Annemarie Schwarzenbach
Lyrische Novelle
Annemarie Schwarzenbach

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Diese Stadt ist so klein, man kennt nach einem einzigen Spaziergang jeden Winkel. Auch einen alten, sehr hübschen Hof hinter der Kirche habe ich schon entdeckt und den besten Friseur des Ortes, der in einer gepflasterten Nebenstrasse wohnt. Als ich von seinem Laden aus einige Schritte weiterging, war ich plötzlich am Ausgang, es gab nur noch einige Backsteinvillen, und die Strasse war sandig und sah aus wie ein Feldweg. Dahinter begann gleich der Wald. Ich kehrte um, kam wieder an der Kirche vorbei und kannte mich ganz gut aus. Durch den alten Hof gelangt man in die Hauptstrasse, und jetzt trete ich in das Café »Zum roten Adler«, um hier ein wenig zu schreiben. In meinem Hotelzimmer komme ich immer wieder in Versuchung, mich auf mein Bett zu werfen und die kurzen Stunden des Tages untätig hinzubringen. Es kostet mich grosse Überwindung zu schreiben, denn ich habe Fieber, und mein Kopf dröhnt wie unter Hammerschlägen.

Ich glaube, wenn ich hier einen Menschen kennen würde, wäre ich gleich am Ende meiner Beherrschung. Aber ich spreche kein Wort und gehe so umher, ohne mir über meine Empfindungen klar zu werden.

Das Lokal kommt mir ziemlich merkwürdig vor. Eigentlich ist es eine Konditorei mit 8 Glaskästen, ausgestellten Kuchen und einer Verkäuferin in schwarzem Wollkleid mit weisser Schürze. In der Ecke steht ein hellblauer Kachelofen, und die Sofas sind mit steilen, gepolsterten Rückenlehnen den Wänden entlang aufgestellt. Ein junger Hund läuft kläffend umher, ein ungepflegtes und armseliges Tierchen. Eine grauhaarige Frau versucht ihn zu streicheln, aber er entwischt ihr mit ängstlich gebogenem Rücken. Die Alte geht ihm nach, lockt ihn mit einem Stück Zucker und spricht laut und unentwegt zu ihm.

Ich glaube, sie ist geisteskrank. Niemand im Lokal scheint sie zu beachten.

Jetzt habe ich erst zwei Seiten geschrieben, und schon beginnen die Schmerzen wieder. Es sind Stiche in der rechten Seite, sie hören sofort auf, wenn ich mich hinlege oder wenn ich starken Alkohol trinke. Ich will mich aber nicht niederlegen, ich könnte jetzt so gut schreiben, und es entmutigt mich sehr, in meiner Einsamkeit untätig zu sein.

Die irrsinnige Alte ist weggegangen, ich würde gern sehen, wie sie über die Strasse geht und ob sie auch draussen laut vor sich hinredet wie die grauhaarigen Bettlerinnen in Paris. –

Früher konnte ich Geisteskranke nicht von Betrunkenen unterscheiden, ich beobachtete sie mit einer Art von ehrfürchtigem Grauen. Jetzt habe ich vor Betrunkenen keine Angst mehr. Ich war selber oft betrunken, es ist ein schöner und trauriger Zustand, man wird sich klar über Dinge, die man sich 9 sonst niemals eingestehen würde, über Empfindungen, die man zu verbergen trachtet und die doch nicht das Schlechteste in uns sind. –

Ich fühle mich jetzt ein wenig besser. Ich werde für das, was ich heute schreibe, um die Nachsicht des Lesers bitten müssen. Aber Sibylle sagte mir, dass nichts, auch nicht die bittersten Erlebnisse und die verlorensten Stunden meines Lebens gänzlich unfruchtbar werden dürfen. Darum liegt mir so viel daran, selbst in diesem unfähigen Zustand mich meiner Schwäche zu überlassen und sie später einmal der Kritik zu unterziehen, an der mir einzig gelegen ist: ob es mir gelingen kann, einmal in irgendeinem Sinn von Sibylle ernst genommen zu werden. 10

 


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