Annemarie Schwarzenbach
Lyrische Novelle
Annemarie Schwarzenbach

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21

Gestern sind die Jäger weggefahren. Jetzt schliesst man den Speisesaal, und ich esse in der Wirtsstube, wo die Leute aus dem Ort abends Karten spielen. Ich schreibe auch da, ich habe einen Tisch neben dem Fenster und kann auf den Platz hinaussehen. Ich denke, dass ich bald wegfahren werde, vielleicht schon morgen. Ich werde heute abend in der Garage Bescheid sagen. Eigentlich wollte ich alles durchlesen, was ich bisher geschrieben habe. Aber vielleicht würde es mir nicht gefallen. Es war für Sibylle, ich habe es für sie geschrieben, und wahrscheinlich wird sie es nie lesen.

Ich habe Kaffee getrunken. Es ist drei Uhr. Ich möchte noch spazieren gehen, und ich gehe in den Park hinüber.

Um sieben Uhr abends wird das grosse Tor geschlossen, aber auf der anderen Seite des Sees gibt es kein Tor, da beginnt gleich der Wald, und wenn man weiter geht, kommt man auf die Landstrasse, welche mitten durch den Wald läuft und die einsamen Dörfer miteinander verbindet.

Ich bleibe heute in der Nähe des Schlosses, es ist ganz still zwischen den Bäumen, und der Boden ist weich und wie von einem Teppich mit Nadeln bedeckt. Im Innern des Parks hören die Wege manchmal auf, das Gestrüpp wird dicht, und man muss sich mühsam hindurch kämpfen. Ich möchte an 95 das Ende des Parks kommen, aber dafür brauche ich ziemlich lange und manchmal denke ich, dass ich die Richtung verloren habe und dass ich wieder auf das Schloss zugehe oder an das Seeufer.

Aber plötzlich bin ich da und trete ins Freie. Es ist eine Art von Überraschung. Man sieht den grauen Himmel, der sich auf die braunen Felder senkt, und die Felder dehnen sich aus bis zum Horizont. Dort gehen sie in den Himmel über, und man kann die Farben nicht mehr unterscheiden. Im Wald war es warm, und die Luft war leicht, hier strömt sie schwer auf mich ein, alles ist gewaltig, und die Ebene beginnt dicht vor meinen Füssen und setzt sich fort wie ein grosser Strom. Über mir werden die Bäume vom Wind bewegt, und das Rauschen hört sich an, als erfüllten gewaltige Vogelzüge den Himmel mit ihren Flügelschlägen. Ich stehe mit dem Rücken an einen Stamm gelehnt. Hier ist Wald und Ende des Waldes und Erde und Geruch von Erde und Blättern unter den Füssen. Und hier ist Wind und unendliches Ausmass von Land und Ineinander von gedämpften Farben, und Kälte wird kommen und dann wieder Wärme, und der Boden wird aufbrechen und Früchte werden ihn sprengen und reif werden.

Und ich habe Lust, von hier wegzufahren.

Ich denke, dass ich vielleicht an das Meer fahren könnte. Es ist nicht weit, in ein paar Stunden bin ich an der Ostsee. Dort würde ich die Schiffe im Hafen ansehen und die Matrosen, und mit den 96 Matrosen könnte ich trinken und später mit ihnen hinausfahren. Oder ich könnte in die Stadt zurückkehren. Ich könnte wieder mit Magnus befreundet sein und in der Bibliothek arbeiten, und alles wäre wie vorher. Ich habe mich ja entschieden, und ich habe es nicht nötig, mich vor irgendeinem Menschen zu schämen. Sie sagten immer, dass ich mich nicht entscheiden könne, jetzt habe ich es getan, und ich bin zufrieden. Ich weiss jetzt, wie das Leben ist, und dass man nichts erhält, ohne auf etwas zu verzichten. Das ist Gerechtigkeit.

 

Ich nehme meine Brieftasche heraus und das Geld aus der Brieftasche und zähle die Scheine. Ich habe etwas mehr als dreihundert Mark, damit kann ich weit kommen. Alles ist in Ordnung.

 

Ich denke an die Stadt, an Magnus, an Irmgard und an meine Arbeit . . . Ich stelle mir alles genau vor, die Strassen, den Weg durch den Tiergarten, den Nebel gegen Abend, meine Wohnung und den erleuchteten Lesesaal der Bibliothek. Ich denke auch daran, ob ich wieder in das Walltheater gehen werde.

Und da überfällt es mich plötzlich. Sibylle wird nicht mehr da sein. Ich stehe noch an den Baum gelehnt, und ich habe plötzlich ein Gefühl, als müsse ich mich daran festhalten. Aber ich wusste es doch. Ich bin weggegangen und wusste, was es zu bedeuten hatte. Aber ich habe es mir nicht klar gemacht. 97 Und jetzt ist mir alles gleichgültig, ich möchte mich auf die Erde legen und an nichts mehr denken. Alles könnte zu Ende sein, denn Sibylle ist nicht mehr da. Es ist gleichgültig, wenn die Leute mit mir zufrieden sind und wenn ich Erfolg haben werde. Das ist alles nichts, denn man hat mir Sibylle genommen, und nichts wird sie mir jemals ersetzen. Das also ist Verzicht und Gerechtigkeit. Oh, ich verstehe nichts davon, ich bin blind vor Schmerzen. Hatte sie nicht ein Kind, das sie mehr liebte als mich? Aber sie wollte, dass ich ihr helfe, und dann hätte sie das Kind behalten können. Und sie hätte dann gewusst, wie sehr ich sie liebe. Jetzt ist es schon spät. Ich habe noch so viel vor mir, und für etwas ist es zu spät. Ich werde ohne Sibylle leben, und ich habe es mir nicht klar gemacht.

Ich werde nicht an das Meer fahren.

Ich werde nicht mit den Matrosen trinken.

Ich werde Sibylle diese Blätter nicht geben.

Wenn ich zurückkomme, wird sie nicht mehr da sein.


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