Annemarie Schwarzenbach
Lyrische Novelle
Annemarie Schwarzenbach

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20

Aber ich werde jetzt weitererzählen und damit zu Ende kommen. Ich bin nicht mehr müde. Ich gewöhne mich daran, allein zu sein. Alles ist unwirklich und verändert und sehr weit von den gewohnten Dingen entfernt. Ich möchte von etwas befreit sein, aber ich habe Angst, tief zu atmen. Ich sehe immer nur die Wiesen, die graubraunen Hügel und die Bäume im Wald, und ich denke nicht daran, dass es andere Gegenden gibt, Landschaft und Stadt, wo ich wieder hingehen werde. Ich will davon nichts wissen. Man kann also allein leben? Man kann sich den gewöhnlichen Daseinsformen entziehen? Man hat mich angelogen: Ich hätte doch mit Sibylle leben können. Gut, die Welt wäre mit mir nicht einverstanden gewesen, und ich wäre bestraft worden. Es gibt Gesetze, sagte Erik. Ich hasste ihn, weil er stärker war als ich. Und ich war doch überzeugt, dass ich ihm aufrichtig zugetan sei. Oh, ich war überzeugt, dass ich niemals eifersüchtig sein würde und dass ich für solche Gefühle gar keinen Raum haben könnte. Aber ihn hat Sibylle in den Armen gehalten, das hat ihn befreit, und er ging unverletzt seines Weges. Er war unverletzt, niemand konnte ihm einen Vorwurf machen, und er liebte Sibylle immer noch, und es konnte ihm nichts anhaben. Er sagte mir, dass man gewisse Lebensnotwendigkeiten einsehen müsse. Mit 86 gesellschaftlichen Vorurteilen habe das nicht das geringste zu tun, sagte er, sondern es habe mit unserer Seele zu tun, mit unserer Bezogenheit auf Gott. Ich war bereit, es einzusehen, und ich fühlte mich sehr schuldig. Aber ich bin nur ein Mensch, und er hatte gut reden. Er sagte, es gäbe keine andere Sünde, als seine Kräfte von Gott abzulenken und sie ins Leere zu werfen. Keine Willensäusserung und kein Opfer sei berechtigt, wenn es nicht dem Ganzen diene und der Erfüllung der persönlichen Form.

»Woher kenne ich meine persönliche Form«, sagte ich.

»Du musst glauben, dass Gott dich liebt«, sagte Erik. »Du wirst dann nichts tun, was dir nicht entspricht.«

Er war ein gläubiger Mensch.

Am Abend ging ich an den Empfang des englischen Botschafters. Es waren sehr viele Leute da, und ich kannte viele von ihnen. Alle waren freundlich zu mir, sie erkundigten sich nach meiner Arbeit und sagten, dass ich Ferien bekommen müsse, um mich zu erholen. Ein alter Herr, den ich nur flüchtig kannte, lud mich ein, auf sein Gut in Ostpreussen zu kommen. Ich fühlte mich den ganzen Abend wohl und blieb ziemlich lange. Es gab ein gutes Buffet und viel Champagner, und ich sass mit ein paar jungen Engländern von der Botschaft und unterhielt mich mit ihnen. Sie sagten, die jungen Leute in England seien immer noch viel zu ungebildet, aber viele hätten sich geändert und 87 interessierten sich für andere Länder. Sie sprachen sehr gut Deutsch. Sie schlugen mir vor, im Sommer mit ihnen nach Oxford zu gehen und dort einen Ferienkurs zu besuchen. Das gefiel mir gut. Einer der Engländer wollte bald darauf gehen, und wir gingen zusammen fort. Als ich zu meinem Wagen kam, stand Willy da und wartete auf mich. Es fiel mir plötzlich auf, dass er bleich und mager war und dass man etwas für ihn tun müsste. »Frierst du nicht?« fragte ich. Er sagte: »Ich bin seit einer Stunde da.« Der junge Engländer verabschiedete sich. Ich glaube, er machte sich Willys wegen falsche Gedanken.

Wir fuhren weg. Es war ein Uhr. Man traf ziemlich viele Wagen an. Wir fuhren am Tiergarten vorbei über die Brücke und das Lützowufer entlang.

»Sibylle ist nicht im Theater«, sagte Willy plötzlich. »Sie wartet in der Kneipe auf Sie.«

»Hat sie nicht gesungen?« fragte ich.

»Nein, sie hat abgesagt.«

»Ist etwas passiert?«

Willy sah geradeaus und murmelte:

»Sie will nicht, dass ich es Ihnen erzähle.«

»Unsinn«, sagte ich. »Ich bin doch ihr Freund.«

»Ja, ja«, sagte Willy besänftigend. »Aber so ist sie doch. Und jetzt will man ihr das Kind wegnehmen.«

Er sah mich an. Ich schwieg.

