Annemarie Schwarzenbach
Lyrische Novelle
Annemarie Schwarzenbach

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12

Heute beginnt die Jagd. Ich komme die Treppe herunter, es ist kurz vor ein Uhr, der Wirt steht im Flur, begrüsst mich und sagt: »Die Jagd ist offen.« Ich verstehe zuerst nicht, was er meint. Es klingt wie: »Das Fenster ist offen«, und ich sage: »So, das ist schön«, und gehe weiter. Aber der Wirt folgt mir und setzt sich an meinen Tisch. »Morgen können Sie schon Rehkeule essen«, sagt er. »Aber Sie sind wohl kein passionierter Jäger.«

»Nein«, sage ich, und dann erzählt er mir, wieviel Wild es hier in den Wäldern gibt, wieviel letztes Jahr geschossen wurde und welche Preise man auf dem Markt erzielen kann. Er verwendet viele Fachausdrücke, die ich nicht immer verstehe, obwohl sie mir bekannt vorkommen. Aber es sind Worte, an die ich nie mehr gedacht habe. Ich glaube, man verschüttet auf solche Weise ganze Begriffswelten, die einmal geläufig und selbstverständlich waren und zum Leben gehörten. Mit Namen geht es ebenso.

Ich höre dem Wirt zu und frage, wer denn hier an der Jagd teilnehme. Er sagt, es seien die Gutsbesitzer der Umgegend. Sie versammeln sich und fahren mit ihren Jagdgewehren und mit ihren leichten Pferden in den Wald. Sie haben bestimmte Picknickplätze, gewöhnlich sind es geschützte Waldlichtungen, kleine Wiesen, von Buschwerk und 32 hohen Stämmen umstanden. Es geht sehr fröhlich zu, auch die Damen nehmen an der Jagd teil und dirigieren die Kutscher, welche die Proviantkörbe aus den Wagen herbeischaffen. Der Wirt sagt, vor dem Krieg seien die Jagden von geradezu fürstlichem Glanz gewesen, fast jeden Tag habe in seinem Hotel ein grösseres Diner stattgefunden. Das ist natürlich anders geworden. Heute müssen sich die Leute einschränken. –

Nach dem Essen gehe ich hinaus und gehe langsam durch den Ort. Eigentlich fühle ich mich heute besser, ich könnte wieder versuchen, spazieren zu gehen, das wird mir nicht schaden. Aber vorher will ich irgendwo Kaffee trinken.

Ich trete in die Konditorei ein, in der ich vor einigen Tagen die ersten Seiten dieser Aufzeichnungen schrieb. Das Hündchen ist nicht mehr da. Die Besitzerin ist ein bisschen aufgeregt, das ist wohl wegen der Jagd.

Ich bestelle Kaffee. Am Fenster, zwei Tische von mir entfernt, sitzen drei Herren in dicken grauen Überziehern mit Pelzkragen. Diese Überzieher sind aus grauem Militärtuch gemacht und haben grüne Aufschläge an den Ärmeln. Die drei Herren sprechen über die Jagd. Ich höre die gleichen Fachausdrücke, und sie sind mir schon wieder geläufig. In der Schule lernten wir auch schiessen, und mein Vater übte es manchmal in den Ferien mit mir. Aber es interessiert mich nicht sonderlich, und ich habe schon lange kein Gewehr mehr in der 33 Hand gehabt. Was kann es mir auch ausmachen, ich verabscheue die Jagd. Ich begreife nicht, dass man Tiere lieben und zugleich Jäger sein kann.

Sibylle sagte mir einmal, sie würde es mir übelnehmen, wenn ich Tiere getötet hätte. Ich sagte ihr, dass ich es nie getan habe. Aber sie glaubte mir nicht. Im Grunde glaube ich, dass Sibylle eher zum Töten imstande wäre als ich. Sie ist von einer sehr weiblichen Grausamkeit, das wurde mir oft als Warnung gesagt. Aber es ist mir gleichgültig, wenn sie versucht, mich zu quälen. Nur am Anfang fand ich es entsetzlich. Ich unterschied mich ihr gegenüber nicht viel von Willy.

