Annemarie Schwarzenbach
Lyrische Novelle
Annemarie Schwarzenbach

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17

Als ich am besten mit Erik stand, reiste er ab. Er sagte, er habe geschäftlich zu tun und wolle in acht Tagen zurück sein. Am ersten Tag ging ich sehr spät in das Theater und nahm mir vor, nicht auf Sibylle zu warten.

Es waren sehr viele Leute da. Ich hatte Mühe, bis zu meinem gewohnten Platz durchzukommen.

Auf der Bühne tanzten Fred und Ingo. Sie machten seit drei Monaten das gleiche, aber das war überall so, und sie hatten Erfolg.

Es war ihnen ganz gleichgültig, was sie machten, man studierte ihnen die Tänze ein, und sie übten gewissenhaft. Das Ganze war nur eine Probe für ihre Geschicklichkeit, für ihren Fleiss oder für ihre Jugend. Ich fand sie beide langweilig, aber ich begriff, dass sie kindlich und reizvoll waren und dass die Leute das gerne sehen wollten. Wie gesagt, es war überall das gleiche, und nachts war die ganze Stadt voll von erleuchteten Sälen, die man prächtig herrichtete und wo hübsche junge Menschen sich zeigten, alles war gut organisiert und furchtbar laut und farbig, und es hatte nicht das geringste mit Kunst zu tun oder mit irgendwelchen tieferen Erschütterungen. Es war ein ungeheurer Leerlauf, und die betriebsamsten Leute waren von einer erstaunlich kurzsichtigen Trägheit. Aber wahrscheinlich hatte es keinen Sinn, dagegen 61 anzugehen, die Menschen waren gar nicht fähig zu einem ernsthaften Fortschritt.

Einzelne versuchten es immer wieder und brachten Herrliches fertig, aber es lag da und wurde gar nicht benutzt, immer kümmerte sich nur eine verschwindend kleine Zahl von Menschen darum. Das war genau wie mit den Ergebnissen der Philosophen: Es gab Gelehrte, die ein ganzes Leben lang irgendetwas zu erforschen versuchten, sie trugen ungeheuer viel Material zusammen und am Ende ihres Lebens hatten sie ihr Ziel erreicht, sie dachten, sie hätten der Menschheit einen Dienst geleistet, einen Schritt weiter in der grossen Erkenntnis geholfen. Sie wussten genau, dass diese Erkenntnis schliesslich zur Erkenntnis Gottes führen musste. Aber nachher standen die Bücher, die ihr Werk enthielten, in den Bibliotheken, und niemand las sie, denn niemand hatte Zeit dafür, ausser vielleicht ein paar Fachgelehrten, und selbst diese konnten kaum alles lesen, was die Arbeit eines Lebens erfordert hatte. Und wieviele von diesen Gedanken waren schliesslich dazu bestimmt, fruchtbar zu werden und auf welchen Umwegen! –

Als Fred und Ingo fertig getanzt hatten, bestellte ich einen Cognac. Der Kellner sagte mir, dass Sibylle schon gesungen habe und wohl gleich kommen werde. Erst jetzt bemerkte ich, dass die Leute am Nebentisch mich ansahen und offenbar erwarteten, dass ich sie grüsste. Ich tat es, weil eine Dame dabei war. Sie sass mit dem Rücken zu mir, aber sie 62 drehte sich um und lächelte und fragte, ob ich mich an ihren Tisch setzen wolle. »Sie sehen so betrübt aus«, sagte sie. Ich sagte, ich sei sehr guter Laune, dabei errötete ich aus Verlegenheit, weil sie schön war und weil ich tatsächlich ihren Namen nicht wusste. Ihr Begleiter war elegant und kahl und hatte stumpfe und listige Augen. Sie selbst hatte leuchtende Augen und einen unbedingten, zärtlich werbenden, sehr starken Blick.

Sie sprach von vielen Leuten, die ich früher gesehen hatte oder die mit meinen Eltern befreundet waren. Ich fand mich zurecht, und wir unterhielten uns gut. Manchmal sagte sie dazwischen etwas Überraschendes, worauf ich nichts zu antworten wusste. Dann schwieg sie, und ihre Augen wurden immer stärker.

»Ich möchte wissen, wo Sie gestern nacht gewesen sind«, sagte sie. »Ich möchte wissen, wo Sie Ihr zweites Leben zubringen.«

»Es ist mir lieber, wenn Sie es nicht wissen«, sagte ich, es war eine ungeschickte und anspruchsvolle Antwort, und ich errötete wieder.