Ich empfand etwas sehr Merkwürdiges. Es war, als verliere die Erde plötzlich ihre Anziehungskraft 88 und lasse mich frei. Ich hielt das Steuer des Wagens fest, aber meine Füsse waren weit weg und ohne Halt, und ich selbst war leicht und leer und konnte sicher durch den Raum fliegen, und mein Atem war auch ganz leicht und beinahe überflüssig. Neben mir sagte Willy: »Aber es ist nicht ihr Kind. Die Mutter ist gestorben, und Sibylle hat es zu sich genommen.«

Ich hatte neben Sibylle gelebt und hatte sie jeden Tag gesehen und war von ihr erfüllt gewesen, und sie war zur gleichen Zeit von etwas ganz anderem erfüllt gewesen. Jetzt erfuhr ich es und fühlte mich leer und hätte doch beinahe erleichtert oder getröstet sein müssen . . .

»Was ist es für ein Kind?« fragte ich. Ich hatte also recht gehabt. Sie betrog mich nicht, sie machte sich nicht über mich lustig.

Sie hatte ein Kind.

»Sie hat es für den Vater übernommen«, sagte Willy. »Niemand weiss etwas davon. Man hat ihn wegen Rauschgifthandel verhaftet. Sie hat ihm versprochen, für das Kind zu sorgen. Aber sie hat ja kein Geld.«

Ich fuhr langsam. Die Strasse war glatt und dunkel. Als ich über eine Kreuzung fuhr, kam aus der Seitenstrasse das Licht meines eigenen Wagens auf mich zu und brach sich in der Scheibe.

»Geld kann man schliesslich beschaffen«, sagte ich.

»Aber der Chauffeur nimmt ihr das Kind weg«, 89 sagte Willy. »Er ist der Bruder der Mutter. Das Gericht hat ihn als Vormund bezeichnet. Er hat das Recht dazu.«

»Warum will sie das Kind nicht hergeben?« fragte ich.

»Sie sagt, sie will nicht leben ohne das Kind«, sagte Willy bedrückt.

»So sind die Frauen. Sie liebt es.«

Wir liessen den Wagen ein paar Häuser von der Kneipe entfernt stehen und deckten den Kühler zu.

»Geh voran«, sagte ich.

»Nein«, sagte Willy. »Sie weiss nicht, dass ich dich geholt habe.«

Ich fragte plötzlich:

»Warum hast du Erik nicht geholt?«

»Der tut nichts dafür«, sagte Willy.

»Sibylle will nicht, dass ich ihn um etwas bitte. Sie sagt, er sei ihr Freund, aber er brauche nicht alles zu wissen.«

Ich fühlte mich ein wenig glücklicher und weniger bedrückt. Ich ging rasch an dem Portier vorbei. Sibylle sass an einem der ersten Tische und rauchte. Sie sah wunderschön aus. Sie fragte, ob ich gegessen hätte und bestellte Bier für mich. Willy war draussen an der Theke geblieben.

»Was ist los?« fragte ich. Sibylle sah mich forschend an und sagte: »Nichts. Gar nichts ist los.«

Wir waren uns sehr fremd. Ich fühlte es und war erregt, und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Wir sassen ziemlich lange, ohne zu sprechen.

90 »Wie ist es mit dem Kind?« fragte ich dann zögernd.

»Es ist krank«, sagte Sibylle. »Ich muss es wieder zu mir nehmen.«

»Wird er es herausgeben?«

»Du müsstest etwas für mich tun«, sagte sie. »Ich bin erst heute auf den Gedanken gekommen. Du müsstest unterschreiben, dass du für das Kind sorgen willst.«

Ich fühlte etwas in mir kalt werden. Auch meine Hände waren kalt.

»Ich müsste es adoptieren«, sagte ich.

Sibylle schwieg.

»Wann musst du Bescheid haben?«

»Sprich mit niemandem darüber«, sagte sie kurz. »Telephoniere mir morgen.«

Wir gingen hinaus, stiegen in das Auto und fuhren weg. Ich wollte ihr vorschlagen, noch in meine Wohnung zu kommen, ich sehnte mich wahnsinnig danach, sie allein zu haben, sie zu trösten, die Kluft zwischen uns zu überbrücken. Aber ich hatte Angst, sie gerade jetzt darum zu bitten. Es hätte sie sicher verletzt.

Als wir fuhren, legte sie die Hand auf meinen Hals und umschloss ihn mit ihren Fingern. Sie sagte kein Wort.

»Ist es sehr schlimm?« fragte ich.

»Ja«, sagte sie. »Es ist doch mein Leben. Aber ich dachte mir, dass ich es nicht behalten könne.«

»Ich werde dir helfen«, sagte ich. Meine Stimme 91 war unsicher. Sie umschloss meinen Hals fester.