Willy liess sich alles von ihr sagen. Sie nahm keine Rücksicht auf ihn. Und er war doch sonst ziemlich stolz. Ich dachte eigentlich, dass Willy von mir entdeckt worden sei. Das war eine Täuschung. Sibylle kannte ihn schon seit Jahren, und er schloss sich mir an, weil er merkte, dass ich mich für Sibylle interessierte. Aber das ist ein schlecht passendes Wort, ich habe mich nur für mich selbst interessiert, und auf so geschickte Weise, dass ich mich noch immer für frei hielt, als ich längst in einer ganz merkwürdigen, fremden und abgeschlossenen Welt lebte. Ich glaube, dass man erst dann Herr über alle Situationen ist, wenn man persönlich nicht mehr beteiligt ist. Wenn ich Sibylle nicht so geliebt hätte, hätte ich ihr vielleicht etwas sein können. Das glaube ich. Aber so konnte ich ihr gar nichts sein, ganz einfach, weil ich sie zu sehr liebte. 34 Ich werde bald nach Hause gehen. Ich habe keine Lust, mich an alle Fehler zu erinnern, die ich gemacht habe. Die meisten davon waren unvermeidlich, und die Ratschläge meiner Freunde haben mir nichts geholfen.

Jetzt habe ich beständig Kopfschmerzen, ich glaube auch, dass ich jeden Abend wieder Fieber habe. Aber ich werde Geduld haben. Ich könnte vielleicht in den Wald gehen, aber jetzt sind die Jäger da, und ich möchte nicht mit ihnen zusammenstossen. Die drei Herren am Nebentisch haben ihren Wein ausgetrunken und gehen weg. Ich sehe ihnen nach, obwohl sie mich gar nicht interessieren. Dann gehe ich auch weg.

Draussen ist es schon dunkel. Ich bin sehr zufrieden darüber, die Tage sind so kurz und vergehen rasch. Aber warum freut es mich, ich habe gar keine Veranlassung, die Tage zu zählen. Ich habe kein Ziel vor mir.

Ich gehe langsam durch das Städtchen. Es gibt hier eigentlich nur eine einzige Strasse, sie heisst Hauptstrasse und ist erleuchtet. Vor einem Geschäft sammeln sich Leute an, ich höre schon von weitem einen Lautsprecher, der das Wetter verkündigt. Dann kommen politische Tagesnachrichten, und nun beginnt ein Walzer . . .

Ein Hund steht zwischen den Männerbeinen und kläfft den unsichtbaren Lautsprecher an. Ein Arbeiter gibt dem Hund einen Fusstritt. Sibylle würde zu ihm sicher eine Bemerkung machen. Sie sieht nicht gern, wenn Tiere schlecht behandelt 35 werden. Einmal – es war noch am Anfang unserer Bekanntschaft – schrie sie einen alten Mann an, der seinen Hund hinter sich her schleifte. Es war spät in der Nacht, und der Hund war halbverhungert. Er trug kein Halsband, der Mann hatte ihm nur eine Schnur um den Hals gebunden, daran zerrte er ihn fluchend vorwärts.

