Annemarie Schwarzenbach
Lyrische Novelle
Annemarie Schwarzenbach

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16

Ich sah dann Erik jeden Tag, und wir wurden gute Freunde. Wir assen zusammen, er holte mich zu Hause ab, manchmal weckte er mich, und es war schon zwei Uhr nachmittags, und wenn ich aufstand, wurde mir übel. Er sagte, er wolle mir einen Arzt schicken, aber er sah ein, dass es keinen Zweck haben würde.

»Es macht dir wohl Vergnügen, krank zu sein und nichts mehr arbeiten zu können?« sagte er. Aber ich fand es schrecklich, ich konnte nur nichts dagegen tun, ich wusste keinen Ausweg. Ich war so mutlos geworden, dass ich nicht mehr wagte, über irgend etwas nachzudenken. Ich hatte nie gedacht, dass mir ernstlich etwas zustossen könnte. Ich glaubte es noch immer nicht, nur zuweilen hatte ich Angst, und wenn ich nach Hause kam und es war dunkel oder wurde gerade hell auf den Strassen, dachte ich manchmal, dass ich mich nie mehr zurecht finden würde. Das sagte ich niemandem, auch Erik nicht. Wahrscheinlich erriet er es, er war sehr besorgt um mich.

»Wahrscheinlich wird Sibylle mit mir verreisen«, sagte er mir einmal. »Sie könnte auch mit dir verreisen, wenn du Geld hast, aber ich denke, dass sie eher mit mir fahren wird.«

Ich nickte und fand es sehr gut. Als Erik rauchen wollte, holte ich im Wohnzimmer Zigaretten und 58 bot sie ihm an. Sie lagen in einer Schachtel aus eingelegtem Holz, die ich in Mailand gekauft hatte. Ich war dort mit Magnus und seiner Schwester Edith gewesen und mit zwei anderen jungen Mädchen. Sie waren sehr hübsch, und wir brachten die Hälfte unserer Sommerferien mit ihnen in Italien zu. Wir waren alle fünf sehr befreundet, und eigentlich war das erst einige Monate her. Als ich die Schachtel in der Hand hielt, erinnerte ich mich plötzlich deutlich daran. Das Geschäft lag in einer kleinen dunklen Gasse in der Nähe des Domes. Der Domplatz lag weiss und blendend in der Sonne. Auf den Stufen vor den Eingängen lagen Bettler und schliefen, Kinder liefen zwischen ihnen umher, manchmal wurde der dunkle Vorhang einer Tür beiseite geschoben, und ein Priester ging rasch über die Treppe auf den Platz hinunter. Er trug eine weinrote Schärpe über seinem schwarzen Kleid. Wir trieben uns in der Stadt herum und tranken sehr viel und abends fuhren wir auf der grossen Autostrasse bis zu unserem Hause, das mitten im Land lag, mitten zwischen den Maulbeerbäumen. Jetzt hielt ich die Schachtel aus Mailand in der Hand, es war in Berlin, die Freunde waren weit weg und keine Freunde mehr, und ich hatte sie vergessen.

»Erik«, sagte ich, »kannst du dir denken, dass Sibylle tot wäre?«

»Oh ja«, sagte er.

59 »Oder dass man sie nicht kennt? Dass ihre Gegenwart erfunden ist? Dass man ohne sie lebt und von ihr befreit ist?«

»Kleiner, du solltest dich wirklich von ihr befreien.«

»Dann würde ich sie nicht mehr sehen«, sagte ich. »Das ist ganz unmöglich, man kann nicht darauf verzichten. Aber wenn man daran denkt, dass man einmal –«

Es war erstaunlich, es war nur eine Erinnerung, und sie brachte mir unerwartet zum Bewusstsein, dass ich einmal sehr froh und ganz ohne Last gewesen war und dass ich Sibylle eigentlich fortwährend wie einen schweren Traum in mir trug. –

Sibylle sang weiter auf der Bühne und trug jetzt ein anderes Kleid, das mir noch besser gefiel als das erste. Es war um den Hals ganz wenig und rund ausgeschnitten und über den Hüften war es so eng, dass ihr schmaler Leib darunter deutlich abgezeichnet wurde. Ihre Haare waren ein wenig glatter, und die Schläfen traten frei hervor. Sie waren weiss und durchsichtig, ihre Hände waren durchsichtig, ihr Gesicht schimmerte vor Blässe, und unter den Augen hatte sie blaue Schatten. 60


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