Annemarie Schwarzenbach
Lyrische Novelle
Annemarie Schwarzenbach

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19

Es ist Zeit aufzuhören. Ich habe einen langen Weg nach Hause. Ich habe vier Stunden geschrieben, jetzt will ich die Blätter ordnen und nach Hause gehen. Ich bin ein wenig verwirrt. Man sollte nicht schreiben . . . Man ist so schnell bereit, Dinge, die man erlebt hat, zu vergessen und Gefühle Lügen zu strafen. Ich denke oft, dass ich gar nichts fühle, und später denke ich, dass alles nicht sehr wichtig war. Sicher werde ich später ganz im Ernst denken, dass ich Sibylle nicht geliebt habe. Nein, ich habe sie nie geliebt. Es war wie heute still in mir, so dass ich draussen den Wind hören kann. Bin ich feige oder nicht eifrig genug, mich zurückzuversetzen? In der Erinnerung tun auch die glücklichen Gefühle weh, und man geht lieber darüber hinweg. Aber wenn ich schreibe, kommt alles ganz von selber wieder, ich merke es gar nicht, und plötzlich bin ich mitten darin, aufgerührt und verstört.

Ich muss mir immer wieder aufs neue sagen, dass ich allein bin.

Der Wirt fragt mich, ob ich Dichter sei. »Ja«, sage ich. »Mein Gott, ja.« Dann sage ich Guten Abend, und er öffnet die Tür für mich. Der Weg kommt mir jetzt kürzer vor als heute morgen. Ich werde früh essen und dann schlafen gehen. Ich kann so viel schlafen, wie ich will.

Hoffentlich sind keine Jäger da. Gestern haben 83 sie Lieder gesungen, und ich konnte nicht einschlafen. Sicher hatten sie viele Tiere geschossen und waren stolz darauf und tranken sich gegenseitig zu.

Ach, was geht es mich an. Was gehen mich die Leute an.

Ich biege vom Weg ab und gehe um den kleinen See herum. Es fängt schon an dunkel zu werden, und man trifft niemanden an. Wenn ich ein Landstreicher wäre, könnte ich immer tun, was mir gerade einfiele, und ich müsste keinem Rechenschaft geben. Auch mir nicht, denn, was bin ich, eine irrende Seele. Ich kann das Leben nicht begreifen, nicht die einfachsten Zusammenhänge, und doch trage ich die Verantwortung, wenn ich etwas falsch mache.

Oder ich möchte viel Land besitzen, diese Felder und einen Teil des Waldes und den See und den Park dahinter. Ich würde hier wohnen und nie mehr fortgehen. Dann wäre ich sehr zufrieden, und niemand könnte mir meinen Besitz nehmen, und nichts könnte mich erschüttern. Boden kann man nicht wegnehmen.

Jetzt bin ich am Ende des Sees, und gegenüber liegt das Schloss und der Säulengang zwischen den beiden Flügeln. Die Säulen ragen wie junge Stämme in den blauen Abendhimmel.

Ich bin am Ufer, das Wasser bewegt sich hin und her und läuft ein Stückchen über den groben Sand. Dann fliesst es wieder zurück, der Rest versickert und hinterlässt kleine Rinnen, die nachher wieder 84 überspült und geglättet werden. Weiter draussen sieht der See ganz still aus, und am andern Ufer neigen sich die Bäume des Parks ein wenig dem Wasser entgegen und spiegeln sich darin. Hier ist das Ufer ziemlich steil und ohne Bäume. Man hat eine breitansteigende Lichtung in den Wald hineingelegt, und auf der höchsten Stelle wurde von Friedrich dem Grossen ein Denkmal errichtet. Es ist nur ein grosser, grauer Stein, ein Obelisk, und der König liess ihn aufstellen, um seine treuen Offiziere zu ehren. Sie zeichneten sich durch ihren Mut und durch ihre Treue aus, und ihre Namen wurden in den Stein eingegraben. Man liest sie, und es klingt wie Fanfarenstösse. Ich weiss nicht warum, aber es hat etwas Erhebendes, diese Namen zu lesen. Ich habe wohl schon irgendwo gesagt, dass es in meiner Familie viele Offiziere gab. Aber in diesem Augenblick habe ich nicht daran gedacht. Und plötzlich wird mir heiss, und mein Herz schlägt, und ich denke, dass ich schon einmal hier gestanden bin. Ich schäme mich, ich möchte einen Degen haben, ich schäme mich und bin doch allein und lese auf dem Stein den Namen meines Ahnen. 85

 


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