Sie lachte, und ihr Begleiter lachte auch. Er sagte nie selbst etwas, sondern schloss sich nachträglich seiner Frau an, wie um sie zu bestätigen. Sie sah dann freundlich zu ihm herüber und schien ihn gern zu haben. Ich war erstaunt, als ich hörte, dass er ihr Mann sei. Er kam mir sehr unbedeutend vor.

Als Sibylle kam, stand ich auf, verabschiedete mich, und wir setzten uns beide an meinen Tisch.

63 Ein paar Tage später wurde ich von Frau von Niehoff zum Abendessen eingeladen. Ich hatte sie ganz vergessen. Als ich sie wiedersah, war ich überrascht, weil sie in Wirklichkeit viel schöner war als in meiner Vorstellung. Ich kam etwas zu früh, ihr kleines Mädchen war noch bei ihr und bekam sein Abendessen auf einem blauen Tablett. Es war ein sehr hübsches Kind von ungefähr fünf Jahren, und ich liebte es gleich. Es war hellblond, sehr zart und hiess wie seine Mutter: Irmgard.

Als wir allein waren, sagte Frau von Niehoff, sie glaube, ich sei krank, und es sei besser, wenn ich sofort nach Hause ginge. Ich fühlte mich nicht schlechter als gewöhnlich. »Aber Sie können nicht so aussehen«, sagte sie. »Ich bin älter als Sie, ich habe das Recht, Ihnen Vorwürfe zu machen, und ich werde mich um Sie kümmern.«

Ich sagte »Danke«, und die Kehle war mir zugeschnürt. Eigentlich dachte ich, sie würde mich jetzt nach Sibylle fragen, etwa, ob ich ein Verhältnis mit ihr hätte. Und ich war verzweifelt bei dem Gedanken, dass ich ihr niemals erklären könnte, wie die Sache mit Sibylle in Wirklichkeit war. Sie würde mich entweder auslachen oder bedauern, und beides konnte ich nicht ertragen.

Aber sie fragte gar nicht.

Zum Essen kamen noch zwei Herren, die ich einmal bei einem Empfang getroffen hatte, und eine Frau, die mit Frau von Niehoff befreundet schien. Sie hatte ein nichtssagendes Gesicht, aber 64 sie war sehr freundlich und unterhielt sich während des ganzen Essens mit mir.

Um zwölf Uhr wollte ich Sibylle treffen. Ich sagte Frau von Niehoff, dass ich gehen müsse. »Ist das so dringend?« fragte sie.

»Ja, es ist eine Verabredung«, sagte ich.

»Aber dann machen Sie es kurz und kommen Sie nachher wieder.« Sie gab mir die Hausschlüssel, damit das Mädchen nicht mit mir hinuntergehen müsse. Als ihre Freundin sah, dass sie mir die Schlüssel gab, sah sie Frau von Niehoff an und schien unzufrieden. Aber Frau von Niehoff lachte plötzlich laut und brachte mich auf den Flur hinaus. Draussen sagte sie: »Kann man denn nichts für Sie tun? Kann ich nichts für Sie tun?« und strich mit der Hand über meine Stirn. Ich fühlte, dass etwas in mir schwach wurde und ging rasch die Treppe hinunter.

Sibylle wartete schon auf mich.

Sie wollte gleich gehen, und ich holte ihren Mantel und gab dem Kellner ein Trinkgeld, weil er meinen Tisch frei gehalten hatte. Wir fuhren weg, und ich fragte, ob Willy nicht dagewesen sei. Ich hätte es gern gehabt, wenn er heute mitgekommen wäre, um Sibylle später nach Hause zu begleiten.

Aber er war seit einigen Tagen verschwunden, und Sibylle sagte, sie habe ihn auch nicht gesehen. Aber sie sagte es so nebenbei, und ich glaubte ihr nicht. Ich hatte immer das Gefühl, dass sie mir vieles verschweige, aber man konnte sie nicht fragen. 65 Als ich sie schon mehrere Wochen kannte, wusste ich immer noch ihren richtigen Namen nicht.

