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Anmerkungen zu einzelnen Gedichten wurden aus technischen Gründen hinter die jeweiligen die Gedichte gesetzt. Re für Gutenberg
Unterm 26. Oktober 1852 vermachte Sibylle Mertens-Schaaffhausen, die Freundin und Erbin Adele Schopenhauers, dem Großherzoglich Sächsischen Staatsministerium »als eine Schenkung unter Lebenden« eine Sammlung von Kunstgegenständen, Möbeln, Büchern, Manuskripten usw., von denen ein Teil aus Adelens Nachlaß stammte. Die darüber aufgesetzte Schenkungsurkunde bestimmte, dieses gesamte Vermächtnis solle »eine abgeschlossene Sammlung bilden und als Teil der Großherzoglich Sächsischen Gemälde- und Kupferstichsammlung zu Weimar in den dazu bestimmten Räumlichkeiten für immerwährende Zeiten aufbewahrt werden«. Das Großherzoglich Sächsische Staatsministerium nahm die Schenkung an und verpflichtete sich ausdrücklich, »für deren Aufbewahrung dem von der Frau Schenkgeberin ausgesprochenen Willen gemäß pünktlichst Sorge zu tragen.« In einer von Sibylle selbst gemieteten Wohnung zu Weimar wurde die Sammlung zunächst aufbewahrt und nach ihrem Tode (22. Oktober 1857) von der Verwaltung der Großherzoglich Sächsischen Kunstsammlungen übernommen. Die Erben Sibyllens wurden von der Schenkung erst unterrichtet, als der Bevollmächtigte des Staatsministeriums, Hofadvokat Herrmann Brenner, die Stiftungsurkunde präsentierte und noch einige darin aufgeführte Handzeichnungen älterer und neuerer Meister der Genueser Schule reklamierte, die sich in Sibyllens römischem Nachlaß befanden und auch von den Erben ausgeliefert wurden.
Diese Sammlung, deren Wert man damals auf 344 Taler 10 Silbergroschen ansetzte – ohne die vorhin erwähnten italienischen Handzeichnungen –, ist als Ganzes verschollen. Ihre Spur ließ sich in den Ministerialakten nur bis in die siebziger Jahre hinein verfolgen. Entgegen den Bestimmungen der Schenkungsurkunde scheint das Vermächtnis Sibyllens mit dem Nachlaß Adelens in die übrigen weimarischen Sammlungen aufgegangen zu sein. Selbst darüber ließ sich nichts Genaueres feststellen. Eine Reihe von Bildern daraus besitzt das Weimarer Kunstmuseum, zwei das Goethe-Nationalmuseum; von den übrigen Gegenständen haben sich bisher nur ganz wenige als noch vorhanden nachweisen lassen.
Als meine biographischen Arbeiten über Sibylle Mertens und Adele Schopenhauer mich vor etlichen Jahren nach dem Verbleib der Sammlung zu forschen zwangen und niemand in Weimar darüber Auskunft zu geben wußte, gewann ich in Herrn Dr. Hans Wahl, meinem Mitherausgeber, einen tatkräftigen Helfer. Seinem Spürsinn gelang es, in den Kellerschränken des Weimarer Museums wenigstens die Schalen der Frucht zu finden, die Sibylle in der Hut der Großherzoglich Sächsischen Kunstverwaltung »für immerwährende Zeiten« wohl aufbewahrt zu haben glaubte: leere Mappen und Umschläge, deren Aufschrift von Sibyllens Hand ihre Herkunft verriet. Auch einige Fragmente der kleinen, hauptsächlich aus Adelens Besitz stammenden Büchersammlung förderten wir zu Tage und als wertvollstes Ergebnis unserer Forschungen die hier veröffentlichten Gedichte Adelens und eine Sammlung ihrer Silhouetten.
Über den Verbleib von Adelens handschriftlichem Nachlaß, der leider in alle Welt verstreut wurde, und über den sonstigen Inhalt der in Weimar so trostlos verschollenen Sammlung aus Sibyllens Besitz behalte ich mir vor, an anderer Stelle ausführliche Mitteilung zu machen. Hier beschränke ich mich auf das, was über die handschriftlichen Vorlagen zu diesem Erstdruck der Gedichte Adelens zu sagen ist.