»Liebling«, sagte sie. »Ich weiss, dass du mir nicht helfen wirst. Ihr seid alle gleich, ihr könnt ja nicht.«

Dann waren wir vor ihrer Wohnung. Sie stieg aus, nahm den Schlüssel aus der Tasche, gab mir die Hand und ging die Treppe bis zur Haustür hinauf. Es waren drei Stufen, und ich sah durch das niedere Wagenfenster nur ihre sehr schlanken Beine und die schmalen Abendschuhe. Sie hatte heute ein kurzes Kleid an, weil sie nicht im Theater sang.

Ich blieb am Steuerrad sitzen. Ich war irgendwo gelähmt.

Als Sibylle sah, dass ich nicht wegfuhr, kam sie zurück, und ich öffnete ihr die Tür. Sie sass neben mir und zog meinen Kopf zu sich herab.

»Vielleicht würde ich dich lieben«, sagte sie. »Aber sei nicht verzweifelt. Ich war sehr gut für dich, später wirst du das einsehen.«

Wer musste denn hier getröstet werden!

»Ich gehe fort«, sagte sie. »Aber vielleicht kommst du doch mit?«

»Würdest du dich denn freuen?« fragte ich gepresst.

»Ja«, sagte sie. »Sonst würde ich es nicht vorschlagen.«

»Wir nehmen das Kind mit«, sagte ich.

Mein Gott, jetzt lächelte sie. Sie liess meinen Kopf los und lächelte. Und Willy hatte gesagt, sie habe geweint.

92 »Zuerst kommt unsere Beziehung zu Gott. Alles Persönliche ist ohne Bedeutung. Du musst deiner Form gemäss leben. Alles, was dich davon ablenkt, ist Sünde. Es gibt keine andere Sünde, als sich von Gott ablenken zu lassen.«

Und sie hatte geweint!

Ach, es gab keine andere Sünde, als Sibylle leiden zu lassen.

»Ich werde alles tun, um dir zu helfen«, sagte ich.

Sie sagte nichts mehr. Sie stieg zum zweitenmal aus. Und jetzt fuhr ich sofort weg.

Am nächsten Tag sprach ich mit einem Rechtsanwalt, den ich durch Erik kannte. Er sagte, er werde sich der Sache annehmen, und als ich fortgegangen war, rief er Magnus an. Das war nicht korrekt gehandelt, aber er meinte es sicher gut. Er ging auch zu Sibylle, aber sie wies ihn ab. Als ich sie am Nachmittag sprechen wollte, sagte mir die Wirtin, sie schlafe noch, aber ich könne sie abends im Walltheater treffen. Es war sehr schwer, etwas für sie zu tun. Ich fühlte mich den ganzen Tag sehr schlecht und erbrach mich mehrmals. Erik schickte mir einen Arzt. Er untersuchte mich und sagte, mein Organismus sei geschwächt und die Magennerven funktionierten nicht mehr.

Ich versuchte noch einmal, Sibylle zu erreichen. Sie kam auch an den Apparat und sagte mir, ich hätte nichts Offizielles unternehmen dürfen, ohne sie zu fragen. »Vielleicht schickst du mir gleich die Polizei«, sagte sie. Ich hatte vergessen, dass sie 93 weder mit der Polizei noch mit Beamten irgend etwas zu tun haben wollte.

Dann telephonierte Erik. Er wollte meinen Vater benachrichtigen. Ich schrie ihn an und bat ihn, es nicht zu tun. Ich sagte: »Ihr seid ja alle wahnsinnig geworden.« Aber sicher hielten sie mich für wahnsinnig. Ich hasste Erik. Um vier Uhr rief ich das Dienstmädchen und liess eine Handtasche packen.

Ich war entsetzlich verwirrt und dachte, dass alles, was ich tun wollte, falsch sei. Ich dachte, es wäre besser, zu meinem Vater zu fahren und ihn zu bitten, mich mit Sibylle fortreisen zu lassen. Aber ich sah ein, dass ich mich lächerlich machen würde. Man würde mich wie einen Primaner behandeln. Dann nahm ich mir vor, mit Sibylle zu sprechen. Aber sie hatte mir Vertrauen geschenkt, und ich enttäuschte sie, und das war alles einfach und klar.

Ich warf mich auf mein Bett und war ausser mir und wusste keinen Ausweg.

Dann zog ich meinen Mantel an, nahm die Handtasche und ging hinunter, um den Wagen zu holen.

Ich hätte Irmgard gern noch gesehen. Aber ich hatte Angst, bei ihr wieder weich zu werden, und ich musste doch fort. Ich fuhr durch eine andere Strasse, um nicht an ihrem Haus vorbeizukommen. Es war schon dunkel, und ich brauchte fast eine Stunde, bis ich aus der Stadt draussen war. 94

 


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