Annemarie Schwarzenbach
Lyrische Novelle
Annemarie Schwarzenbach

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10

Es ist noch nicht spät, aber die Dunkelheit ist wie ein Vorhang über das Land gesunken. Wenn ich an die Stadt denke, ist es mir, als habe ich dort ohne Ahnung von der Welt gelebt, ich weiss nicht, wie ich die Enge, die grausame Gleichförmigkeit der Wände, die bange Verschlossenheit der Häuser und die Öde der Strassen ertragen habe. Ich habe geschlafen, und kein Traum hat mich getröstet, und wenn ich aufwachte, war ich müde. Dann sass ich am Schreibtisch, und es wurde schon wieder dunkel, und die Scheinwerfer der Wagen glitten vor meinem Fenster auf und nieder. – Nachts wurde es immer sehr spät. Manchmal begann die Dämmerung, während ich nach Hause fuhr. Zuerst war es dunkel, und die Scheinwerfer warfen sich leuchtend auf den schwärzlichen Asphalt. Dann verblassten sie langsam, die Strasse wurde hell und ihr Glanz ermattete. Der Himmel zwischen den Bäumen des Tiergartens war grau durchwogt, Wolken, sackförmige Gebilde, Schleier und Keile schoben sich in das weichende Schwarz, die Stämme erschienen silbrig, zwischen den Ästen tanzten die Wellen der Dämmerung.

Ich sehnte mich nach dem Anblick der Sonne, die jetzt irgendwo glanzvoll emporstieg. Aber in der Stadt sah man sie nicht. Ein wenig Rot war am Himmel, dort war Osten. Alles blieb still.

26 Ich hielt vor dem Haus, in welchem ich wohnte. Ein sanfter Wind fiel über mich her und erfrischte mein Gesicht. Es war der Morgenwind. Bald würde er im Lärm der Stadt untergehen, ihre Hast erstickte ihn. Ich ging ins Haus, fuhr im Fahrstuhl in den zweiten Stock, durchlief den Flur und schloss die Tür meiner Wohnung auf. Ich nahm mir kaum die Zeit, die Kleider auszuziehen, und sank dann in Schlaf. 27

 


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