Wir fuhren zuerst zur Gedächtniskirche, durch die Tauentzienstrasse und dann durch die Lutherstrasse. Nachher kannte ich mich nicht mehr aus, aber wir fuhren ziemlich weit, und vor einem Haus, das die Hausnummer 34 trug, liess mich Sibylle warten. Das Haus hatte verzierte Balkone und vorspringende Konsolen und sah aus, als sei es vor zwanzig Jahren vornehm-bürgerlich gewesen. Jetzt war es ein wenig verwahrlost. Sibylle hatte einen Schlüssel für die Haustür. Ich wartete und rauchte, und während ich wartete, dachte ich an Irmgard von Niehoff. Ich nahm ihre Wohnungsschlüssel aus der Tasche und sah sie mir genau an.

Und plötzlich merkte ich, dass ich erregt war, dass ich nur an Frau von Niehoff denken konnte und dass ich lieber mit ihr zusammen gewesen wäre als mit Sibylle. Es war ganz natürlich, dass ich mich an diesen Gedanken klammerte. Ich war plötzlich von etwas erlöst, und ein Gefühl von Wärme und begeisterter Zärtlichkeit durchströmte mich.

»Es gibt also noch andere Frauen«, dachte ich und war von der Erinnerung an Irmgard hingerissen.

»Es gibt ganz einfache Möglichkeiten, um glücklicher zu sein, als ich es jetzt bin. Ich werde Sibylle vergessen. Ich liebe Sibylle nicht, ich habe mich nur daran gewöhnt, in ihrer Nähe zu sein, es 66 war eine Art von Bannkreis, in dem sie mich festhielt. Irmgard hat schwarzes Haar und einen herrlichen Blick, und sie hat gefragt, ob sie etwas für mich tun könne. – Oh, sie hat einen herrlichen Blick«, wiederholte ich mir und hatte Sibylle ganz aus mir verdrängt. Sie kam zurück, und ich liess den Motor anspringen.

Ich fragte sie nicht, was sie in dem fremden Haus getan habe. Eine ungewisse Ahnung sagte mir, dass sie sich mit etwas Wichtigem beschäftigt habe, dass sie vielleicht bedroht sei und dass sie meine Hilfe brauchen würde. Aber ich war daran gewöhnt, sie nicht zu fragen. Es ging mich wohl nichts an.

»Ich zeige dir den Weg«, sagte Sibylle. Ihre Stimme kam von weit her und war doch unverändert.

Wir fuhren wieder zurück und hielten an einer Ecke, wo zwei Taxis standen. Sie waren ohne Licht, und die Chauffeure waren nicht da. Vor einer gewöhnlichen kleinen Tür stand ein Mann und grüsste Sibylle. Sie sagte: »Du könntest vielleicht mit hineinkommen. Du brauchst nichts zu sagen, und wenn man dich anspricht, darfst du nicht grob werden.« Dann nahm sie rasch ein paar Geldscheine aus ihrer Tasche und gab sie mir.

»Es ist besser, du steckst es innen in die Jacke«, sagte sie, und zu dem Mann vor dem Hause:

»Das ist ein Freund von mir.«

Er liess uns hinein. Es gab zwei Vorhänge, und dann kam man in eine kleine Kneipe, die von einer 67 breiten und langen Theke fast vollständig ausgefüllt war. Ein Mann stand dahinter, und eine ganze Anzahl von Männern standen oder sassen davor und tranken. Es waren meistens Chauffeure, und kein einziger war elegant angezogen. Die Zivilisten sahen aus wie kleine Angestellte, sie trugen Anzüge aus schlechten glatten Stoffen, blauviolett oder rötlich, und bunte Hemden mit glanzseidenen Krawatten.

Sibylle ging an den Leuten vorbei, einige drehten sich um und kannten sie, und der Mann hinter dem Schanktisch war sehr höflich zu ihr. Ein zweiter Raum lag hinter der Schenke, er war sehr schlecht beleuchtet und stark geheizt durch einen eisernen Ofen. Der Raum war ganz öde, viereckige Tische mit Wachstuch bezogen standen nebeneinander, je drei auf einer Seite. An der Wand hing ein bedruckter Zettel mit der Aufschrift:

»Im Interesse der verehrlichen Gäste bitte ich, leise zu sprechen«

und ein anderer:

»Für abhanden gekommene Gegenstände kann ich keine Verantwortung übernehmen.«

Die Wände waren mit einer lila Tapete beklebt. Wir setzten uns, und ein Kellner sagte, dass wir kalten Schweinebraten mit Rosenkohl essen könnten. Er war schwerhörig, und Sibylle wiederholte ihm mehrere Male, dass er uns Bier bringen solle. Schliesslich brachte er zwei kleine Gläser mit dunklem Bier.

