inselwelt, die sich wie eine Schar grüner Schwäne auf diesen klaren Fluten schaukelt, buchstäblich schaukelt; denn die Inseln, obwohl auf Felsenbetten ruhend, sind mit Moos überzogen, und von herrlichen Haldbäumen beschattet, deren Äste, Zweige und Blätter sich im Wasser wiederspiegeln. Und die Ufer, die sich so kühn und pittoresk über die Gewässer neigen! Ah, eine Fahrt auf dem Sankt George!«
Er hielt auf einmal inne.
Der Alte sah ihn mit einem freundlich lächelnden Blicke an. – Luitgarde hatte die Augen gesenkt, wie verwundert, dass dem jungen Manne die Zunge so plötzlich gelöst war. Sie warf einen forschenden Blick auf ihn.
»Welche Jahreszeit«, fragte der Alte, »ist wohl für eine Reise nach den Vereinigten Staaten die am wenigsten gefährlichste?«
»Bei der Vortrefflichkeit unserer Paketschiffe ist im Ganzen keine Jahreszeit eigentlich gefährlich zu nennen«, versetzte Rambleton; »doch um schnell hin zu reisen, sind die Monate Januar bis Mai wohl die besten. Zurück taugen alle; auch Oktober hat viele Ostwinde.«
»Aber welche Jahreszeit würden Sie die genussreichste nennen?« fragte wieder der Alte. »Ist es Ihr Frühling oder Sommer?«
»Die Wahrheit zu gestehen«, entgegnete Rambleton etwas verlegen, »so sind unsere Frühlinge nicht ganz, oder vielmehr, um richtiger zu reden, so brechen sie zu schnell herein.«
»Zu schnell herein?« fragten Vater, Tochter und Sohn verwundert.
Indessen waren sie schon an Pfäffikon vorüber die Strasse nach N-n hinaufgefahren. Der Vollmond schien helle, der See lag ruhig im heitern Mondlichte vor ihnen. Die Türme und Zinnen von Rappersweil schauten wie Geister der Vorzeit von jenseits herüber, in grausig unheimlich dunkeln Umrissen erhoben sich im Hintergrunde die gigantischen Berge von Schwyz und St. Gallen.
Tiefe Stille herrschte.
Jetzt waren sie vor dem Gast- und Badehause angekommen. Wilhelm war rasch abgesprungen, hatte die nachhüpfende Wilhelmine in seinen Arm aufgefangen – dem Alten war Luitgarde in die seinigen geflogen. Rambleton stand, die liebliche Familiengruppe betrachtend.
Singend hüpfte die muntere Schar, an die sich die beiden Eheleute angeschlossen, die Treppe hinan, auf der sie die Diener mit Lichtern erwarteten.
Rambleton starrte, in Gedanken verloren, dem anziehenden Kranze der weiblichen Gestalten nach – Luitgarde war allein bei dem Papa zurückgeblieben.
»Herr Rambleton!« sprach dieser freundlich. »Sind Sie sehr in Eile?«
»Sehr.«
»Und wünschen Sie heute noch nach Zürich zu kommen?«
»Leider ist das nicht möglich.«
»Nicht doch, unsere Pferde haben seit heute und gestern ausgeruht, ein Trab nach Zürich ist ihnen eine blosse Kleinigkeit.«
»Sie sind gütig, aber« –
»Keine Einwendung, lieber Herr Rambleton. Sie fahren mit meinem Wagen und Pferden nach Zürich, und das sogleich, wenn Sie es wünschen.« –
»Ihre Güte ist gross, aber« –
»Aber Sie wollen von meinem Anerbieten erst morgen früh Gebrauch machen – nicht wahr? Und uns den Abend schenken. Das ist schön von Ihnen. Ohnedem, was würden Sie in der Nacht in Zürich? Sie träfen keine Seele im Gasthofe wachend, und von Geschäften, ist vor morgens acht Uhr gar keine Rede. Wenn Sie um drei Uhr abfahren, haben Sie viel Zeit übrig. – Es ist jetzt neun.«
Und wie der Alte mit freundlicher Zudringlichkeit dem jungen Manne zusetzt, haftet Luitgardens Auge so seelenvoll an ihm. – Es zog ihn unwillkürlich hin, und die Treppe hinauf.
Alle drei stiegen nun diese hinan.
Sie hatten noch nicht die Höhe erreicht, als auch bereits die Töne eines raschen Walzers an ihre Ohren schlugen.