Sibylle Mertens besaß eine Sammlung handschriftlicher Gedichte ihrer Freundin, etwa sechzig Nummern, wie sie am 14. Oktober 1849, als sie mit der Sichtung des Nachlasses Adelens beschäftigt war und seine Herausgabe plante, an Allwine Frommann schrieb. Von dieser Sammlung haben sich in Sibyllens eigenem Nachlaß nur einige Gedichtfragmente und Abschriften gefunden, Überbleibsel einer getroffenen Auswahl. Der Verbleib der Original-Handschriften hat sich, ebenso wie der des Manuskriptes »Florenz« und anderer Arbeiten, bisher nicht feststellen lassen, und der von Sibylle beabsichtigten Herausgabe des gesamten literarischen Nachlasses Adelens stellten sich so viele Schwierigkeiten in den Weg, daß sie ganz unterblieb. Besonders die Sammlung der Gedichte beschäftigte fast ein Jahrzehnt die mehreren Freundinnen der verstorbenen Dichterin, ohne daß Sibyllens unverdrossene Bemühungen ein festes Ergebnis gezeitigt hätten. Alle Beteiligten wünschten möglichste Vollständigkeit, schon deshalb, weil die Gedichte nur ein bescheidenes Bändchen füllen konnten. Aber man kam nicht dazu, alles notwendige Material auf einen Punkt zu sammeln. Ein Teil der Papiere Adelens lag in Jena bei ihrer Freundin Luise Wolff, der Gattin des als Improvisator und Schriftsteller bekannten Professors O.L.B. Wolff; diesen Teil erhielt Sibylle 1852 zum Vergleich der Gedichtwortlaute ausgeliefert. Manches besaßen Ottilie von Goethe und ihr Sohn Walther, Abschriften und Originale. Aber das war teils in Wien, dem spätern Wohnort Ottiliens, teils in Weimar verkramt, und bei dem unruhigen Reiseleben und dem seltenen Aufenthalt der Goetheschen Familie in Weimar war an ein baldiges Finden des Gesuchten nicht zu denken. In vielen Fällen, vor allem bei den Gedichten aus der Jugendzeit, wußte obendrein Ottilie nicht zu bestimmen, was von den Versen sie selbst zur Verfasserin hatte und nur von Adele abgeschrieben war, und was tatsächlich dieser gehörte. Eine genaue Prüfung der einzelnen Blätter erforderte Zeit und Ruhe, die nun einmal Ottilien nicht beschieden waren. Andrerseits hatte Sibylle einzelne Papiere in Rom, unter denen Manuskripte von Adele waren, und in Florenz hatte diese selbst 1848 einen Teil ihrer Sachen zurücklassen müssen, die von einer räuberischen Wirtin später verkauft wurden. Die zuerst so einfach erscheinende Aufgabe verwickelte sich zu einem Problem, das die Freundinnen beinahe entzweit und selbst einen literarisch geschulten Herausgeber lange beschäftigt hätte, niemals aber von drei Frauen – Sibylle, Ottilie und Allwine Frommann – gelöst werden konnte, denen die ersten Vorbedingungen einer solchen Arbeit, Ordnung, Einigkeit, Ruhe und Konsequenz, in bedauerlichem Grade fehlten. Was Sibylle an Handschriften entliehen erhielt, kollationierte sie mit dilettantischer Sorgfalt; aber zu einem Abschluß dieser textkritischen Arbeit ist sie nicht gelangt.
Die Varianten trug sie in ein kleines Oktavheftchen ein, das eine offenbar auf Vollständigkeit ausgehende Abschrift von Gedichten Adelens enthielt. Es gehörte mit zu dem Weimarer Vermächtnis Sibyllens und ist in der oben erwähnten Schenkungsurkunde unter A, d2) aufgeführt: »Ein Album in 8° cartoniert mit Gedichten von Fräulein Schopenhauer«. Dieses Bändchen hat sich unter den spärlichen Resten der Mertensschen Schenkung in den Kellerräumen des Weimarer Museums gefunden und ist jetzt in den Besitz der dortigen Bibliothek übergegangen. Daneben fand sich noch ein zweiter Manuskriptband, der in der Schenkungsurkunde unter B, c) als ein »Album in Pergament mit Gedichten, Auszügen aus Schriftstellern und einem ausgeschnittenen Bilde« verzeichnet ist und Gedichte Adelens in ihrer eigenen Handschrift enthält: er gehört jetzt dem Goethe-Nationalmuseum zu Weimar. Diese beiden Manuskriptbücher umfassen das Material für die hier gebotene Sammlung ihrer Gedichte.