68 In diesem Raum sassen ausser uns nur zwei Leute an einem Tisch. Der Mann war gross und erstaunlich dick, und die Frau hatte schwarzes krauses Haar wie eine Negerin und war stark geschminkt. Ausser Sibylle war sie die einzige Frau hier, und Sibylle sagte, dass sie ein verkleideter Mann sei. Als wir eine Weile dasassen, kam einer der Chauffeure herein und setzte sich an unseren Tisch. Er beachtete mich nicht und sprach leise mit Sibylle. Sie sah ziemlich böse aus und sagte ihm, dass sie ihm irgendetwas nicht geben wolle, und als sie laut und mit ihrer schönen und eingehüllten Stimme sagte: »Das kommt gar nicht in Frage«, stand er auf, zuckte die Achseln und ging.

Ich fragte nichts, aber ich fand alles sehr unangenehm und war froh, als Sibylle den Kellner rief. Sie sah ziemlich erschöpft aus. Es war schon halb vier Uhr morgens. Ich war todmüde, ich dachte an Frau von Niehoff und war unglücklich. Aber ich hätte ja Sibylle nicht im Stich lassen können.

»Jetzt bringe ich dich nach Hause«, sagte ich und legte den Arm um sie.

»Ich kann nicht«, sagte sie. »Ich kann jetzt nicht nach Hause.«

Mir sank der Mut. Das Bier hatte mich noch müder gemacht, jetzt hatte ich Kopfschmerzen und wenn ich durch die Scheibe auf die Strasse sah, fielen beide Häuserreihen übereinander, und der Lärm brauste mir in den Ohren, und unüberwindliche Hindernisse verschlossen den Weg.

69 »Fahren wir doch«, sagte Sibylle. Sie bat beinahe darum. Ich schlug mit der Faust auf mein Steuerrad.

»Aber was hat es denn für einen Zweck«, sagte ich. »Warum sollen wir nicht endlich einmal schlafen? Ich kann es nicht mehr aushalten.«

Sibylle liess mich einen Augenblick in Ruhe, und ich schloss die Augen und legte die Stirn auf meine Hände.

»Du hältst es schon aus«, sagte sie. »Es ist ganz gut für dich, einmal gegen deine Vernunft zu leben. Ich weiss, ich bin nicht sehr bequem.«

Es war eine Art von Versprechung in ihrer Stimme. Aber ich wollte sie nicht hören. Ich wusste genau, dass sie mich nicht liebte, und ich empfand einen Schmerz, als hätte ich sie schon verloren.

Ich dachte an Frau von Niehoff, wie man an eine Heimat denkt, aber alles war schon wieder abgebogen, und ich traute mir selbst nicht mehr.

Ich fuhr Sibylle nach Hause, sie wandte nichts mehr dagegen ein. Während wir fuhren, begann es zu regnen, und der Wagen glitt unsicher über den Asphalt.

Als Sibylle ausstieg, regnete es schon in Strömen. Ich begleitete sie bis zur Tür und hielt die Zähne zusammengebissen, und sie sagte noch immer kein Wort. Als sie die Tür aufgeschlossen hatte, drehte sie sich um und schlug mir den Mantelkragen in die Höhe.

Ich ging zum Wagen zurück und war völlig 70 durchnässt. Ich glaubte, Fieber zu haben, meine Zähne lösten sich nicht mehr voneinander, ich fuhr ohne klares Bewusstsein bis zu Frau von Niehoffs Wohnung. Dort schloss ich sorgfältig den Wagen ab, fand die Schlüssel, das automatische Licht und das Sicherheitsschloss der Wohnung. Ich wusste, dass ich etwas Unmögliches tat, aber es drang nicht weit genug hervor, um meinen Willen wach zu rufen. So fährt man manchmal, der Schutzmann steht mit ausgebreiteten Armen, um die Fahrtrichtung zu sperren, man sieht es, man sieht die weissen Handschuhe und die ausgestreckten Arme und doch fährt man weiter und sieht sogar dem Schutzmann ins Gesicht, und niemand wird nachher glauben, dass man nicht begriffen hatte, was sein ausgestreckter Arm bedeutete . . .