Wilhelmine, im Hut und Shawl, wie sie gekommen, war nämlich kaum in den Saal eingehüpft, als sie auf das Pianoforte zutanzte, es aufschlug, und nach einem kurzen Vorspiel in einen raschen Straussischen Walzer einfiel. Das Signal winkte wie der Donner der Lärmkanone auf die schlachtfertigen Krieger. Die jungen Leute gerieten in stürmische Bewegung. Wilhelm rannte dem Tisch in der Mitte des Saales zu, schleppte ihn mit einem Bedienten in einen Winkel; sprang dann an die Seite Wilhelminens – diese Hut und Shawl abwerfend, drückte Fräulein Rohr auf den Sessel nieder, im nächsten Augenblicke wirbelte das fünfzehnjährige Mädchen, mit dem ungestümen Cousin, im raschesten Walzer durch den Saal. Die beiden Eheleute, unfähig der Versuchung zu widerstehen, hatten sich angeschlossen – als die drei zur Türe des Saales gelangten, war der Impromptu-Tanz bereits im vollen Gange.
Rambleton schaute überrascht – die beiden Paare tanzten so fröhlich ausgelassen, und doch mit einer Grazie, einer Zartheit, einer Sittsamkeit. – Dieser bei ihm so verschrieene Walzer, erschien ihm hier so heimisch, natürlich und graziös.
»Ei, liebe Kinder, seid Ihr denn schon wieder daran? Nun, so freut Euch des Lebens, so lange das Blümchen blüht.«
»Lieber Rambleton! warum so düster, gedankenvoll?« wandte er sich an diesen. –
»Lieber Rambleton!« sprach er zutraulicher, »Wir sind en famille, auf dem Lande, und also zwanglos. – Es sind gerade solche Bagatellen, die die roten Festtagsstreifen in den Kalender unsers Lebens zeichnen, und uns die in schwerem Blei schwarz gedruckten Wochentage wieder aufhellen. Wir müssen uns selbst das Leben aufheitern. Wir sind unser eigenes Schicksal.« –
Der junge Mann schwieg.
»Können Sie widerstehen, wenn Euterpe und Terpsichore rufen? Ich hätte es nicht gekonnt, als ich noch in Ihrem Alter war.«
Und damit nahm er mit sanfter Gewalt den Hut aus der Hand des jungen Mannes.
Halb hob dieser die Arme, halb kamen ihm, von sehnsüchtigem Verlangen getrieben, die Luitgardes entgegen: im nächsten Augenblicke schwebten die beiden im Tanze dahin.
Es war ein schönes Paar, das deutsche Mädchen und der junge Amerikaner. – Sie schwebte so anschmiegend, in so mildem Entzücken an der Hand des schönen, kräftigen Republikaners hin. – Anfangs war noch etwas schüchtern Steifes in seinen Bewegungen – er hatte seine Walzer im City-Hotel und auf den Bällen von Saratoga getanzt, – allmählich aber, von dem unsäglichen Reize des herrlichen Mädchens angezogen, wurden seine Bewegungen freier, kühner, rascher; er wirbelte zuletzt die Welt vergessend dahin.
Ein Waldhorn und eine Klarinette hatten das Orchester verstärkt. Die Instrumente, von den beiden Jägern der Familie mit Kunstfertigkeit gespielt, brachten einen Aufschwung in den Tanz! – Immer feuriger würden die Paare, das Entzücken riss sie immer mehr und mehr hin.
Auf einmal brach die Musik ab.
Rambleton und seine Tänzerin tanzten noch immer fort. Sie flogen die Tour aus bis zum Fenster des Saales. Erst da kamen sie zur Besinnung.
Und die beiden sahen sich an, mit Blicken, in denen sich das Entzücken so lebhaft malte; ihre Seelen schienen sich in der kurzen Begegnung bereits gefunden und aufgeschlossen zu haben.
Sie vermochten nicht zu reden, aber so innig hing sein Auge auf ihr, so seelenvoll das ihrige an ihm.
Sie war näher zum Fenster getreten, aus dem sie sich hinausbeugte; die kühle Abendluft fächelte die blonden seidenen Locken, die über den schneeweissen Hals hinab ringelten.
»Luitgarde! Miss Luitgarde!« verbesserte sich Rambleton, der mit halb erstickter Stimme hastig einen Shawl vom nächsten Sessel aufraffte, und ihn sorglich um die Schultern des Mädchens legte. Sanft seine Hand in ihren Arm legend, zog er sie vom Fenster und schloss dieses.
Sie dankte mit einem holden Blicke aus ihrem seelenvollen Auge.