Das erste, das ich weiter als H 1 bezeichne, ist ein Oktavheftchen im Format 10½ x 17, in grünem Glanzpapier mit Goldschnitt kartoniert und durch ein gemaltes Titelblatt ausgezeichnet: »Gedichte von A. S.«; darunter als Initiale ein schreitender Löwe, auf dessen Rücken eine die Harfe spielende Putte sitzt. Die Malerei verrät nichts von Adelens Künstlerschaft, sie ist wohl ein Werk der Abschreiberin; eine Wiedergabe durch siebenfarbigen Druck verlohnte sich daher nicht. H 1 enthält, mit Ausnahme des letzten Blattes, nur Abschriften der Gedichte Adelens von unbekannter Hand; vermutlich hat eine Freundin der Dichterin sie auf deren Wunsch zusammengestellt zum Zweck einer spätern Herausgabe. Adele selbst aber hat sie durchgesehen, manches darin verbessert, ohne doch die zahlreichen offenbaren Lesefehler und ähnlichen Versehen alle zu beseitigen, einige Verse und Strophen ergänzt und auf das letzte Blatt drei Gedichte (»Ihr Bild«, »Frühling im Winter« und »Weihnachten wird es für die Welt«) eigenhändig nachgetragen. Im Ganzen sind auf den 122 Seiten von H¹ 67 Gedichte gesammelt; dazu die vier hier mit abgedruckten Stücke, die sich wohl als »Gedichte in Prosa« bezeichnen lassen. Drei der Versgedichte finden sich doppelt kopiert.
H² ist ein Pergamentband vom selben Ausmaß wie H¹, aber in Querformat (17×10½) mit Goldschnitt. Er enthält nur 9 Gedichte Adelens, aber 8 davon in ihrer eigenen Handschrift; das neunte verrät die elegant-geistreichen Schriftzüge Sibyllens, die auch den übrigen Inhalt des Buches zusammengetragen hat: ein »Ostpreußisches Volkslied«, das ihr jedenfalls Adele mitgeteilt hatte, und zwei Gedichte, die sich durch die Unterschrift »O.« als Eigentum der Ottilie von Goethe ausweisen und als solches auch in einem Briefe von ihr an Sibylle vom 25. Oktober 1849 beglaubigt sind. Mit diesen Gedichten sind die 15 mittelsten Blätter des Bandes beschrieben: sie sind im Folgenden paginiert als Seite 1 – 30. Im übrigen enthält das Pergamentbuch auf den ersten Blättern noch drei Lesefrüchte aus Alexander von Humboldts und Senecas Schriften und das in der Schenkungsurkunde erwähnte ausgeschnittene Bild: ein betender Einsiedler vor einer Kapelle, das unter die Gedichte eingereiht ist (auf S. 7). Außerdem – auf der Rückseite eines leeren Blattes vor den Gedichten – noch ein kleines ausgeschnittenes Blumenstück in blauem Glanzpapier. Die übrigen Blätter des Bandes sind leer.
Beide Manuskriptbücher ergänzen sich, doch sind, mit alleiniger Ausnahme des Impromptu »An Sibylle« (S. 140 dieser Ausgabe), alle Gedichte aus H² schon in H¹ enthalten. Dafür aber haben wir in H² Adelens eigene Handschrift, was für die Textrevision nicht unwichtig war. (Vgl. das vorstehende Facsimile aus H².)