Ich stand in der fremden Wohnung und dachte nicht daran, dass ein Dienstmädchen erwachen könnte oder dass ich nicht wusste, in wessen Zimmer ich hineingeraten würde. Ich ging durch das grosse Wohnzimmer, durch einen Gang und an zwei Türen vorbei. An der dritten Tür klopfte ich und drückte vorsichtig die Klinke nieder. Die Frau, die im Zimmer lag, drehte sich um und zündete eine kleine Lampe an. Sie sah mir gerade ins Gesicht und sagte sofort:

»Seien Sie still. Das Kind erwacht.«

Das rührte mich sehr. Ich ging durch den Gang und durch das grosse Zimmer zurück und blieb neben der Tür im Wohnraum stehen. Ich lehnte mich 71 an die Tür, und als ich den Kopf hob, sah ich mich plötzlich in einem hohen Wandspiegel, mein nasses Haar klebte an den Schläfen, und ich sah entsetzlich bleich aus. Ich senkte den Kopf wieder und wartete. Wahrhaftig, jetzt weinte ich. Ich schämte mich und war ohne Widerstand. Mit Inbrunst wünschte ich, dass die Frau kommen würde, und dann wünschte ich wieder, allein auf der Strasse draussen zu sein.

Jetzt kam sie, sie machte Licht und ging über den Teppich und um den Tisch herum und stand im Türrahmen und sah mich an. Ich sah sie auch an und weinte nicht mehr, aber mein ganzer Körper zitterte, und dafür konnte ich nichts.

»Kommen Sie herein«, sagte Irmgard. Sie ging mir voran in das Wohnzimmer. Sie setzte sich in einen grossen Stuhl, und ich sass ihr gegenüber.

»Sie sind ja wohl wahnsinnig geworden«, sagte sie.

»Ja«, sagte ich. »Nein, ich bin nicht wahnsinnig. Nein, ich bin nur so müde.«

Sie sass da und sah auf ihre Fussspitzen. Sie trug blaue Lederpantoffeln, und ihre Füsse waren sehr weiss, und die Haut war straff über die zarten Knochen gespannt.

»Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich bitte Sie um Entschuldigung.«

Natürlich hätte ich jetzt aufstehen, mich verabschieden und gehen müssen. Aber das konnte ich tatsächlich nicht tun, ich hatte nicht mehr die 72 geringste Kraft. Ich empfand eine seltsame Mischung von Selbstverachtung, Befriedigung und Elend.

»Ich bin sonst nicht schlecht erzogen«, sagte ich.

Irmgard beugte sich vor, lächelte und strich mit der Hand mehrmals über meine Augen. Ich presste die Stirn gegen ihre Hand.

»Sie haben wohl Angst, allein zu sein?« sagte sie sanft. »Sie wollen wohl hier übernachten?«

»Ja«, sagte ich.

»Gut«, sagte sie. »Sie kompromittieren mich, daran haben Sie leider nicht gedacht. Sie können im Zimmer meines Mannes schlafen.«

»Ist er verreist?« fragte ich zögernd. Irmgard sagte kurz:

»Sonst hätten Sie hier auf der Couch schlafen müssen. Sie haben Glück gehabt. Jetzt werde ich Tee für Sie machen, gehen Sie nur hinein und legen Sie sich zu Bett.«

Sie öffnete eine Tür, machte Licht und nahm aus einem Wandschrank ein Pyjama.

»Hier, bitte«, sagte sie und ging.

Ich stand einen Augenblick im Zimmer und stützte mich mit den Händen auf die Rückwand des Bettes. Es war ein breites, blau überzogenes Bett, auf dem Tischchen daneben stand ein Bild von Irmgard. Ich fühlte mich sehr merkwürdig und dachte, dass sich gleich irgendein grosser Irrtum herausstellen würde: Vielleicht war es gar nicht fünf Uhr morgens, und diese Wohnung war nicht in Berlin in einer bestimmten Strasse, und ich 73 kannte keine Frau, die Sibylle hiess, nie war ich mit ihr in einer Verbrecherkneipe gewesen, und nie würde Irmgard zurückkommen, ja vor allem würde Irmgard nie zurückkommen.

Dann zog ich mich plötzlich rasch aus, warf mich auf das Bett und fühlte, dass ich Kopfschmerzen hatte und dass das Leinen des Kissens wunderbar kühl war und ganz leicht nach Toilettenwasser roch. Ich schloss die Augen und wartete auf eine Frau. Und es gibt nichts Herrlicheres, als auf eine Frau zu warten. 74

 


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