Ich ging hinter Sibylle her und wäre beinahe über den Hund gestolpert. Ich sah ihn einfach nicht, weil ich entsetzlich müde war. Es fing damals gerade an. Sibylle hatte die Gewohnheit, nach der Vorstellung bis drei Uhr im Walltheater zu bleiben. Sie kam um elf Uhr, aber dann konnte ich sie nicht sehen, weil sie in ihrer Garderobe war und sich anzog. Sie brauchte dafür sehr lange. Später ging ich manchmal zu ihr hinein, sie schien nichts dagegen zu haben. Die alte Garderobenfrau schob mir einen Stuhl hin, ich setzte mich so, dass ich Sibylle vor dem Spiegel sehen konnte, und lehnte mich mit dem Rücken gegen die Wand. Nachher, zwischen zwölf und ein Uhr, hatte Sibylle zu singen, sie trug ein rostbraunes Kleid und sah wunderschön aus, wie ein gotischer Engel, aber eine Spur knabenhafter wegen ihrer schmalen Hüften. Das Singen war ihr gleichgültig, sie verbeugte sich am Schluss wie alle andern Sängerinnen und war überhaupt sehr korrekt. Nur hielt sie sich nicht mit einer Hand am Vorhang fest und schob ihn nicht zur Seite, sondern stand ganz frei da und wartete alles ab.

Wenn sie fertig war, kam sie an meinen Tisch 36 und bestellte zu trinken. Sie blieb bis drei Uhr. Ich tat es auch, weil ich mich nicht von ihr trennen wollte. Dann gingen wir weg, fast immer allein, und draussen tauchte Willy auf und fragte, ob er ein Auto besorgen solle. Aber meistens hatte ich meinen Wagen da, oder wir gingen ein paar Schritte zu Fuss. Willy folgte in einiger Entfernung, und wenn wir essen gingen, wartete er draussen bei den Chauffeuren. Erst als er merkte, dass ich Sibylle bis vor ihre Haustür begleitete, blieb er weg. Sibylle schien davon nichts zu bemerken, und mir war es gleichgültig.

Gerade in jener Nacht war ich zum erstenmal so müde, dass ich es nicht verbergen konnte. Ich redete überhaupt kein Wort mehr und konnte auch nicht essen. Sibylle fragte: »Was macht Ihre Arbeit?« Ich erinnere mich genau daran, weil ich so erstaunt war, dass sie danach fragte. Aber ich antwortete nichts. »Ich glaube, Sie sollten mehr schlafen«, sagte sie und legte ihre Hand auf meinen Arm. Sonst sagte sie nichts. Und nachher auf der Strasse stolperte ich über den Hund. Sie blieb sofort stehen und herrschte den alten Mann an, er solle die Leine loslassen. »Sehen Sie denn nicht, dass das Tier nicht mehr gehen kann«, sagte sie, ich hatte ihre Stimme noch nie so scharf gehört. Der Mann fluchte entsetzlich, und ich dachte, dass etwas passieren würde. Ich wollte mich zwischen Sibylle und ihn stellen, aber sie schickte mich in das Lokal zurück – wir waren erst ein paar Schritte 37 gegangen – und sagte, ich müsse dort Milch verlangen. Ich ging und traf dort Willy. Er hockte zwischen einer Gruppe von jungen Burschen an der Theke. Als ich zur Tür hereinkam, glitt er gleich vom Stuhl herunter und fragte, ob Sibylle etwas vergessen habe. Dann beschaffte er mir die Milch und begleitete mich. Sibylle stand noch über den Hund gebeugt und schien dem Alten zu erklären, wie er das Tier pflegen müsse. Der schimpfte leise, der Hund müsse doch nach Hause, und Sibylle sagte, er würde schon gehen, wenn er erst die Milch getrunken habe. Aber es dauerte ziemlich lange, bis der Hund zu trinken begann. Er hatte offenbar Angst. Nachher trottete er widerstandslos hinter dem Alten her.

Inzwischen hatte Willy ein Auto geholt. Sibylle sagte, sie sei jetzt sehr müde und ob ich mitfahren wolle. Aber das lohnte sich nicht, und ich gab Sibylle die Hand und sah ihr nach, als sie wegfuhr. Ich hatte ein leeres Gefühl im Magen, und eigentlich war mir ein bisschen schwindlig.

Willy grüsste gar nicht, er sass vorne neben dem Chauffeur und sah sehr zufrieden aus. Ich glaube, ihm machte es nichts, die ganze Nacht aufzubleiben. 38

 


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