Das vorliegende Material bietet aber keine vollständige Sammlung der Gedichte Adelens. Sibylle hat mehr Originalhandschriften und Kopien besessen, als durch jene beiden Manuskriptbücher überliefert sind. Das verraten die noch erkennbaren Spuren ihrer eigenen redaktionellen Tätigkeit. Sie dachte bei der von ihr beabsichtigten Herausgabe die Gedichte offenbar in zwei Gruppen zu scheiden; die erste sollte hauptsächlich an bestimmte Personen gerichtete Gedichte enthalten; diese bezeichnete sie mit den 25 Buchstaben des Alphabets von A bis Z. Die zweite Gruppe versah sie mit Zahlen, und in dieser Zählung kam sie bis auf Nr. 66, wobei drei in Adelens handschriftlichen Tagebüchern befindliche mitberücksichtigt sind, wie die von Sibylle beigeschriebenen Zahlen beweisen. Ihre Sammlung belief sich also auf 66 25=91 Nummern, wovon jedoch durch falsche Zählung zwei ausscheiden, also 89 verbleiben. Von den Gedichten, die Sibyllen vorlagen und von ihr signiert wurden, fehlen also 17 in den beiden Manuskriptbüchern. Zwei davon sind uns anderweitig in Adelens eigener Handschrift überliefert; das erste, »Das sanfte Wort«, fand sich in Sibyllens Briefnachlaß, das zweite »Welle spühle fort meinen Kummer« in Wolfgang von Goethes Autographensammlung, deren Besitzerin die Universitätsbibliothek Jena ist. Da Sibylle (vgl. meine Einleitung S. 45) beide Gedichte in ihrem fragmentarischen Entwurf zu einer Biographie Adelens erwähnt, wird sie sie wohl auch mitgezählt haben. Der Gesamtverlust beschränkt sich daher auf 15. Doch ist auch diese Zahl vielleicht zu hoch gegriffen, da nicht feststellbar war, ob Sibylle auch die Gedichte in die Sammlung mitaufnehmen wollte – also mitgezählt hat –, die in Adelens »Haus-, Wald- und Feldmärchen« (1844) und in ihrem Roman »Anna« (1845) schon gedruckt Vorlagen. Sechs davon können auch selbständig, außerhalb des Romanzusammenhangs, bestehen. Nur zwei von ihnen sind handschriftlich überliefert, das erste »Daß walte »Gott« (S. 85 dieser Sammlung) in H¹, das zweite »Wenn der Blüthenstaub der Weiden in Adelens Tagebuch aus den vierziger Jahren; doch zeigt dieser Text eine andere Eingangsstrophe: »Wenn der Schnee von seinen Höhen« (S. 149 meiner Sammlung). Diese zwei sind in die obige Zählung Sibyllens miteinbegriffen. Hätte sie die übrigen vier ebenfalls für ihre Sammlung vorgemerkt, so würde sich unser Verlust auf 11 vermindern, wobei dann weiter zu fragen wäre, wie Sibylle es mit den vier Jugendgedichten Adelens zu halten gedachte, die Gerstenbergk 1817 in feinen »Phalänen« abgedruckt hat (vgl. S. 16 der Einleitung); vielleicht waren sie ihr gar nicht bekannt. Da von den Gedichten aus Adelens wenig verbreiteten Prosaschriften die obigen zwei, mit Rücksicht auf die handschriftliche Vorlage, in dieser Sammlung abgedruckt werden mußten, habe ich sie alle sechs ausgenommen; die vier aus den »Phalänen« aber ließ ich fort, weil sie in den Anmerkungen zu Adelens veröffentlichten Tagebüchern (Band 1, S. 145 ff.) von dem Herausgeber Kurt Wolff schon wiedergegeben wurden. Überflüssig erschien auch ein Wiederabdruck der zahlreichen Gelegenheitsverse an Ottilie, die Wolfgang von Dettingen in den beiden Bünden »Aus Ottilie von Goethes Nach, laß« (»Schriften der Goethe-Gesellschaft«, Bd. 27 und 28) mitgeteilt hat.
Bon den in Verlust geratenen Gedichten Adelens weist der schon erwähnte Brief der Ottilie von Goethe an Sibylle vom 25. Oktober 1849 vier nach, indem er die Anfänge gibt: »Du hörst sie nicht«, »Ein kleiner deutscher Genius«, »Kennst du den Schattenriß« und »Und wieder Lag«. Für diese vier verschollenen ist Adelens Urheberschaft durch Ottiliens wenn auch kaum zuverlässiges Gedächtnis bezeugt. Von den übrigen hat sich keine Spur mehr gefunden.