Auf einmal zuckten seine Lippen, schienen etwas sagen zu wollen, pressten sich wieder zusammen.
Sie sah ihn bange an.
Er konnte keine Worte finden; seine Lippen zuckten, ein namenloser Schmerz verzog sie krampfartig.
Sie fasste bestürzt seine Hand.
»Herr Rambleton!«
Er löste die Hand aus der ihrigen, fuhr sich damit über die Stirne, sein Auge riss sich gewaltsam von ihr los – und mit abgewandtem Gesichte sprach er:
»Miss Luitgarde! Ich muss gehen.«
»Müssen Sie gehen?« fragte sie, an der Gürtelschleife zupfend, kaum hörbar.
»Ich muss«, murmelte er. »Ich muss auf der Stelle – sogleich fort – fort, ja fort.« –
»Sie müssen fort?« wiederholte sie leiser und sinnend. »Und warum?«
»Warum?« entfuhr ihm in Gedanken. »Warum?« wiederholte er, und, als ob die Frage sein Inneres zerreisse, wurden plötzlich seine Augen trübe, wild; mit Heftigkeit erfasste er ihre Hand, und seine Wildheit war wieder vorüber. – Mit Ehrerbietung drückte er diese Hand an seine Lippen, und sprach wehmütig:
»Ich bin so frei, Tänzer-Recht zu üben. Leben Sie wohl – Fare well! if for ever, for ever fare thee well!«
»Und Sie müssen fort?« fragte der herbeitretende Alte.
Des jungen Mannes Lippen zuckten abermals, sein Auge wurde trübe, eine Träne stahl sich hervor; sich aber mit Gewalt ermannend, sah er den Vater einen Augenblick an, und sprach dann gefasst:
»Ich muss fort.«
»Können Sie uns nicht wenigstens diesen Abend schenken? Sie fahren in vier Stunden von hier recht bequem nach Zürich. Wir haben jetzt nach neun. Was wollen Sie so früh in der Stadt? Sie treffen ausser dem Nachtwächter keine Seele wachend. Sie würden uns ein wahres Vergnügen erzeigen, wenn Sie blieben. Wir nehmen so vielen Anteil an Ihrem Lande. Wir haben selbst einige Ursache.«
»Ich kann nicht,« sprach Rambleton mit gepresster Stimme und weggewandtem Blicke.
Der Alte sah ihn in getäuschter Erwartung eine Weile an und versetzte dann kopfschüttelnd:
»Wohl, Herr Rambleton! Wenn Sie denn absolut gehen müssen, so gehen Sie mit Gott, und möge Sie sein Hort begleiten!«
Wie der Alte so sprach, hatte er die Hand des jungen Mannes erfasst und in der seinigen gehalten. Dieser stand mit zu Boden gesenkten Augen. Jetzt schlug er sie auf, schaute um sich, warf einen langen Blick auf Luitgarde, dann ihre Hand ehrfurchtsvoll erfassend und an seine Lippen führend – flüsterte er:
»Ich danke für den glücklichen, den seligen Moment, den Sie« –
Mehr war er nicht im Stande über die Lippen zu bringen. Hastig sich vor ihr und den Übrigen verbeugend, ging er der Saaltüre zu.
Noch einmal wandte er sich um. – Ein leises »Fare well« murmelnd, und sich nochmals verbeugend, nahm er den Hut aus der Hand des Dieners, verliess eilig den Saal und eilte die Treppe hinab.
»Herr Rambleton! Einen Augenblick!« rief der Alte. »Die Pferde sind ausgespannt. Nur einen Augenblick, bis wieder eingespannt ist.«
Rambletons Seele war zu voll. Er hörte nicht mehr. – Bereits hatte er die Strasse nach Pfäffikon zu eingeschlagen.
»Geschwind, Thomas!« rief der Vater – »geschwind die Braunen angespannt, und dem Herrn nachgefahren.«
Thomas kam aus dem Stalle gerannt.
»Du fährst den Herrn, der mit uns gekommen, nach Richtersweil, fütterst da, während er seine Sachen in Ordnung bringt, und fährst dann sogleich nach Zürich.«
»Wohl, Euer Gnaden!«
»Schnell, er ist schon fort, du musst ihn auf dem Wege gegen das Dorf zu antreffen.«
In wenigen Minuten rollte der Wagen auf der Strasse Rambleton nach, hielt einen Augenblick an und fuhr dann weiter. Erst als das Gerassel in der Ferne verschollen war, kehrte der Alte zu den Seinigen zurück.