H¹ verrät den Versuch, die Gedichte nach ihrer Entstehungszeit zu ordnen: sie beginnt mit Jugendgedichten. Aber bald geht alles bunt durcheinander, und die chronologische Reihenfolge ist nicht mehr eingehalten. Der Abschreiberin kam das Material wohl bruchstückweise zu, aus Adelens eigenen oder ihrer Freundinnen Papieren, und die Dichterin selbst wäre wohl oft in Verlegenheit gewesen, wenn sie jeden Vers hätte datieren wollen. wird eröffnet durch »Mein erstes Lied«, das der Unterschrift zufolge aus dem Jahre 1816 stammt. Erst auf Seite 79 f stehen die Verse »Als ich den Plan, nach Berlin zu gehen, aufgeben sollte«, die nachweisbar dem März 1817 angehören; Adele selbst hat die Abschrift dieser Verse mit dem Zusatz versehen: »mein erstes Gedicht«. Sie war sich also über die Anfänge ihrer Lyrik keineswegs völlig klar. Und der Briefwechsel mit Ottilie von Goethe bietet schon 1811 Verse von ihr, also aus ihrem vierzehnten Lebensjahr; doch rührt diese Datierung von Ottilie selbst her, die der Herausgeber in gutem Glauben übernahm, ohne nachzuprüfen, ob nicht Form und Inhalt gerade diese ersten Verse in eine spätere Zeit verweisen; hier dürfte wohl ein Lesefehler (1811 statt 1817) vorliegen.
Die Begegnung mit Ferdinand Heinke und der Abschied des Heißgeliebten ließ dann wohl beide Freundinnen, Adele und Ottilie, in weltschmerzlichen Poesien wetteifern; eine davon, »An einen scheidenden Landwehrmann 1813« gehört zu den Gedichten, die Gerstenbergk 1817 ohne Adelens Vorwissen in seinen »Phalänen« mit abdruckte. Ein Jahr später begegnen wir in einem Brief an Ottilie vom 1. März 1814 (vorausgesetzt, daß auch diese Datierung stimmt) dem Stoßseufzer: »Ich wollte, ich könte dichten, denn die Empfindung zersprengt meine Brust«, und allerlei sentimentale Verse und lyrische Tagebuchergüsse in Prosa aus demselben Jahr versuchen, dieser drängenden Empfindung stammelnde Worte zu verleihen. In ihrem allerdings erst im Mai 1816 beginnenden Tagebuch erwähnt sie zum erstenmal ein »Gedicht an Ottilien« unterm 23. August dieses Jahres: »'s ist ein herrliches Machwerk in Knittelversen«; sie war an diesem Tage als Reisebegleiterin ihrer Mutter in Heidelberg, und noch am 3. Oktober erkundigt sie sich von Mannheim aus, warum ihr Ottilie garnichts über ihre »schönen Knittelreime« geschrieben habe? »Jetzt machte ich freilich keine mehr – ach Ottilie!« fügt sie hinzu – humoristische Knittelreime nicht, wohl aber empfindsame Verse, denn der Wunsch, dichten zu können, war heiß in ihr aufgestiegen beim Anblick der Rheinschönheiten, als sie im September von Bingen abwärts bis Koblenz fuhr. Demselben Brief vom 3. Oktober fügt sie als Probe »kleiner Aufsätze« ein Gedichtchen in Prosa bei, das ihr die Lektüre von Jean Pauls »Flegeljahren« eingegeben hatte, und unmittelbar vor der Rückkehr nach Weimar heißt es in einem letzten Reisebrief vom 19. Oktober: »Manches Gedichtchen und manches Geschichtchen fröhlich und herzlich, kältlich und wärmlich bring ich Dir mit« – worunter jedoch auch Lesefrüchte gemeint sein können, deren die Weimaraner Schwärmerinnen viele in den Scheuern ihrer Poesiealben sammelten. Die vier Gedichte aus Gerstenbergks »Phalänen« lagen in jenem Herbst alle schon vor, denn diese Sammlung erschien im Dezember 1816, und eines der ersten Exemplare überreichte der indiskrete Herausgeber seiner ungenannten Mitarbeiterin mit der Zumutung, eine »Anzeige« davon zu verfassen. Der Vorfall erregte eine jener exaltierten Szenen, an denen die Schopenhauersche Familiengeschichte infolge des Temperamentes der Mutter so reich ist.
Immerhin scheint die »Unzartheit« Gerstenbergks Adelens Dichtermut nicht wenig gehoben zu haben: sie war doch nun tatsächlich zum erstenmal »gedruckt«, und die darin liegende Anerkennung wirkte wie ein warmer Mairegen auf die schlummernden Blüten. Sie galt jetzt als Dichterin, und die enthusiastischen Freundinnen erwarteten nichts anderes von ihr, als daß sie jede bei füglicher Gelegenheit mit Versen regulierte. Die witzige Ottilie, die sich mit großer Gewandtheit in Knittelversen erging, wagte es sogar schon 1817, sich über Adelens poetische Fruchtbarkeit lustig zu machen und sie, wenn auch nur im Scherz, auf eine nützlichere Tätigkeit in Haus und Küche zu verweisen:
Da ist auch Adele, die quält uns spät und früh,
Gewaltig viel mit ihrer Poesie. –
Und, lieber Gott, man kennt ja Mädchengedichte,
Das ist eine verflucht nüchterne Geschichte!
Dieser Spott hatte weder den Zweck, sein Opfer von dieser Leidenschaft abzuschrecken, noch auch eine derartige Wirkung. Von 1817 ab setzt vielmehr Adelens poetisches Schaffen mit Macht ein. Mehr als zwei Drittel ihrer vorliegenden Gedichte sind dem nächsten Jahrzehnt zuzuweisen. Von da ab rieselt die Quelle spärlicher, aber klarer und reiner, und ihr Klang gewinnt an Melodie. Von so manchen klapprigen Versen der Jugendzeit bis zu dem wehmütigen Ausklang der vierziger Jahre ist eine unverkennbare Entwicklung, dem Inhalt wie der Form nach.
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Die vorliegende Sammlung versucht, die Gedichte der Adele Schopenhauer in zeitgemäßer Reihenfolge zu geben, sind sie doch durchweg nichts anderes als Freuden- und mehr noch Schmerzenslaute aus einem stark bewegten, oft verzerrten Frauenleben, dem meine Einleitung gerecht zu werden versuchte. Gegen 50 der Gedichte sind mit Zuverlässigkeit zu datieren; teils hat Adele die Entstehungszeit selbst angegeben, was mich natürlich einer Nachprüfung nicht enthob; teils boten ihre Tagebücher – die beiden gedruckten und die mir im Manuskript vorliegenden zwei weiteren Bände –, ihr schon veröffentlichter Briefwechsel mit Ottilie von Goethe und eine Fülle handschriftlichen Materials, aus dem auch die Einleitung erwuchs, genügenden Anhalt zur zeitlichen Bestimmung. Für manche der übrigen Gedichte gaben dieselben gedruckten und handschriftlichen Quellen biographische oder stoffliche Gesichtspunkte, die wenigstens eine ungefähre Datierung ermöglichten. Nur ein kleiner Rest mußte nach Gutdünken untergebracht werden, wobei dann die Rücksicht auf die mehr oder weniger durchgebildete Form die Entscheidung beeinflußte. Über all diese Einzelheiten geben die folgenden Anmerkungen genaueren Aufschluß; ebenso über die textkritische Behandlung, die nicht auf philologische Akribie ausgehen konnte. Die Orthographie, die sich Adele im Lauf der Jahre angeeignet hatte, ist völlig willkürlich, mehr noch ihre Interpunktion; hier galt es in erster Linie, durch eine gewisse Normalisierung den oft dunklen Sinn der Verse, den die Abschreiberin hier und da völlig in Unsinn verkehrt hatte, aufzuhellen, ohne doch die Patina der ältern Schreibung zu beseitigen. Die textkritischen Glossen Sibyllens zu H 1 sind dabei mit verwertet; nur in ganz vereinzelten Fällen war es zweifelhaft, welcher Version der Vorzug zu geben sei; durchweg ergab sich die richtige oder doch bessere aus dem Reim, dem Sinn oder dem Klang der Verse. – Die Anmerkungen verzeichnen auch zu jedem Gedicht die entsprechenden Seiten der beiden Manuskriptbücher H 1 oder H 2; ebenso die Signatur, die Sibylle den einzelnen Gedichten in H 1 und H 2 durch beigefügte Buchstaben oder Nummern gegeben hat.